4. Oktober 2021

„Road 96“: Make Petria great again

Erzählerisch vielschichtiges Adventure mit dystopischem Anstrich

Lesezeit: 5 min.

Es scheint so leicht, bereits als halbwegs versierter Gamer Road 96 in Sekundenbruchteilen einzuordnen. Grafisch wohl eindeutig ein Indie, inszenatorisch ein Adventure mit Storyfokus und in Sachen Gameplay die für das Genre seit Jahren mehr oder minder stilbildende Telltale-Formel aus wenig Aktion, viel Dialog und (vermeintlich) kritischen Entscheidungen, die den Fortgang der Handlung prägen. Will man Road 96 der französischen Entwickler von DigixArt, welches im Übrigen bereits Mitte August zum Preis von unter 20 Euro für PC und Switch digital veröffentlicht wurde, aber so einfach abheften, macht man es sich in diesem Fall zu leicht. Denn tatsächlich überrascht der Titel trotz einiger eben beschriebener Inhaltsfaktoren mit einem für Adventures eher unerwarteten Feature, nämlich einer prozedural generierten Geschichte, die dennoch hervorragend funktioniert und so manchen durchgeskripteten Genrekollegen gänzlich alt aussehen lässt.

Getragen wird das Ganze vom Setting eines Landes mit Namen Petria, einer Art Variante der USA, die von einem radikal machttrunkenen Präsidenten regiert wird, der Parallelen zu einem gewissen Ex-Präsidenten der jüngeren US-Historie in sich vereint. Petria ist ein Land, das nur noch bedingt etwas mit einer Demokratie zu tun hat und hauptsächlich von den Interessen großer Konzerne und der überlauten Propaganda rechtsgerichteter Medien beherrscht wird. Als kleinen Kniff verlegten die Macher die dystopisch angehauchte Handlung aber nicht in die Gegenwart oder Zukunft, sondern ins Jahr 1996. Das hat vor allem atmosphärisch starke Auswirkungen auf Road 96, was sich insbesondere beim Soundtrack oder zeittypischen Merkmalen wie dem Fehlen von Smartphones und anderem modernen Schnickschnack widerspiegelt.

In dieser politisch heiklen Lage formieren sich allerdings immer mehr oppositionelle, vor allem von der jüngeren Generation getragene Kräfte, die sich gegen den Präsidenten und für eine besonders idealistische Anführerin der gegnerischen Partei engagieren. Im Vorfeld der anstehenden Wahlen verschwinden allerdings immer mehr engagierte Jugendliche und es scheint, als würden sie außerhalb des Blickfeldes der Öffentlichkeit in Arbeitslager gesteckt. Da die Lage also ungemütlicher wird, versuchen immer mehr Teenager, über die Grenzen (und damit über die titelgebende Road 96) aus Petria zu fliehen. Genau hier kommen wir bzw. buchstäblich unsere Charaktere ins Spiel, denn sie wagen trotz strenger Polizeikontrolle und anderweitiger Überwachung genau diesen Schritt und begeben sich so auf ein gefährliches, aber gleichsam berührendes Abenteuer. Letzteres liegt speziell an den Begegnungen mit Bewohnern Petrias, die sich jedoch – Stichwort prozedural generiertes Storytelling – je nach Durchgang völlig anders gestalten.

Um diesen gelungenen Ansatz zu konkretisieren: Wir starten mit einem Charakter und erleben eine gut einstündige Story, die uns entweder über die Grenze führt oder in irgendeiner Form scheitern lässt. Danach geht es mit einer anderen Figur weiter, die zwar dasselbe Ziel verfolgt, aber andere Settings und Situationen erlebt. Haben wir diese Storyline abgeschlossen, geht es erneut mit einem weiteren Teenager los usw. So entsteht ein Eindruck einer Gesellschaft, wie er für ein Adventure abwechslungs- wie spannungsreicher kaum sein könnte. Nach zehn Durchläufen mit jeweils neuem Charakter (sowie fünf bis sechs Kapitel pro Durchlauf), ist der Wahltag erreicht und das politische Schicksal auf die ein oder andere Art besiegelt. Und ohne zu viel zu verraten: Selbst bei den Endings zeigt sich Road 96 offener als man es zunächst erwarten könnte.

Besonders faszinierend fällt dabei der Umstand aus, dass wir etwa mit einem unserer Charaktere einer Figur an einem anderen Ort und in einer völlig anderen Situation wiederbegegnen, die wir bereits zuvor mit einer Figur getroffen haben. So wachsen Charaktere ans Herz, während andere sofort Misstrauen hervorrufen, da man in Petria nicht sicher sein kann, wer auf der Seite des Präsidenten oder der Opposition steht. Im Idealfall haben unsere Entscheidungen aus vorherigen Durchläufen tatsächlich etwas bei einem Charakter bewirkt oder gar dessen Situation verändert. Da sich unsere Entscheidungen in Road 96 spürbar auswirken, zieht das Adventure auch beim Neustart viel Reiz aus seinem Konzept.

Passend zum bisher Gesagten, zeigt sich auch das Gameplay variabler als bei anderen vergleichbaren Adventures. Denn auf unseren Reisen müssen wir nicht nur sehr viel innerhalb der Dialoge entscheiden, sondern ebenso Mitfahrgelegenheiten suchen, kleinere Aufgaben erledigen und sogar in Survival-Manier an elementare Bedürfnisse wie Hunger und Schlaf denken (man kann in Road 96 aus Mangel tatsächlich sterben) – ein richtiger Road-Trip also, der mit vielen Urbildern Amerikas (wie Highways oder Diners) stimmungsvoll garniert wird. Selbst an Geld für Schleuser muss gedacht werden, was als nur eine der vielen kritischen Referenzen auf unsere Gegenwart stimmig in den Ablauf implementiert wurde.

So treffen wir etwa auf einen bizarren Taxifahrer, der uns mehrfach zum Verhängnis werden kann, ein Ehepaar, das sich komplett uneins darüber ist, ob die Fluchtversuche der Jugendlichen in Ordnung sind, einem herzlich raubeinigen Trucker, der einige Entscheidungen seines Lebens bereut, einem Jungen, mit dem wir in einem Durchlauf am Arcade-Automaten zocken, um ihn an anderer Durchlaufstelle eventuell wieder mit seiner Mutter zu vereinen usw. Bei all dem, haben wir mehr spielerische Freiheit als bei Telltale-Titeln oder auch Life is Strange und es ist herrlich zu sehen, wie unterschiedlich sich die Geschichten der Figuren in den jeweiligen Durchläufen fortschreiben.

Während wir beispielsweise in einem Durchlauf noch mit einer Figur eine romantische Nacht verbringen, können wir dieselbe Figur später mit einem anderen Charakter aus dem Polizeigewahrsam befreien. Und das sind nur einige Beispiele für ein buntes Sammelsurium an Begegnungen, die Road 96 zu einem anrührenden, oft erheiternden, aber eben gesellschaftspolitisch wirklich interessanten, weil nicht platten Titel erheben. Für Abwechslung sorgen dazu die oft als Minispiel getarnten Aufgaben, zu denen etwa das Fischen eines Schlüssels aus dem Gulli ebenso gehört wie eine Runde Guitar Hero oder das Leiten eines Einbruchs mithilfe von Überwachungskameras.

Will man dann doch noch Haare in der Suppe finden, muss man unbedingt auf die leider selbst für ein Indie-Adventure im Jahre 2021 eher maue Grafik zu sprechen kommen (wir spielten auf PC) und die Tatsache, dass Road 96 gerade in den ersten Durchläufen stellenweise recht viel Stress in Sachen mögliches Scheitern aufbaut. Da kann schon eine unbedachte Antwort zur Verhaftung durch die Polizei führen und gerade der Survival-Aspekt ist ebenfalls nicht immer ganz nachvollziehbar. Als letzter Pluspunkt sollte jedoch (neben den guten englischen Sprechern) der ziemlich ausgewogene Soundtrack aus zeittypischem Rock, Pop, Folk oder Techno erwähnt werden, den man gerade dank zahlreicher Autoradios genießen kann. Auch das trägt zum Gesamtflair dieses erzählerisch famosen Adventures bei.

Fazit

Grandios erzähltes, spielerisch vielfältiges und atmosphärisch packendes Adventure, dem nur seine höchstens durchschnittliche Grafik und einige Härten im Gameplay leicht im Weg stehen.

Road 96 • DigixArt • Adventure • Switch/PC

Abb. © DigixArt

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