Traumhaftes Meisterstück
Dontnods „Life Is Strange“ im Test
Wenn ich auf meine Geschichte als Gamer zurückblicke, habe ich schon so einiges erlebt. Von unserem ersten Amiga 500 über Segas Diversitäten und den PC, bis über alle Nintendo-Konsolen, Sonys vier Playstation-Iterationen und sogar die originale XBox konnte ich fast alle großen Meilensteine der Videospielgeschichte mein Eigen nennen (was ich bis heute in fast allen Fällen immer noch tue). Und dann kommt ein kleiner, unscheinbarer Titel, der mich so unerwartet trifft und in meinen effektiv 25 Jahren Gaming-Geschichte etwas schafft, das noch kein Spiel zuvor je in dieser Intensität zu verbringen vermochte: Es brachte mich zum Weinen. Und damit meine ich nicht die kümmerliche Träne, die man im Augenwinkel wegdrücken muss, damit sie überhaupt erst die Wange herunter läuft. Ich rede vom unaufhörlichen Schluchzen, von nassen Wangen, von Häufchen aus Taschentüchern und von abgeschlossenen Türen, damit mich bloß niemand zufällig in dieser absurden Situation erwischt.
Life Is Strange ist der zweite Titel des französischen Studios Dontnod (Remember Me) und wurde zunächst ohne großes Aufsehen als fünfteiliges Episodenspiel angekündigt und veröffentlicht, ganz im Stile der Spieleschmiede Telltale (The Walking Dead, The Wolf Among Us). Der Spieler übernimmt die Rolle der zurückhaltenden „Heldin“ Maxine „Max“ Caulfield, die erst vor wenigen Wochen wieder in den verschlafenen Ort Arcadia Bay zurückkam, den sie vor fünf Jahren verließ. An der hiesigen Kunstakademie möchte sie bloß den Campusalltag überstehen und möglichst viel über Photographie bei ihrer hippen Lehrerikone Mark Jefferson lernen. Zeitgleich muss sie mit den üblichen Schülertypen fertig werden: der Kurszicke Victoria, dem überpriviligierten Nathan, ihrem besten Freund/Wissenschaftsnerd Warren oder auch dem Campussicherheitsmann David.
Zeitgleich drückt sich Max vor dem unausweichlichen Treffen mit ihrer ehemals besten Freundin Chloe, die sie zuletzt vor fünf Jahren sah und seitdem jeglichen Kontakt verlor. Wenn sich dann noch die zahlreichen Campus- und Stadtbewohner von Arcadia Bay in das Beziehungs-Mystery-Geflecht mischen ist das Chaos perfekt. Zudem wird seit einiger Zeit ein junges Mädchen namens Rachel Amber vermisst, ohne jegliche Spur. Von dem ganzen Stress nimmt sich Max eine Auszeit in der Damentoilette, als unerwartet Mitschüler Nathan mit einem unbekannten, blauhaarigen Punkmädchen die Räumlichkeiten betritt und kurzer Hand das Mädchen erschießt. Max lernt unter Druck, dass sie die Zeit zurückdrehen kann und vereitelt den Anschlag. Schnell stellt sich heraus, dass jenes blauhaarige Mädchen ihre beste Freundin Chloe ist, die nur herausfinden will, was mit dem verschwundenen Mädchen Rachel Amber passiert ist.
Man wird als Spieler immer wieder vor Entscheidungen gestellt, welche noch große Auswirkungen auf spätere Episoden des Spiels haben. Drehe ich die Zeit zurück und schlage mich bei einem Streit auf die Seite einer gepiesackten Mitschülerin oder schieße ich lieber ein Foto der Situation, das zeigt wie Sicherheitsmann David das Mädchen bedrängt und halte mich zurück? Life Is Strange konfrontiert mich immer wieder mit solchen Momenten, welche das spätere Beziehungsgeflecht von Arcadia Bay nachhaltig verändern können. Denn es kann sein, dass sich mir eine Figur in späteren Episoden verweigert, wenn ich mich nicht geschickt verhalten habe oder gar bestimmte Informationen durch Unterhaltungen oder bei der Suche nach Hinweisen übersehen habe.
Die großen Stärken von Life Is Strange sind die unglaublich lebhaften Figuren. Viele erscheinen zunächst wie typische Abziehbildchen, welche aber über kurz oder lang alle wahre Tiefe offenbaren. Die Campusstimmung, gepaart mit der Twin Peaks-artigen Stadt Arcadia Bay und den Einwohnern, welche alle etwas zu verbergen scheinen, übt sofort einen einzigartigen Charme aus. Und nach kurzer Zeit fühlt man sich wie in einer Folge besagter Serie oder gar Rod Serlings Twilight Zone – übrigens beides Serien, die Entwickler Dontnod hier als Vorlagen nahmen. Perfektioniert wird das Ganze durch den fantastischen Indie-Soundtrack, der immer wieder seinen Weg ins Spiel findet und so die bereits dichte Atmosphäre noch verstärkt.
Der große Star des Spiels ist jedoch die Beziehung zwischen den entfremdeten Freundinnen Max und Chloe. Bereits nach kurzer Zeit habe ich das Gefühl, die beiden Mädchen seit Jahren zu kennen und erahnen zu können, was sich alles zwischen ihnen abgespielt hat. Ich fühle die Anspannung, wenn sie sich erneut näher kennen lernen, lache mit ihnen und fühle mich wie ein stiller dritter bester Freund der Runde. Wenn Kritiker die lebendigen Charaktere in Telltales Spielen loben, dann ist The Walking Dead ein Gesellenstück und Life Is Strange das Meisterstück-Pendant. Denn nachdem die äußerst spannende, wendungsreiche Geschichte um Max, Chloe und Rachel nach 15 Stunden zu einem (von zwei alternativen) Ende kam, fühlte ich mich, als ob ich alten Freunden Lebewohl sage und ich vermisse sie. Ich weiß, dass mich dieses Spiel im Innern wohl nie verlassen wird. Und spätestens, wenn ich wieder den Soundtrack einlege, werde ich leicht sentimental und denke an die wunderschöne Zeit zurück.
Life Is Strange ist seit dem 22. Januar 2016 als Disc-Version für PC, XBox One und Playstation 4 erhätlich.
Life Is Strange • Dontnod Entertainment • Adevnture • PC, Xbox One, Playstation 4
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