26. November 2020 2 Likes

„Watch Dogs Legion“: Jeder kann Widerstand

Ubisofts dritter Hackerausflug überzeugt trotz (eigentlich) vorhersehbarer Schwächen

Lesezeit: 6 min.

Es ist schon ein Kreuz mit den eigenen Erwartungen. Da freut man sich nach den ersten Ankündigungen zum neuen Watch Dogs-Abenteuer über grandiose Neuerungen wie das Play-as-Anyone-Feature (wir berichteten) oder ein dystopisch angehauchtes London als Setting, doch gleichzeitig weiß man eigentlich schon, dass nicht jedes große Versprechen seitens der Entwickler einzuhalten sein wird und dass es besser wäre, die Dinge realistisch einzuschätzen. Denn so schön die Idee auch klingt, jeden – ja, jeden! – Passanten in den Straßen der englischen Metropole mittels kleinerem Zwischenauftrag als Mitglied einer Untergrundgang zu rekrutieren, so klar müssen einem (erfahrenen) Zocker die damit verbundenen Abstriche bei Story oder Charakterzeichnung sein.

Denn dass sich schier unendliche Charaktere völlig unterschiedlich spielen, ganz eigene Fähigkeiten mitbringen und dazu über eigene Storylines verfügen, dürfte selbst auf einer zukünftigen PS 8 oder Xbox Series Unlimited (Namen frei erfunden) kaum machbar sein – geschweige denn auf PS4, Xbox One, PC, PS5 und Xbox Series X, die seit Ende Oktober mit Watch Dogs Legion versorgt wurden. Nur, muss das auch schlimm sein? Keineswegs, denn losgelöst von zu großen Erwartungen, serviert uns Ubisoft – speziell im direkten Vergleich mit seinen anderen Open World-Franchises wie Assassin´s Creed und Far Cry – ein zumindest teilweise frisches Spielerlebnis, angesiedelt in einer nahen Zukunft.

Der Prolog gibt dazu bereits in sehr schmissiger James Bond-Manier die Richtung vor. Als Mitglied der bereits aus den Vorgängern bekannten Hackergang Dedsec, die konsequent aus dem Untergrund heraus operiert und gegen jede Form von staatlicher Überwachung kämpft, werden wir während eines Einsatzes als Sündenbock benutzt, um Dedsec einen verheerenden Bombenanschlag in die Schuhe zu schieben und London so in eine Festung voller Überwachungsdrohnen und Militärs zu verwandeln. Doch Dedsec wäre nicht der Schrecken der Obrigkeit, würde sich die Gruppe nicht trotz dieser widrigen Umstände neu zu formieren und  Mitglieder anwerben, um den eigentlichen Drahtziehern des Anschlags (und weiteren Schurken) das Handwerk zu legen.

Spannenderweise beschränken sich die Macher dabei nicht wie oft üblich auf einen oder zwei Oberschurken, an deren digitale wie analoge Versen wir uns innerhalb der rund 20-30 Stunden langen Storykampagne heften, sondern schickt uns auf die Jagd nach gleich vier markanten Bösewichtern mit jeweils eigenen Missionssträngen und entsprechenden Subplots. So betreibt eine als Bloody Mary gefürchtete Mafiapatin widerliche Geschäfte mit Organhandel, während etwa die Organisation Albion als allmächtiger Sicherheitsservice in der ganzen Stadt Leute malträtiert und seinen Einfluss missbraucht.

Natürlich gehört es dabei zum guten Ton, jeder Storyline einige für das Thema Hacking typische Motive wie die Frage nach Sinn und Unsinn digitaler Überwachung oder dem Streben nach ewigem Leben mittels Gehirnupload beizumischen. Allerdings vermeidet es Legion dabei, allzu scharfe Positionen einzunehmen und so verbleiben einige Anleihen eher im Bereich Grundrauschen, über das man nachdenken könnte, aber eben nicht muss. Selbst einige vermeintlich wesentliche Entscheidungen wie die Frage, ob man einer sich gerade zur Unsterblichkeit in der Cloud aufschwingenden Schurkin genau diesen Sprung verwehren sollte und sie somit aktiv tötet, verkommt zur Randnotiz ohne echte Story- oder Gameplaykonsequenzen. Das ist auch insofern schade, als die Erzählung und das Missionsdesign eigentlich gut unterhalten, ohne die Pfade einer gut geschmierten Mainstreamstory um den Kampf David-gegen-Goliath zu verlassen. Feste Konstante unserer Reisen durch London, das angenehmerweise das einzige und glücklicherweise überschaubare Setting von Legion bleibt, ist die KI Bagley. Sie gibt uns in meist witziger, weil auch leicht sarkastischer Art alles Wissenswerte an die Hand, um unsere Missionen zu meistern. Dazu zählen etwa Infos zu Standorten oder Anweisungen, was zu tun ist. Der Rest erschließt sich meist von selbst.

Wie spielt sich Legion aber nun genau? Ganz anders als in den beiden Vorgängern, in denen man ja mit einem festen Protagonisten unterwegs war, müssen wir uns nach dem Prolog unsere Avatare buchstäblich zusammensuchen. Schon ein Tastendruck aka Blick aufs Smartphone genügt, um bei jedem Passanten einige rudimentäre Stärken und Extrafähigkeiten angezeigt zu bekommen, die wir nach Ablauf einer Recrutingmission in unser wachsendes Team (inklusive stylischem Unterschlupf) integrieren können. Bei den Aufgaben handelt es sich meist um kleinere Aufträge wie die Beseitigung oder die Beschaffung belastender Daten und so können wir danach ein neues Mitglied in unserem Zirkel begrüßen. Zwischen unseren Figuren können wir jederzeit wechseln und sie dank eines übersichtlichen Fähigkeitenangebots weiter ausstatten, das wir natürlich mithilfe eroberter oder in der Spielwelt gefundener Technikpoints weiter ausbauen können. Ob verschiedene Drohnen, Schusswaffen, Spiderbots oder temporäre Tarnung, unser Inventar bietet genug Optionen, ohne selbst Anfänger zu überfordern.

Das gilt auch für den generellen Gameplayablauf, der sich gewohnt geschmeidig präsentiert. Kamerahacks zur besseren Übersicht oder Ablenkungsmanöver feindlicher Soldaten lassen sich trotz einiger Hektik gerade bei actionlastigen Sequenzen ebenso leicht via Knopfdruck auslösen wie der Klau von Fahrzeugen auf Londons Straßen oder der Sprung durch London mittels Schnellreisesystem. Gut gelungen ist dabei vor allem die Vielfalt an Herangehensweisen innerhalb der Missionen. So können wir zwar gerade auf dem leichteren Schwierigkeitsgrad (und ausgeschalteter Permadeath-Option unserer Avatare) eigentlich jede Anlage mit offenem Waffenvisier erstürmen und uns Fluchtwege freiballern, allerdings geht so viel Flair verloren.

Viel charmanter ist da, sich über Kameras Einblicke in verschiedene Bereiche zu verschaffen, Türcodedaten zu hacken, Feinde abzulenken und Drohnen oder Spiderbots möglichst unbemerkt von Feinden die Infiltrationsarbeit machen zu lassen. Hier zeigt Legion sein ganzes Potenzial, zumal es richtig Spaß macht, sich genau zu überlegen, mit welcher Figur man sich Vorteile bei der Planung und Umsetzung verschaffen könnte. Kleiner Nachteil: Bis auf wenige Ausnahmen setzt uns das Gamedesign keine Grenzen und unterläuft daher das Konzept ein bisschen. Denn eigentlich ist jede Mission mit jeder Person zu schaffen und es ist schon verwunderlich, wie stark jede Figur gerade im Nahkampf selbst ausgebildete Soldaten zu Brei schlagen kann oder wie unaufmerksam viele Überwachungseinheiten, Stichwort KI, im ach so besetzten London trotz rabiater Vorgehensweisen unsererseits agieren. Während beispielsweise selbst Minirempler bei Polizisten zu Großeinsätzen führen, sieht es bei überfahrenen Zivilisten oft ganz anders aus.

Ein besonderes Lob hat sich dagegen London als virtueller Spielplatz verdient. Die Entwickler sorgten mit viel Liebe zum Detail für ein perfektes Sightseeing-Erlebnis innerhalb der einzelnen Viertel und auch das Treiben der Leute macht nicht nur technisch viel her. Leider mangelt es dem Setting jedoch wie so vielen Open World-Kulissen an genug aufregenden Zusatzbeschäftigungen. Bis auf kleinere Einlagen wie Darts, Botengängen oder Fußballtricks am Bolzplatz sowie etwa dem Kauf von unzähligen Outfits für unsere Figuren, gibt es kaum bis nichts für uns zu tun abseits der Haupt- und natürlich der zig Nebenmissionen, die mit der Zeit jedoch naturgemäß sehr generisch ausfallen. Wer sich allerdings die Zeit nimmt, um sich bei Tag und Nacht an verschiedenen Locations umzuschauen, kommt in diesem stimmungsvoll inszenierten London sogar mehr auf seine Kosten als in so manch anderem Ubisoft-Titel.

Insgesamt bleibt zu hoffen, dass der für Dezember angekündigte Mehrspielermodus und weitere Story-DLCs Legion noch zu weiterem Glanz verhelfen, den das Hauptspiel aber definitiv schon verströmt. Wer weniger auf klassisches Charakter-Gameplay gibt, sich von den etwas hohlen Platzhalterphrasen der letztlich eben doch eher austauschbaren Figuren nicht abschrecken lässt und sich von manchmal steifen Animationen und einer zu einfachen Spielbalance nicht stören lässt, erhält einen spannenden Gameplay-Mix aus Schleichen, Schießen, Manipulieren und kleineren Rätseln, der sich speziell in Sachen Grundstimmung absolut sehen lassen kann.

Kleine Anmerkung zum Schluss: Da wir auf PS4 spielten, fehlen an dieser Stelle leider Aussagen zum Vergleich zwischen neuer und jetzt eben alter Konsolengeneration.

Fazit

Wechsel ist Trumpf! Gameplay, Setting und Atmosphäre überzeugen, während Storytiefe und Charakterzeichnung etwas dem Konzept zum Opfer fallen. Dennoch eine klare Empfehlung für Open World- und Dystopiefans.

Watch Dogs Legion • Ubisoft • Action-Adventure/Open World • PS4/Xbox One/PC/PS5/Xbox Series X

Abb. © Ubisoft

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