Jeffrey Wells
„Von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden“
Was wäre eigentlich, wenn jeder von uns ganz genau die Ursache seines Todes erfahren könnte – im Voraus, versteht sich? Nehmen wir mal an, man steckt seine Hand in einen Automaten, der piekst uns in den Finger, nimmt Blut ab, und – surrr! – spuckt einen Papierstreifen mit der exakten Todesursache aus, an der wir einmal sterben werden. Wie würden wir damit leben?
Genau das ist die Prämisse, um die sich die 34 Erzählungen aus dem Sammelband „Machine of Death“ (im Shop) drehen, die Ryan North, Matthew Bennardo und David Malki ! zusammengetragen haben und die sich alle auf einen Dinosaur Comic von Ryan North beziehen. Von diesen Geschichten ist „Von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden“ eine meiner liebsten – denn sie dreht die typischerweise erwartete Reaktion auf eine Schicksalsprophezeiung komplett auf den Kopf. Gerade der klassische Mythos in Form der griechischen Tragödie schöpft ja aus dieser Vorstellung, dass ein Orakel das Schicksal offenbart, sich die Adressaten mit allen Mitteln gegen die angekündigten Ereignisse wehren, nur um dann doch unversehens von ihnen eingeholt und tragisch überwältigt zu werden. Armer alter Ödipus.
Jeffrey Wells macht es anders. Sein Held heißt Simon Pfennig, und sein Held hat ebenfalls sein Schicksal verkündet bekommen. Simon Pfennig, ein junger, alleinstehender Versicherungsverkäufer in einem Callcenter, wird sterben, genauer gesagt, er wird „von Löwen in Stücke gerissen und aufgefressen werden“. Aber anstatt vor Furcht zu zittern, sich von allen Zoos und von Afrika im allgemeinen fernzuhalten und zu beschließen, diesem Schicksal mit allen Mitteln auszuweichen, geht Mr. Pfennig den umgekehrten Weg: Für ihn bekommt der Tod, die Erfüllung dieses wahrhaft blutigen Schicksals, eine sinnstiftende, lebensverändernde Bedeutung: Von nun an widmet er sein ganzes Dasein der Vorbereitung auf jenen Augenblick, wenn sich die Mäuler des Löwenrudels um seine Gliedmaßen schließen werden.
Geht er damit allen anderen auf die Nerven? Ja. Ist es möglicherweise übertrieben, sich Löwenposter übers Bett zu hängen? Sicher. Stört es Simon Pfennig, dass die anderen seine neue, positive Lebensenergie, seine gesunde Lebensweise (gutes Essen für gutes Muskelfleisch – für Löwen nur das Beste!) und seine Zuversicht in Bezug auf sein eigenes Ableben als extrem nervtötend und makaber empfinden? Nicht im geringsten.
Und das steckt an. Fast wollte ich selbst in Delphi anrufen, ob auch für mich so ein aufregendes Schicksal bereitsteht. Ich habe es dann aber gelassen. Viel lieber lese ich auch noch die anderen delphischen Orakelgeschichten aus „Machine of Death“ – denn der Tod der anderen ist schließlich immer spanndender als der eigene. Oder?
von Sebastian Pirling
Machine of Death
Stellen Sie sich vor, Sie gehen zum Arzt, machen einen Bluttest und eine Maschine spuckt daraufhin einen kleinen Zettel mit der Art Ihres Todes aus. Keine Einzelheiten, kein Zeitpunkt – die einzige Information, die man erhält, ist: Tod durch Ertrinken oder Verhungern oder Alter.
Gleich dem Orakel von Delphi verhängt die Machine of Death ihr Urteil über die Menschen, und die Autoren dieser einzigartigen Storysammlung schildern auf ironische, humorvolle und berührende Weise, was passiert, wenn man versucht, seinem Schicksal aus dem Weg zu gehen …
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