25. Oktober 2021 1 Likes

Guten Morgen, Herr Dilemma!

Mein Wellensittich Julius, eine Zugfahrt und die Bundestagswahl

Lesezeit: 4 min.

„Guten Tag, hier ist das Hotel Hirzerblick in Schlanders, Frau Hofer am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Tag. Urburak hier. Der Verschlinger der Welten.“

„Pardon?“

„Ich sagte: Urburak. Der Verschlinger der Welten. Das bin ich.“

„Verstehe. Und wie kann ich Ihnen helfen, Herr Urburak?“

„Urburak. Ohne Herr. Einfach der Verschlinger der Welten.“

„Verstehe. Und wie kann ich Ihnen nun helfen?“

„Ich brauche ein Zimmer. Ich bin sehr groß. Ich ernähre mich von Sonnen.“

„Aha.“

„Meine Frau kommt nicht. Sie ist kleiner. Sie ernährt sich nur von Planeten.“

„Also Ihre Gattin kommt nicht?“

„Kommt nicht. Nur ich. Und die anderen.“

„Die anderen?“

„Die anderen Verschlinger der Welten. Wir sind alle sehr groß. Wir ernähren uns von Sonnen. Ist das ein Problem?“

„Für uns nicht. Wir haben ein Buffet. Tiroler Speck. Marmeladen und Konfitüre. Rühreier und gekochte. Aber ohne Sonnen.“

„Das macht nichts. Wir würden unterwegs speisen, ein paar Sonnen. Abends sitzen wir gerne beieinander. Wir sind alle sehr groß. Und breit.“

„Wir könnten ein paar Stühle nebeneinanderrücken.“

„Das wäre prima. Ich bin Urburak.“

„Ist notiert.“

„Der Verschlinger der Welten. Die Kinder kommen nicht mit.“

„Auch die Kinder nicht? Schade. Wir sind ein familienfreundliches Unternehmen.“

„Wir nicht. Wir sind die Verschlinger der Welten.“

„Und die Kinder?“

„Die werden auch Verschlinger von Welten. Aber die kommen nicht mit.“

Wir befanden uns auf dem Weg von Meran (Hbf) nach Mals. Der Zug fuhr bergan, den Vinschgau hinauf. Latsch und Schlanders lagen bereits hinter uns, Lars und Glurns noch vor uns. In Glurns gibt es das wunderbare Paul-Flora-Museum im Kirchtorturm – der wunderbare Paul Flora ist nämlich Südtiroler gewesen, in Glurns geboren, einem noch mittelalterlichen Städtchen, für dessen Sanierung der Zeichner viel Gutes getan hat.

Zwei Fahrgäste der Eisenbahn fanden zwar die Prozession der Örtchen und ihrer Bahnhöfe in ihrer fallerhäuschenhaften Putzigkeit mal o lala, mal so lala, insgesamt aber doch nicht herzschlagbeschleunigend aufregend. Also improvisierten sie dieses Gespräch, dem über kurz oder lang der ganze Waggon lauschte.

Ich überlegte, worüber sich zwei junge Menschen vor vielen Jahren unterhalten hätten. Über die Möglichkeit, den Sportreporter Rudi Dutschke zu treffen? Puddingattentäter Rainer Langhans in seiner Haifischkommune? Seinen Harem? Uschi Obermeier oder Uschi Glas? Curd Jürgens oder Udo Jürgens? Pierre Richard oder Pierre Brice? Jean-Luc Godard oder Jean-Luc Picard? Sportler? Schauspieler? Rockmusiker?

Astronauten?

Neulich war Bundestagswahl. Ein trauriger Tag. Am Morgen war uns Julius verstorben, ein federweißer Wellensittich mit einem schadhaften Fuß und dennoch fröhlichem Gemüt. Alt, sicher, aber zu alt? Auf dem Weg zur Wahlurne überlegte ich, ob ich aus Protest gegen die Endlichkeit des Daseins doch die MLPD wählen sollte, die, der Vergänglichkeit die gereckte Faust entgegentrotzend, vor Kurzem im schönen Gelsenkirchen ein Lenin-Denkmal errichtet hat (übrigens das erste in einem westlichen Land). Dem Denkmal gegenüber steht das Schloss Horst, erbaut vor Jahrhunderten zwischen zwei feuchten Armen der Emscher, dort, wo unsere Ahnen der Jagd auf Emscherbrücher Dickköppe nachgingen, einer wild lebenden Hauspferderasse, robust und von Napoleon als Schlachtross ebenso geschätzt wie später als Grubenpferd unter Tage. Das Stadtwappen von Wanne-Eickel hat diese edle Rasse verewigt. Das Schloss Horst aber steht seit 1983 unter Denkmalschutz und präsentiert gerade eine Ausstellung zum Thema „Der Kommunismus in seinem Zeitalter“. Nimm das, Lenin!

Kürzlich musste ich, ich bin ja auch noch Lehrer, eine Unterrichtsstunde in einer Klasse des 5. Jahrgangs vertreten. Die hier lernenden zehn- bis elfjährigen Menschen sind neu in der Schule, der Lehrköper ist ihnen in weiten Teilen noch unbekannt. Deswegen ist es guter Brauch, als Vertretungslehrer seinen Namen an die Tafel zu schreiben, laut und deutlich. Das tat ich auch und malte mit Kreide „Kasper“ an. Dann Unterricht in Sachen praktische Philosophie, Stundenthema: das moralische Dilemma. Im Unterricht ist es guter Brauch, neue, wichtige und wegweisende Fachbegriffe an der Tafel zu notieren, also notierte ich: „Dilemma“. Meinen Namen wischte ich weg. Es klingelte. Die Klasse bewegte sich Richtung Hof, eine Schülerin aus einem anderen Unterricht kam herein, um ihre Schultasche abzustellen. Sie nickte mir zu, las, was an der Tafel stand, zog ihre Schlüsse und sagte wohl erzogen: „Guten Morgen, Herr Dilemma!“

„Guten Morgen“, sagte ich.

Diese Kolumne lässt mich, ich gebe es zu, etwas ratlos zurück: Was wird die neue Regierung bringen? Der eiserne Lenin und das Schloss Horst starren sich an, Stirn an Stirn. Werden wir noch erfahren, wie es mit dem monströsen Urburak weitergeht, dem Verschlinger der Welten?

Unseren weißen Wellensittich Julius jedenfalls hat es, wie ich hoffe, zu seinen Ahnen versammelt, und in Ewigkeit zwitschernd fliegt er im unendlichen Schwarm seiner Artgenossen durch jene Welt, die, wäre sie nur uns Menschen vorbehalten, trist wäre, traurig und tonlos.

 

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

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