Wo bleibt das Positive?
Ist die Science-Fiction noch utopiefähig? – Ein Essay von Peter Seyferth
Science-Fiction beschreibt Welten, die in technischer und sozialer (seltener auch in politischer und wirtschaftlicher) Hinsicht anders sind als die Welt, in der wir leben. Aber Science-Fiction ist weder Voraussage noch Vorschrift: Sie erzählt uns nichts über die tatsächliche Zukunft, sondern über die tatsächliche Gegenwart – und gelegentlich über mögliche Zukünfte. Ein Blick auf die Alternativwelten der letzten hundert Jahre zeigt uns überwiegend unangenehme Welten: Ökozid, atomarer Holocaust, mörderische Roboter, totalitäre Regime – und das sind die Fantasien der progressiven AutorInnen. Noch häufiger findet man simple Extrapolationen von kapitalistischen, militärischen und sogar feudalistischen Ordnungen in eine spektakuläre Raumschiffzukunft hinein. Für Hoffnung auf umfassende und gründliche Verbesserungen bleibt offensichtlich wenig Platz. Gerade im neuen Millennium erschienen rekordverdächtig viele Dystopien.1
Warum ist das so? Und überhaupt: Ist das so? Ich versuche herauszufinden, warum wir uns so schwertun, das Positive in den Welten der Science-Fiction zu sehen – und dann zeige ich ein paar aktuelle Beispiele utopischer Hoffnungsschimmer.2
Politik
Zugegeben: Es gibt viel Schlechtes auf der Welt. Gesellschaften zerfallen, Umwelt und Klima verschlechtern sich weltweit, in der Wirtschaft wird die Krise zum Normalzustand, und die Politik ist nur noch ein zynisches Machtkalkül, das sich nicht um die Belange des Volkes kümmert. Dass das teilweise schon immer so war – dass etwa die Jugend von den Alten seit der Antike zuverlässig in jeder Generation als die schlimmste aller Zeiten empfunden wird –, macht das Schlechte der Welt nicht besser. Im Gegenteil: Anscheinend gibt es gar keine andere als die kalte Machtpolitik; gut können Gesellschaften anscheinend nur in dem Ausmaß sein, in dem sie noch nicht degeneriert sind; und zumindest für den Kapitalismus sind Panik und Zerstörung Potenziale für maximalen Profit, weshalb das Ende der Welt vielen wahrscheinlicher vorkommt als das Ende des Kapitalismus. Es gibt objektive Gründe für eine pessimistische Weltsicht. Und das spiegelt sich selbstverständlich in der komplexen Kommentierung der Zeitläufte wider, die wir als Science-Fiction kennen.
In der Politik ist die trübe Aussicht besonders auffällig. Wie jedes zweckrationale Handeln ist auch das politische Handeln an Zielen orientiert. Ziele können aber sowohl positiv als auch negativ formuliert werden. Positive politische Ziele sind Visionen: Man stellt sich eine bessere Welt vor, in der die Menschen aus sozialstrukturellen Gründen glücklicher oder gesünder oder reicher oder klüger sind. Und dann versucht man, die dafür notwendigen sozialen Strukturen herzustellen. Dazu sind Vorstellungskraft und Durchsetzungswille vonnöten. Negative Ziele hingegen benötigen kaum Vorstellungskraft und wenig Durchsetzungswillen: Sie sind stets Vermeidungen, Verhinderungen und Problemlösungen. Hier ist die Vorstellung von dem, was politisch erreicht werden soll, in einer idealisierten Vergangenheit verankert. Ziel ist die Wiederherstellung eines Zustandes, der etwas weniger schlimm ist als der Jetztzustand. Die Aufmerksamkeit gilt hier den Abweichungen vom Soll-Wert, gegen die man ansteuern muss.
Dieses Denken ist im Kern das des Thermostats: Öffne das Ventil, wenn es im Raum zu kalt ist, schließe das Ventil, wenn es zu heiß wird. Solche Aufgaben benötigen Sachverstand im jeweiligen Gebiet: Ökonomen reparieren die aus dem Ruder laufende Wirtschaft oder gleichen die anderen sozialen Systeme deren Bedürfnissen an; Ökologen regulieren die Kreisläufe der Natur oder zumindest den Beitrag, den wir Menschen dazu leisten; dass man den Politikwissenschaftlern und Soziologen ähnliche Leistungen in ihren jeweiligen Teilsystemen nicht zutraut, ist ein Zeichen dafür, dass diese Systeme nicht wie komplexe Heizungen funktionieren – oder dass die Akteure dieser akademischen Disziplinen Stümper sind. Sicherheitshalber setzt man daher auch in der Politik Experten aus der Wirtschaft ein, teilweise sogar als Regierungschefs ohne jede demokratische Legitimierung. Aber demokratische Legitimität wird ja gar nicht benötigt, weil negative politische Ziele im Grunde gar keine politischen Ziele sind und daher auch keine politische Legitimation brauchen, sondern eine andere: die Fachautorität. Das ist deshalb verfehlt, weil die Politik nicht von Experten für das Erreichen irgendwelcher Sollwerte betrieben werden kann – Politik ist für das Setzen der Sollwerte zuständig. Politik ist kein Thermostat, sondern die Entscheidung von Menschen, wie warm es in ihrem Zimmer sein soll. Politik muss sich daher immer mit positiven Zielen auseinandersetzen.
Die typische Figur der negativen Ziele ist der graue Technokrat, der scheinbar neutral das tut, was der objektive Sachzwang ihm vorschreibt. Die typische Figur der positiven Ziele ist der Weltverbesserer. Er kann als schillernder Charismatiker oder als verrückter Kommunarde auftreten. Er ist weder langweilig noch beliebt, jedenfalls heutzutage. Ihm fehlt die Helmut-Schmidtigkeit, er hat keine Angela-Merkelität. Und er ist gefährlich, wenn er mächtig wird. Gefährlich wie Paul Atreides, der über das negative Ziel, das von seinem Vater geerbte Herzogtum wiederherzustellen, hinausging und positive politische und religiöse Ziele als Muad’Dib und Kwisatz Haderach verfolgte: die Verwandlung des Planeten Arrakis in eine fruchtbare Welt und die Gründung einer endgültigen, die Galaxis überspannenden Religion. Durch die hohen Ziele entschuldbare Nebenkosten: mehrere Milliarden ermordete Menschen.3
Es ist durchaus vernünftig, sich vor positiven Zielen zu fürchten. Das liegt nicht nur an ihren allzu häufig diktatorischen Vertretern, sondern auch an den Zielen selbst. Es ist leichter, sich auf ein negatives Ziel zu einigen als auf ein positives. Welcher Belag soll auf unsere gemeinsame Pizza? Wir verständigen uns sehr schnell darüber, dass wir auf keinen Fall Blausäure und Hundekot wollen. Aber was sonst? Können wir uns auf Sardellen einigen? Für einige ergäbe das die bestmögliche Pizza – man erinnere sich nur an den Gesichtsausdruck Doctor Zoidbergs, als er zum ersten (und letzten) Mal davon kostete.4 Andere ziehen anderes vor und halten Sardellen für einen unerträglich ekligen Pizzabelag. Der Wunschtraum des einen ist der Albtraum des anderen. Aber einige Albträume sind niemandes Wunschtraum. Es gibt Übel, die von allen abgelehnt werden. Daher sind negative Ziele (die Ablehnung von Übeln) viel nützlicher als positive Ziele (das Anstreben von Gütern), wenn man an einem Beliebtheitswettbewerb der Ziele teilnehmen muss – und genau so funktioniert der Wahlkampf in der repräsentativen Demokratie.
Es gibt aber keine Garantie, dass man die Verbrechen, die man von den fanatischen Anhängern irgendwelcher Ideale befürchtet, dadurch verhindern kann, dass man nur kühl berechnende Realpolitiker an die Macht wählt. Es kann auch andersherum laufen: Vertreter positiver Ziele können einen ruhigen, mittleren Weg einschlagen, Vertreter negativer Ziele können extreme Maßnahmen ergreifen. Als Aristoteles untersuchte, wie ein politisches Gemeinwesen einzurichten sei, damit es den Bürgern ein tugendhaftes und somit glückseliges Leben ermögliche, verband er ein positiv formuliertes höchstes Ziel der Politik (Glückseligkeit) mit einer gemäßigten Verfassungsform, bei der die Macht in Beratungen zwischen Bürgern unterschiedlicher Schichten ausgeübt werden sollte.5 Thomas Hobbes hingegen lehnte die Vorstellung von einem höchsten Gut ab: Vielmehr gebe es ein größtes Übel, nämlich den Tod des Individuums, verursacht durch den Bürgerkrieg. Dieses Übel müsse mit rationalen Mitteln verhindert werden. Mit dieser negativen Zielsetzung begründete er den Absolutismus, denn wenn ein König alles zu bestimmen habe, dann gebe es keinen Grund mehr für Streit, Bürgerkrieg und Tod.6 Und auch Machiavelli hielt es für unklug, wenn sich Fürsten strikt an die Moral oder andere Ideale (Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Sparsamkeit, Milde etc.) halten. Viel sicherer könne der Fürst verhindern, die Macht zu verlieren, wenn er nur dem Schein nach gut, im tatsächlichen Handeln aber skrupellos sei. Machiavelli gilt gerade wegen dieser taktischen Ratschläge zur Erreichung negativer Ziele (das heißt zur Vermeidung eines Übels durch üble Handlungen) als Vordenker der Realpolitik.7
Zwischen Idealismus und Realpolitik besteht nicht nur ein philosophischer Kampf um Worte, Bedeutungen und Blickrichtungen. Mitunter bekämpfen sie einander direkt. Mit dem Weltsozialforum und den Zapatisten traten Weltverbesserer auf die Bühne der Politik, die behaupteten: »Eine andere Welt ist möglich«. Sie nahmen den Kampf gegen die neoliberale Realpolitik der »Alternativlosigkeit« auf, den etablierte Gewerkschaften und Sozialdemokratie in den Jahrzehnten zuvor aufgegeben hatten. Schaut man sich das Handeln der Akteure in diesem Kampf aber genauer an, so wird deutlich, dass die Grenzen nicht so deutlich gezogen werden können. Die andere Welt, die angeblich möglich sein soll, wird nicht besonders detailliert beschrieben, so dass eigentlich Tausende von Alternativen bestehen und man sich nur einig sein muss, dass man die jetzige nicht haben will – also ein negatives Ziel. Und die Alternativlos-Politiker wählen ständig zwischen positiven Zielen aus – »alternativlos« heißt in der politischen Rhetorik dann lediglich, dass man keine Diskussion über die Entscheidung wünscht. Man muss rein negative und rein positive Ziele als Idealtypen verstehen, als äußerste Punkte auf einem Kontinuum unterschiedlicher Möglichkeiten, wie man Ziele konzipiert.
Reinheit
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es nichts völlig Schlechtes, Böses, Übles, Negatives gibt und auch nichts völlig Gutes, Positives. Wie im Yin-Yang-Symbol gibt es immer dieses kleine die Bewertung umkehrende Pünktchen, das Weiße im Schwarzen und das Schwarze im Weißen, diese Verschmutzung und Verletzung der Reinheit. Beim Negativen wird das von allen schnell zugestanden. In einer meiner ersten Lehrveranstaltungen als Dozent an der Universität ging es um Utopien. Bei jedem Text fragte ich die Studierenden der Politikwissenschaft, ob sie sich vorstellen könnten, in die jeweils beschriebene Alternativgesellschaft umzuziehen. Interessanterweise konnten sie sich nicht für die als besonders gut und attraktiv konzipierten positiven klassischen Utopien begeistern – immer gab es etwas, das sie dort störte (meist zu wenig Freiheit, zu viel Überwachung und die generelle Unglaubwürdigkeit der angeblich Glück erzeugenden Systeme). Sie fanden aber immer auch ein paar positive Aspekte in den Dystopien, also in den Alternativgesellschaften, die als besonders negative Abschreckung und als Warnung vor rücksichtsloser Verwirklichung positiver Ideale gedacht waren: Die staatliche Förderung der Kunst in Samjatins »Wir« und die Ausgabe von Soma in Huxleys »Schöne neue Welt« etwa wurden als gute Aspekte einer ansonsten schlechten Gesellschaft empfunden.
Umgekehrt funktioniert es aber überraschenderweise nicht: Sobald es auch nur einen negativen Aspekt gibt, verliert der Gesamtentwurf die Bewertung »positiv«. Das Augenmerk richtet sich auf diese Warze in der Stadtmauer Utopias. Und es genügt eine Warze, um die Gesamterscheinung hässlich zu machen. Das engt meine Suche nach dem Positiven in der Science-Fiction ein. Wenn als »positiv« nur das gelten soll, was völlig makellos ist, und wenn Makel noch dazu vom persönlichen Geschmack des Betrachters abhängen, dann gibt es definitionsgemäß nichts Positives. Logisch, dass ich eine solche Definition nicht akzeptieren kann. Aber ich muss bei der Suche die Tatsache berücksichtigen, dass das Negative stärker ins Auge sticht als das Positive.
Vielleicht liegt das an unserer evolutionären Entwicklung: Diejenigen Urmenschen, die am Säbelzahntiger die Schönheit bewunderten, liefen vor ihm vielleicht etwas später weg als diejenigen, die in ihm vor allem den Schrecken sahen. Folglich stammen wir von den Pessimisten ab, nicht von den Optimisten. Und so halten wir es womöglich für unnatürlich, wenn Zeugen eines Motorradunfalls die Schönheit des Airbrush-Motivs auf dem Tank des Motorrads bewundern, anstatt über den zerbrochenen menschlichen Körper schockiert zu sein. Vorhanden ist aber beides: Schönheit und Schrecken; und möglicherweise würde sich der Verunglückte eher durch die Verzierung des Tanks als durch die Kaputtheit seines Körpers repräsentiert sehen. Wie dem auch sei, biologische Erklärungen unserer psychologischen Tendenz, das Negative, Schreckliche und Gefährliche überzubetonen, haben nur eine historisch-erklärende Funktion: »So ist das also entstanden.« Aber sie besagen nichts darüber, wie wir mit Artefakten umzugehen haben, Artefakten wie soziale Ordnungen und Texte. Sowohl Gesellschaftskritik als auch Literaturkritik haben das Recht und die Pflicht, auf Schlechtes aufmerksam zu machen; aber beide schneiden sich ins eigene Fleisch, wenn sie nur noch Verrisse erzeugen. Dann wird die kritische Haltung zu einer klischeehaften Pose und die Kritik wirkungslos, so wie der »Wolf!«-Ruf des Hirtenjungen bei Aesop. Wenn ich das Positive in der Science-Fiction finden will, dann muss ich bereit sein, auch die Blumen als schön zu bewerten, die auf dem stinkendsten Mist wachsen.
Von anderen Welten erzählen
Science-Fiction eignet sich ganz besonders gut dafür, Positives zu finden. Nicht weil es hier so viel Mist gäbe, auf dem dann ein paar schöne Blumen wachsen (das stimmt zwar, aber diesbezüglich unterscheidet sich Science-Fiction nicht von anderen Genres). Sondern weil Science-Fiction gewissermaßen prinzipiell dazu neigt, positive politische Ziele zu beschreiben. Das erkennt man in einem Vergleich der Denkübungen, die dem Leser vom Genre auferlegt werden. Im Kriminalroman stehen die normalen Rollen und die Gesellschaftsstruktur fest. Es handelt sich um die zeitgenössische oder eine historische soziale Ordnung, in der die üblichen Verbrechen möglich sind: Mord ist verboten, wegen Privateigentum kann man etwas stehlen etc. Es gibt Polizisten und/oder Detektive, Täter, Opfer und unwichtige Leute. All das kennt der Leser aus seinem Alltag. Worüber er zu grübeln hat, sind bestimmte Handlungen: Wer war es? Wie wird das herausgefunden? Insgesamt ist der Kriminalroman also sozial affirmativ und konzentriert sich auf Akteure. Die Science-Fiction funktioniert da ganz anders. Fest stehen die Handlungen, denn die Story wird ja beschrieben. Aber deren Bedeutung ist unklar; oft gibt es sogar erfundene Wörter. Der Leser wird also mit Fremdheit konfrontiert und grübelt über die Funktionsweise der beschriebenen Welt nach. Welche Rollen, Regeln und Dinge gibt es in dieser Welt? Science-Fiction konzentriert sich nicht so sehr auf die Akteure, sondern mehr auf die Struktur, in der sie handeln. Das macht sie sozial subversiv: »Hoppla, die Welt könnte ja ganz anders sein!« Der Science-Fiction-Leser stellt die Welt in Frage, weil er mehr Welten kennt als der Krimileser. Science-Fiction hat damit eine horizonterweiternde Funktion, vergleichbar mit der der Reiseberichte in der Zeit der großen Entdeckungsfahrten (die oft genug ebenfalls von erfundenen Ländern und fantastischen Fabelwesen erzählten). Wie diese ist sie eng mit den Utopien verwandt; alle drei benötigen ein Mindestmaß an Welterfindung.
Müssen die erfundenen Welten auch positiv sein? Vielleicht müssen sie das nicht, aber sie können es und oft sind sie es auch.
Dieses »Können« will ich hier nachweisen, sowohl prinzipiell als auch anhand von Beispielen. An das »Können« sind aber hohe Ansprüche zu stellen. Ich erinnere mich, wie mir einmal ein Friseurlehrling die Haare schnitt und sich mit mir über meinen Beruf unterhielt. »Philosophieren kann ja jeder, ich mach das auch oft mit meinen Freunden«, meinte er. Ich gab ihm Recht und verkniff es mir, darauf hinzuweisen, dass auch jeder Haare schneiden kann; ich habe das auch oft mit meinen Freunden gemacht. Die Frage ist, wie gut das Ergebnis ist. Irokesenschnitte nachrasieren ist tatsächlich ziemlich einfach, aber als ich eine normale Frisur zu schneiden versuchte, musste mein Kumpel direkt anschließend zu einem gelernten Friseur, damit dieser rettete, was noch zu retten war. Womöglich ist das mit dem Beschreiben von schönen Welten ähnlich. Man kann schon aufschreiben, was man für gut und erstrebenswert hält. Aber das wird dann halt keine gute Literatur – jedenfalls dann nicht, wenn gute Literatur von einem Konflikt erzählen muss und die gute Welt konfliktfrei sein muss. Aber ich bezweifle, dass auch nur eine dieser beiden Bedingungen zutrifft. Was die Güte der Literatur angeht, halte ich es mit Ursula K. Le Guins Tragetaschentheorie der Fiktion:
»Also hat der Held durch seine Sprachrohre, die Gesetzgeber, verfügt, dass erstens die gehörige Form der Erzählung die des Pfeils oder des Speers ist, der hier beginnt und geradewegs dorthin geht und – TSCHAK! – das Ziel trifft (welches tot umfällt); zweitens, dass das zentrale Anliegen der Erzählung, einschließlich des Romans, der Konflikt ist; und drittens, dass die Geschichte nichts taugt, wenn er nicht darin vorkommt. Ich bin zu all dem anderer Meinung. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass die natürliche, gehörige, passende Form des Romans die eines Sacks, einer Tragetasche sein könnte. Ein Buch enthält Wörter. Wörter enthalten Dinge. Sie tragen Bedeutungen. Ein Roman ist ein Medizinbündel, das Dinge in einer bestimmten, machtvollen Beziehung zueinander und zu uns hält.«8
Le Guin hat auf diese Weise das Positive erzählt, in ihrem Roman »Always Coming Home«.9 Aber diese Erzählweise ist tatsächlich ungewöhnlich. Deshalb fiel es vielen Lesern schwer, den Roman als Science-Fiction zu akzeptieren. Von einigen Gelehrten abgesehen, wollte auch kaum jemand die Utopie darin erkennen, weil zu den positiven Aspekten der darin beschriebenen Gesellschaftsordnung auch negative Aspekte hinzukamen, die man üblicherweise zu verhindern versucht: hohe Kindersterblichkeit, Konflikt mit kriegerischen Nachbarn, Spaltung der Gesellschaft wegen politischer Fragen und einiges mehr. Le Guin beschreibt eine gute Welt, die nicht nur gut, sondern auch ein bisschen schlecht ist. Als Taoistin fällt ihr das womöglich leicht; ein mehrheitlich christlich sozialisiertes Publikum erwartet da vielleicht mehr Reinheit.
Vielleicht aber auch nicht. Es gibt ja Genres, die notorisch auf Harmonie zielen und sich trotzdem an das Konfliktschema des »normalen« Erzählens halten. Etwa die Liebesgeschichte. Stellen wir uns eine schwierige Frau vor, Swan, die schon ziemlich alt ist und trotzdem die verrücktesten Dinge ausprobiert: Quantencomputer ins eigene Hirn einpflanzen (obwohl diese Qubes womöglich eine mörderische Verschwörung gegen die Menschheit begonnen haben), außerirdische Einzeller trinken (obwohl die womöglich giftig sind), eine Weltrevolution anzetteln … Und dann stellen wir uns noch einen Mann vor, Wahram, noch älter als sie, krötenartig hässlich und stark an ereignisloser Ruhe interessiert (das nennt er sein »Pseudoiterativ« – jeden Tag dasselbe machen). Werfen wir sie in eine lebensgefährliche Situation, in der sie aufeinander angewiesen sind, sodass sie eine emotionale Beziehung zueinander aufbauen. Lassen wir sie außerdem Geheimnisse voreinander haben, sodass Gründe für Verletzung und Misstrauen bestehen. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Es gibt Streits, Versöhnungen, Zeiten des Schweigens und des Sich-nacheinander-Sehnens. Nehmen wir an, die Geschichte endete mit einer Hochzeit der beiden, mit illustren Gästen von Saturn und Merkur auf dem Mars. Dann haben wir tatsächlich eine positive Geschichte trotz der negativen Aspekte (die jede Liebesgeschichte erst spannend machen). Und es ist sogar eine positive Science-Fiction-Geschichte (wegen Mars und Qubes und so). Vielleicht ist es sogar eine Utopie. Eine Geschlechterutopie, weil die Frau auch einen Penis und der Mann auch eine Vagina hat und beide schwanger werden können – obwohl die meisten Menschen nach wie vor in einem strikten Geschlechterdimorphismus mit deutlicher sozialer Ungleichheit leben, sodass die Utopie nicht rein ist. Eine politische Utopie, weil repressive politische Systeme nicht mehr den Normalzustand darstellen – obwohl es sie noch gibt, sodass die Utopie nicht rein ist. Eine ökonomische Utopie, weil die Weltraumbewohner genossenschaftlich wirtschaften und so dem Kapitalismus entkommen sind – obwohl es den auf der Erde auch noch gibt, sodass die Utopie nicht rein ist. Und eine ökologische Utopie, weil viele ausgestorbene Tierarten wieder auf die Erde zurückkehren – obwohl das einige Menschen sehr stört, sodass sie anfangen, diese Tiere wieder auszurotten und die Utopie nicht rein ist. Es ist sogar ein Krimi, mit Morden und Tätern und Opfern und einem Inspektor.
Fans von Kim Stanley Robinson haben schon erkannt, dass ich mich auf seinen Roman »2312« (2012) beziehe.10 (Für alle anderen kommt eine Spoilerwarnung jetzt wohl zu spät …) Robinson ist der Meister der Mischform zwischen dem Positiven und dem Negativen, mit einem deutlich spürbaren Positivdrall. Das bewies er schon in seiner Mars-Trilogie (»Red Mars« 1993, »Green Mars« 1994, »Blue Mars« 1996).11 Man wird ständig zwischen der Hoffnung, dass die Mars-Anarchisten gewinnen, und der Verzweiflung darüber, dass die Erde-Kapitalisten schon wieder eine Schlacht gewonnen haben, hin- und hergerissen. Die »Bösen« sind aber nicht nur böse, denn die Praxis eines der transnationalen Konzerne hilft entscheidend dabei, dass auf dem Mars ein nachkapitalistisches demokratisches System entstehen kann. Und die »Guten« sind nicht nur gut, sie haben sich die Hände in mehreren Revolutionen, Aufständen, Terroraktionen und Sabotageakten reichlich schmutzig gemacht. Robinsons »Mars« und sein »2312« sind sich einigermaßen ähnlich, es sind future histories mit wilden Kapriolen – der Weltgeist taumelt und stolpert, aber wenn er fällt, fällt er immerhin nach vorne. So gesehen findet man bei Robinson das Positive in der Science-Fiction, und zwar in einer nicht-banalen, nicht-kindischen, nicht-reinen Form. Ich könnte meine Suche hier im Grunde beenden; aber ich will mehr, ich will es noch schöner und positiver. Ich muss bis zu den Utopien vordringen.
Utopien ohne Reinheitsgebot
Freilich könnte ich dabei bei Robinson bleiben; er hat das Thema geschickt und selbstreflexiv in seiner Kalifornien-Trilogie behandelt (»The Wild Shore« 1984, »The Gold Coast« 1988, »Pacific Edge« 1990).12 Der Abwechslung halber möchte ich aber auf andere AutorInnen schauen. Und davor muss ich für die Utopie das zeigen, was ich gerade allgemeiner für die Literatur und die Politik zu plausibilisieren versucht habe: dass Reinheit weder zu erwarten noch zu wünschen ist. Dabei muss ich gegen die weit verbreitete Ansicht argumentieren, dass Utopien zur Perfektion neigen. Robert Hector beispielsweise hat vor zwanzig Jahren im SCIENCE-FICTION JAHR 1994 eine kurze Geschichte der literarischen Utopien, des Sozialismus und des Kapitalismus erzählt. Darin machte er auf das allen dreien gemeinsame Hoffen auf das Ende der Geschichte, auf das Erreichen eines irdischen Paradieses aufmerksam, das sie säkularisierend vom Christentum geerbt haben. Das Ende der Geschichte ist eine Variante der Perfektion: Es kann sich nichts mehr verbessern. Hector stellte fest, dass es nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks keine Utopien mehr gab, und erklärte das mit den Schrecken, die die Verwirklichung von perfektionistischen Ideologien stets nach sich zog: in der Literatur die klassischen Dystopien, im Sozialismus den Gulag, im Kapitalismus die Verelendung der Arbeiter. Das sind durchaus zutreffende Beobachtungen. Sein letzter Satz hat sich aber als falsch herausgestellt: »Die Wiederkehr der großen Visionen wird gewiss nicht mehr lange auf sich warten lassen.«13 Die große Vision lässt sehr wohl lange auf sich warten. Es ist sogar zu hoffen, dass sie nicht mehr kommt, jedenfalls solange sie die einer »idealen Gesellschaft« ist – der »Traum von einer besseren Welt« hingegen ist nie verschwunden.14 Er ist aber unsichtbar für diejenigen geblieben, die nur nach Endzeit-Paradiesen Ausschau halten. So sind Utopien aber nicht. Oder genauer: Nicht alle Utopien sind so.
Es ist nicht zu leugnen, dass die klassischen Utopien von Morus (»Utopia«, 1516)15 bis Bellamy (»Looking Backward«, 1888)16 dazu neigten, Gemeinwesen zu beschreiben, die keine Politik, keine weiterführenden positiven Ziele mehr benötigten, weil sie bereits die beste oder bestmögliche Ordnung darstellen. Das ist gerade der Grund, warum die klassischen Dystopien von Samjatin (»Wir«, 1924)17 bis Atwood (»The Handmaid’s Tale«, 1985)18 nicht bloßer Sozialhorror sind, sondern als ernsthafte Warnliteratur die klassischen Utopien als tendenziell totalitär entlarven konnten: Sie zeigten, wie es dem Individuum in einem System ergeht, das aufgrund seiner Perfektion und des damit verbundenen Anspruchs auf Nicht-Veränderung keine Abweichungen erlauben kann. Sie sind oft anti-utopisch verstanden worden: als Abgesang auf jede Utopie.
Tatsächlich haben sie eine überlebenswichtige Änderung in das utopische Fabulieren getragen: die Romanform. Die klassischen Utopien waren mehr Diskurs als Erzählung: Ein utopischer Reisender besucht Utopia, trifft dort einen Mentor, der ihn herumführt und die bestmöglichen Institutionen und die rationalste Rollenverteilung vorstellt und sich einer Diskussion der Vor- und Nachteile stellt. Folglich lesen sich diese Texte reichlich langweilig, und zu Recht sind sie in den Kanon der politischen Philosophie aufgenommen worden; das entspricht ihrer literarischen Form, die häufig an die platonischen Dialoge erinnert. Erst die klassischen Dystopien lassen uns erahnen, wie es sich anfühlt, in einer perfekten Gesellschaft zu leben: Es ist wirklich schlimm. Wir sitzen auf der Schulter von unterdrückten Außenseitern, die am liebsten rebellieren würden, es aber nicht schaffen. Das Genre der Staatsdeskription wird verlassen, die utopische Literatur betritt das Genre der Science-Fiction. Echte Romane! Diese Form der Narration wurde in den 1970er-Jahren zur Beschreibung positiver Gesellschaftsentwürfe verwendet. Den Anfang machte Ursula K. Le Guins »The Dispossessed« (1974). Es folgten schnell weitere Texte, die man allesamt als kritische Utopien bezeichnen kann: Joanna Russ’ »The Female Man« (1975), Marge Piercys »Woman on the Edge of Time« (1976) und Samuel R. Delanys »Trouble on Triton« (1976). Kritisch waren diese Utopien, weil sie – aufgrund der Romanform, aber auch aufgrund der Reflexion der Utopisten über die Unangemessenheit der Tendenz zu Reinheit in den klassischen Utopien – Positives und Negatives in den Texten vermischten.19
Utopien sind wie Science-Fiction Reflexionen sowohl der literarischen Vorgänger als auch der zeitgenössischen politischen, sozialen und kulturellen Zustände. Die kritischen Utopien spiegelten die Hoffnungen der Achtundsechziger-Generation wider und verankerten feministische und ökologische Themen in dieser Literaturgattung – Themen, die zuvor nur selten in Utopien angesprochen worden waren. Aber schon im Laufe der Achtzigerjahre wurde deutlich, dass die Hoffnungen nicht erfüllt wurden. Der Neoliberalismus breitete sich mit zunehmender Wucht weltweit aus, erlangte die Hegemonie und errichtete das, was Michael Hardt und Antonio Negri »Empire« nennen.20 Schon früh bekannte er sich zur perfektionistischen Utopie – das »Ende der Geschichte« sei nun erreicht – und damit zur Anti-Utopie bezüglich aller Alternativen.21 Die westliche Welt wurde also spätestens in dem Moment auf ihre Art und Weise dystopisch, als der dystopische Totalitarismus des Ostblocks zerbrach. Folgerichtig wurde auch der Ton in der utopischen Literatur düsterer; es entstanden die kritischen Dystopien, in denen nicht mehr der kommunistische oder faschistische Überwachungsstaat Quelle des sozialen Horrors ist, sondern der Umwelt und Menschen zerstörende Kapitalismus (meist in Form von Konzernen, gerne auch gestützt durch religiöse Legitimation). Robinsons »Gold Coast« gehört dazu, Piercys »He, She and It« (1991) und Octavia E. Butlers Parable-Romane (»The Parable of the Sower« 1993, »The Parable of the Talents« 1998).22 Nachdem Le Guin mit »Always Coming Home« die kritische Utopie 1985 auf ihren Höhepunkt gebracht hatte, veröffentlichte sie 2000 mit »The Telling« ebenfalls eine kritische Dystopie.23 Das besondere Merkmal der kritischen Dystopien ist die (relativ zu den klassischen Dystopien) größere und berechtigtere Hoffnung, das Individuen zerquetschende System überwinden zu können. Es werden Widerstandsbewegungen in ihrem Kampf gezeigt, es gibt alternative Lebensweisen in versteckten Nischen, der Perfektionismus kann sich nicht halten.24 Es gibt das Positive, auch wenn es nicht immer triumphiert.
Positive Utopien und optimistische Science-Fiction
Und wenn das Positive triumphiert, dann eben nicht im Glanz der makellosen Reinheit. Zum Abschluss dieser Überlegungen präsentiere ich drei Beispiele für bessere, ja sogar gute Welten in der Science-Fiction des aktuellen Jahrtausends. Als Erstes ist Chris Carlssons »After the Deluge« (2004) zu nennen.25 Der Roman ist eindeutig Science-Fiction: Er beginnt im Jahr 2157, beschreibt neue Spezies und neue Technologien (etwa eine zu einem biologischen Internet umgezüchtete Weinart), thematisiert die veränderten Umweltbedingungen in der Zukunft (San Francisco ist teilweise überflutet), extrapoliert die Entscheidungsstrukturen heutiger konsensorientierter Anarchistengruppen in die zukünftige dezentrale Stadtverwaltung und bietet als Novum eine Arbeits- und Güterverteilungsorganisation, die heutigen ökonomischen Vorstellungen diametral zuwiderläuft, weil sie auf freiwilliger Tätigkeit und bedarfsorientiertem Schenken beruht.
Der Roman ist eine Utopie, weil der sporadisch eingestreuten Kritik an den heutigen Verhältnissen eine umfassend beschriebene Alternativgesellschaft gegenübersteht. Diese Utopie erreicht die seit »The Dispossessed« notwendige Unreinheit durch die Kombination zweier Erzählperspektiven. Auf der einen Seite begleiten wir den utopischen Reisenden Eric, der als Fremder in San Francisco ankommt und es erst kennenlernen muss. Er begeistert sich immer mehr für die politische und soziale Ordnung der Stadt und entscheidet sich letztlich, für ihre Erhaltung zu arbeiten. Er wird das, was funktional am ehesten einem anarchistischen Polizisten ähnelt: ein öffentlicher Fahnder, der Verbrecher aufspüren und Beweise sammeln soll, ohne allerdings jemanden festnehmen oder anderweitig Gewalt ausüben zu dürfen. Auf der anderen Seite lernen wir San Francisco durch die Augen des dystopischen Außenseiters Nwin kennen, der dort aufwuchs und ständig Probleme mit den (informellen) Autoritäten hat: mit seinem nörgelnden Vater, mit den Experten auf seiner Arbeitsstelle, mit den Mädchen (die bei der Sexanbahnung das letzte Wort haben). Die sozialistische Ordnung ist ihm – trotz aller Freiwilligkeit – nicht frei genug. Er lehnt sich auf, legt Feuer, schließt sich am Ende gar einer Guerillaarmee an, die für jene spezielle Art der Freiheit kämpft, die wir aus dem Kapitalismus kennen (und in der man arbeiten und Befehle befolgen muss, weil man sonst verhungert oder erschossen wird). Man versteht beide Sichtweisen, doch der Autor lenkt die Sympathien auf Eric. Das anarchokommunistische San Francisco ist eine positive Zukunftsvision, trotz der zahlreichen Konflikte. Es gibt Streit um die Auswilderung von Wölfen, um Fahrradwege, um Genmanipulation, um Arbeit, und es gibt Kriminalität und sogar Terrorismus. Und dennoch ist es eine bessere Welt, die uns Carlsson hier präsentiert.
Sechzehn bessere Welten hat Jetse De Vries gesammelt. In seiner Kurzgeschichtensammlung »Shine« (2010)26 wird vom Aufstieg von ehemaligen Drittweltländern (bis in den Weltraum), von der Lösung von Umweltproblemen durch Umdenken und/oder technologische Fixes, von siegreichen Demonstrationen und von sich selbst vernichtenden Unterdrückungssystemen erzählt. Alle Geschichten sind optimistisch, aber keine ist naiv. Immer gibt es Probleme, Rückschläge, Konflikte; Überraschungen können böse sein, aber eben auch gut. Das Positive ist untrennbar mit Unreinheit verbunden. In Silvia Moreno-Garcias Geschichte »Seeds« etwa unterlaufen Anhänger der Zapatisten die Kontrollfantasien eines Agrarkonzerns und beweisen die Möglichkeit einer anderen Welt, indem sie dessen Genmais mit Maisbrand infizieren und so aus entmachtender Reinheit eine schmutzige Delikatesse (huitlacoche) machen. Eva Maria Chapmans »Russian Roulette« scheint zunächst eine antitechnologische Ökoutopie anzupreisen (inklusive typischer Rollenverteilung zwischen utopischem Reisenden und Mentorin), doch als die paradiesische Gemeinde bedroht wird, zeigt sich eine Mischung aus gandhiesker Zivilcourage und süchtigem Cyberpunkleben als wirkungsvoller Schutz. Sowohl in Gareth L. Powells und Aliette de Bodards »The Church of Accelerated Redemption« als auch in Eric Gregorys »The Earth of Yunhe« muss vielversprechende Technologie entwendet und zweckentfremdet werden, um soziale und ökologische Probleme zu lösen; in Kay Kenyons »Castoff World« wird auf vergleichbare Weise sogar ein Hoffnungsschimmer in einer nachapokalyptischen Katastrophenwelt möglich.
Die utopieähnlichste Geschichte in »Shine« ist Jason Stoddards »Overhead«. Ein weltweites ökologisches Umdenken, das so manches Profitstreben schwieriger macht, verleitet einige Firmen zu mehr oder minder betrügerischem Handeln. Einerseits entstehen daraus neue Konzerne, die sich schließlich zu rücksichtslosen Staaten ohne Territorium entwickeln; andererseits entsteht dadurch eine Mondkolonie, die im klassischen Sinne utopisch ist. Sie entsteht nach rationalen Plänen in einem leeren Land, kombiniert neue Wirtschaft (freier Markt ohne Firmen) mit alter Demokratie (Losverfahren und Volksversammlungen), frei zugängliche Überwachung der Utopier und Isolation Utopias mit über die eigene Gesellschaftsform hinausgehenden Träumen von einer noch besseren Zukunft. Wie jede reale und/oder dystopische Ordnung ist auch diese utopische gefährdet. Mond und Erde schicken einander Raketen: Vom Mond kommen Grußbotschaften und Wein, von der Erde kommt eine Atombombe; der Mond gewinnt, aber die Erde verliert nicht.
Im März 2014 ist die neueste mir bekannte Utopie erschienen: Margaret Killjoys »A Country of Ghosts«.27 In einem Steampunk-Universum angesiedelt, besteht der Roman aus dem Bericht des Journalisten Dimos Horacki, der ein fremdes, seltsames Land besucht. Abgesehen vom unaufdringlich eingepflegten hippen Technologiestandard und der passenden Kleidung (man trägt Melone bei der Zugfahrt; aber es wird kein einziges Zahnrad erwähnt), ist die Erzählperspektive geradezu idealtypisch: Der Held erfüllt dieselbe Aufgabe wie William Weston in Callenbachs »Ecotopia« (1975), wie Will Farnaby in Huxleys »Island« (1962), eigentlich sogar wie Morus’ Hythlodäus.28 Und die Intention des Erzählers lässt sich nicht nur wegen der Namensähnlichkeit der Völker mit der Louis-Armand de Lahontans vergleichen, der im dritten (und fiktiv-utopischen) Teil seines Kanada-Reiseberichts zur Übernahme der von ihm gelobten Huronen-Lebensweise aufruft.29 Horacki ist in die imperiale Armee seines Königs eingebettet, die in das Land Hron einfällt, das sich bald als ein Rückzugsgebiet für gescheiterte anarchistische Revolutionäre herausstellt (wie Anarres für die Odonier in Le Guins »The Dispossessed«). Bald findet sich Horacki auf der anderen Seite wieder und begleitet die Milizen des Bergvolks. Dabei lernt er die Funktionsweise dieses völlig dezentral organisierten Landes nur im Ausnahmezustand und sozusagen nebenher kennen. Die Hauptsorge aller Protagonisten gilt dem Überleben: Die imperiale Armee ist blutrünstiger, größer und besser bewaffnet als die freien Milizen, die dafür das Terrain besser kennen. Im Roman wird hauptsächlich gestorben, verstümmelt, gelitten. Und das soll das Positive in der Science-Fiction sein? Es ist das unreine Positive. Die Hoffnungsschimmer stecken nicht im Kriegsverlauf (der gar nicht bis zu Ende geschildert wird – Horackis Bericht ist selbst Teil einer Kriegstaktik), sondern in den Organisationsweisen, Entscheidungsmethoden, Eigentumsvorstellungen und Verantwortlichkeitsstrukturen der hronischen Utopier. Es handelt sich um nur leicht abgewandelte Varianten der Aktivistenkultur, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten bei den radikalen Altermondialisten, Anarchisten, Occupy-Campern etc. entwickelt hat: Konsensprozesse, Rechenschaftsverfahren, Gruppendynamiken.30 Das Positive in Killjoys Utopie ist das Einzige, das nicht fiktiv ist, sondern heute schon existiert: an den Rändern, in den Lücken, unterhalb und außerhalb der real existierenden Dystopie.
Erscheinen in den letzten Jahrzehnten, vor allem aber seit 2001 überwiegend düster-pessimistische dystopische Geschichten? Ja. Gelingt es der blendenden Düsterheit, die Helligkeit optimistischer Erzählungen zu überstrahlen? Ja. Aber so ist es ja auch mit den Exoplaneten: Wir können ihr Licht nicht sehen, weil sie von den ihnen nahen Sternen überstrahlt werden. Doch wir können sie erkennen und analysieren, wenn wir darauf achten, wie »ihr« Stern durch sie ins Wanken gebracht und wie dessen Strahlen während ihres Durchgangs teilweise absorbiert werden. Sobald die Leser von Science-Fiction sich auf ein ähnlich detektivisches Projekt wie die Astronomen einlassen – und das werden sie, wie alle, die an fremden Welten interessiert sind –, werden sie erkennen, wie optimistische Science-Fiction und durchwachsene Utopien durch ihre Hoffnungskraft die dystopischen Ansichten und Aussichten unserer Zeit erzittern lassen.
Anmerkungen
1 Trotz unerreicht hoher absoluter Zahlen ist tatsächlich ein Rückgang des Anstiegs der Anzahl der Dystopien pro Dekade zu verzeichnen. Seit dem 18. Jahrhundert verzehnfachte sich die durchschnittliche Anzahl pro Dekade erschienener Dystopien in jedem Jahrhundert, doch im 21. Jahrhundert hat sie sich (bisher) nur verfünffacht. Einer leicht zugänglichen (aber nicht ganz zuverlässigen) Quelle zufolge müssten die Werte wie folgt lauten: 18. Jh. ∅ 0,1 (n=1); 19. Jh. ∅ 1,2 (n=12); 20. Jh. ∅ 12,2 (n=122); 21. Jh. ∅ 61,4 (n=86 für die ersten 14 Jahre). Die Explosion der Dystopien verlangsamt sich also; eigentlich wären doppelt so viele Dystopien zu erwarten gewesen. ^
2 Damit greife ich ein Thema auf, das Sascha Mamczak und Wolfgang Jeschke, die Herausgeber des SCIENCE-FICTION JAHRS 2008, in ihrem Editorial zum Schwerpunkt Utopie ansprachen: Einerseits gebe es mit Ursula K. Le Guins »The Dispossessed« einen bedeutenden Neuanfang im Genre der Utopie – da haben sie recht. Andererseits würde in diesem Genre »kaum noch ›Nachschub‹ produziert. Ja, es scheint beinahe, als gebe es auf dem Feld des Utopischen mehr Sekundär- als Primärliteratur.« (dort S. 14) Dass es sehr wohl adäquaten »Nachschub« gibt, will ich hier zeigen; dass es mehr Sekundär- als Primärliteratur dazu gibt, ist bei jeder bedeutenden Literatur der Fall. Der Grund für die Unsichtbarkeit des Nachschubs könne an politischen Interessen liegen – da mögen sie auch recht haben. Dass die beiden positiven Utopien und »The Dispossessed«-Nachfolger, die ich am Ende vorstellen werde, vermutlich nie für den Heyne-Verlag übersetzt und somit im deutschsprachigen Bereich sichtbar werden, könnte aber auch an wirtschaftlichen Interessen liegen: Sie sind als schöpferisches Gemeingut (Creative Commons) lizensiert und verbieten die kommerzielle Nutzung – ganz den in ihnen beschriebenen Wirtschaftsordnungen entsprechend. ^
3 Hier beziehe ich mich selbstverständlich auf Frank Herberts »Dune« (1963), auf Deutsch als »Der Wüstenplanet« bei Heyne erhältlich. Die große Anzahl der Opfer wird erst in einem der Folgebände genannt. ^
4 Ganz am Ende der 6. Episode der 1. Staffel von Futurama, »A Fishful of Dollars« (1999). ^
5 Das höchste Gut begründete er in seiner »Nikomachischen Ethik«, für die »Politie« (vergleichbar mit einer Republik) argumentierte er in seiner »Politik«. ^
6 Interessanterweise wählte er den Namen eines Riesenmonsters, das symbolisch für den Staat, den menschgemachten Gott, stehen soll: »Leviathan« (zugleich der Werktitel). ^
7 Solche Gedanken formulierte er vor allem in seinem berüchtigten »Il Principe« (deutsch »Der Fürst«); aber in den »Discorsi« schlug er andere Töne an und plädierte für eine Republik, die sich gegen skrupellose Fürsten zu wehren weiß. Das wird meist nicht als Widerspruch verstanden; der Fürst wird eben als Gründer (und militärischer Einiger Italiens) benötigt, anschließend sollen sich die Bürger in Freiheit selbst regieren. ^
8 Meine Übersetzung von Ursula K. Le Guin: »The Carrier Bag Theory of Fiction.« In: Dies.: »Dancing at the Edge of the World. Thoughts on Words, Women, Places«. New York: Grove Press, 1989, S. 169. ^
9 Leider nicht ins Deutsche übersetzt. Die Originalausgabe von 1985 (mit Audiokassette) ist längst vergriffen; auch die 2001er-Neuauflage der University of California Press ist inzwischen schwer zu ergattern. ^
10 2013 unter demselben Titel auf Deutsch bei Heyne erschienen. ^
11 Auf Deutsch bei Heyne erschienen: »Roter Mars« 1997, »Grüner Mars« 1997, »Blauer Mars« 1999. Die Bücher sind derzeit vergriffen; antiquarisch sind sie leider nur recht teuer erhältlich. m11
12 Auf Deutsch bei Bastei Lübbe erschienen: »Das wilde Ufer« 1986, »Goldküste« 1989, »Pazifische Grenze« 1992. Die Bücher sind derzeit vergriffen, antiquarisch aber sehr billig zu bekommen. ^
13 Robert Hector: »Hoffen auf Utopia.« In: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): DAS SCIENCE-FICTION JAHR 1994. München: Heyne, 1994, S. 508. ^
14 Hector verwendet beide Begriffe, als wären sie austauschbar (ebd.). ^
15 In mehreren Auflagen und Verlagen unter demselben Titel übersetzt und lieferbar. ^
16 Auf Deutsch unter »Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887« (oder so ähnlich) in mehreren Verlagen erschienen und lieferbar. ^
17 »Wir« ist bereits der Name der deutschen Übersetzung; ich will dem Leser das »Мы« ersparen, das ich selbst nicht aussprechen kann. Es gibt mehrere Auflagen mehrerer Übersetzungen in mehreren Verlagen, einige davon sogar lieferbar. ^
18 Deutsche Übersetzung: »Der Report der Magd« (zuletzt bei List 2006 aufgelegt); 1990 von Volker Schlöndorff als Die Geschichte der Dienerin verfilmt. ^
19 Zu den kritischen Utopien vgl. Bülent Somay: »Towards an Open-Ended Utopia«, in: Science-Fiction Studies 11:1 (1984), S. 25–38, und Tom Moylan: »Das Unmögliche verlangen. Science-Fiction als kritische Utopie«, Hamburg: Argument, 1990. Es liegen deutsche Übersetzungen der kritischen Utopien vor. Le Guin: »Planet der Habenichtse« (mehrere Auflagen in verschiedenen Verlagen, vergriffen) bzw. »Die Enteigneten. Eine ambivalente Utopie« (Edition Phantasia 2006); Russ: »Planet der Frauen« (Knaur 1979, vergriffen) und »Eine Weile entfernt« (Argument 2000, vergriffen); Piercy: »Frau am Abgrund der Zeit« (mehrere Auflagen in verschiedenen Verlagen, vergriffen); Delany: »Triton« (Bastei-Lübbe 1981, vergriffen). ^
20 In ihrem gleichnamigen Buch von 2000. Auf Deutsch: »Empire. Die neue Weltordnung« (Frankfurt a. M.: Campus, 2003). ^
21 An dieser Stelle gaben sich die Liberalen und die Konservativen die Hand. Nicht nur Politikerinnen wie Thatcher und Merkel sprachen von Alternativlosigkeit, auch Denker plädierten für das monolithische Nicht-über-den-Tellerrand-Blicken. Dabei half ihnen die »realistische«, also pessimistische (und falsche) Annahme, abgesehen vom Kapitalismus könne es ausschließlich den gescheiterten UdSSR-Kommunismus geben – tertium non datur. Vgl. insbesondere Joachim Fest: »Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters«, Berlin: Siedler, 1991, und Francis Fukuyama: »Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?«, München: Kindler, 1992. ^
22 Zu den kritischen Dystopien vgl. Tom Moylan: »Scraps of the Untainted Sky. Science-Fiction, Utopia, Dystopia«, Boulder: Westview Press, 2000. Piercy wurde als »Er, Sie und Es« übersetzt (Argument 2002, vergriffen); nur der erste der Butler-Romane wurde übersetzt: »Die Parabel vom Sämann« (Heyne 1999, vergriffen). ^
23 Die Behauptung, »Always Coming Home« sei der wichtigste utopische Text Le Guins, begründe ich ausführlich in meinem Buch »Utopie, Anarchismus und Science-Fiction. Ursula K. Le Guins Werke von 1962 bis 2002«, Münster: Lit, 2008, vor allem S. 182–199 und 276–326. »The Telling« wurde als »Die Erzähler« übersetzt (Heyne 2001, vergriffen). ^
24 Der Unterschied zu den klassischen Dystopien ist aber nur ein gradueller. Es ist bemerkenswert (aber nur selten bemerkt worden), dass die totalitären dystopischen Systeme in der Klassik keineswegs so stabil sind, wie sie zu erscheinen wünschen. Am Ende von »Wir« bricht eine Rebellion aus, die den »Einzigen Staat« ernsthaft in Gefahr bringt (und zu dem hinter der Mauer auch eine Alternative existiert). Sowohl George Orwells »Nineteen Eighty-Four« (1949, dt. »1984«) als auch Atwoods »The Handmaid’s Tale« enden nicht mit dem Versagen der ProtagonistInnen, sondern jeweils mit quasi-wissenschaftlichen Texten, die in der Retrospektive auf die vergangenen und überwundenen totalitären Systeme zurückblicken. Ja, Winston Smith stirbt, den Großen Bruder liebend. Aber der Große Bruder stirbt auch. ^
25 Untertitel: »A Novel of Post-Economic San Francisco« (Full Enjoyment Books, 2004). Das gedruckte Buch ist inzwischen vergriffen, aber der Autor hat eine seitengleiche PDF kostenlos auf seine Homepage gestellt (letzter Zugriff: 03. 05. 2014). ^
26 Untertitel: »An Anthology of Near-Future Optimistic Science-Fiction« (Solaris 2010). ^
27 Ein Buch, das sowohl von Kim Stanley Robinson als auch vom Anarchisten Gabriel Kuhn gelobt wird (in den für amerikanische Bücher unvermeidlichen Blurbs), muss mich ja elektrisieren (Combustion Books, 2014). ^
28 Die ersten beiden sind hauptberufliche Journalisten, Hytholodäus ist als »Unsinnsplapperer«, der von seiner Reise nach Utopia berichtet, in einem ähnlichen Gewerbe tätig. Die genannten Romane sind ins Deutsche übersetzt: »Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999« (Rotbuch Verlag 1978, vergriffen) und »Eiland« (Piper, viele Auflagen seit 1984). ^
29 Es ist unbekannt (aber nicht auszuschließen), dass die Autorin (Killjoy) eine ähnliche Intention hegt wie ihre Erzählerfigur (Horacki). Carlssons Utopie entspricht offensichtlich einer der Möglichkeiten, die er tatsächlich anstrebt. Lahontan hatte in seinem »Supplément aux voyages du Baron de Lahontan, Où l’on trouve des Dialogues curieux entre l’auteur et un Sauvage« (1703) lediglich zur individualistischen Aussteigerstrategie geraten; bald kursierte aber eine radikalere Version seines Buches, die zur gewaltsamen Überwindung der Königsherrschaft aufrief. Lahontans Beschreibungen sind abgedruckt in »New Voyages to North-America«, 1905; es sind Faksimiles bzw. Scans erhältlich; näheres zu individualistischen und gemeinschaftlichen Utopiestrategien in den Supplementen zu französischen Reiseberichten in: Peter Seyferth: »Reisebericht: Reise zur Selbsterkenntnis einer Gesellschaft«, in: Dirk Lüddecke/Felicia Englmann (Hrsg.): »Zur Geschichte des politischen Denkens. Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart«, Stuttgart/Weimar: Metzler, 2014. S. 139–164. ^
30 Man vergleiche die kollektiven Entscheidungen in »A Country of Ghosts« mit David Graebers Berichten (»Inside Occupy«, Campus 2012). Eine ebenfalls erstaunliche Parallele zum beschriebenen Bergexil findet man in James C. Scotts Arbeit über staatsfreie Völker in den südostasiatischen Bergen (»The Art of Not Being Governed«, Yale University Press 2011). ^
Peter Seyferth ist Dozent für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und hat bereits mehrfach zu den Themen Fantastik und Science-Fiction publiziert.
Diesen und viele weitere Essays und Reviews finden Sie im aktuellen HEYNE SCIENCE-FICTION JAHR 2014, 976 Seiten, E-Book € 29,99 (im Shop).
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