8. Juli 2014 1 Likes

Aufbruch in eine neue Zeit

Ein Teaser zu Norbert Stöbes E-Book-Roman „Morgenröte“

Lesezeit: 9 min.

Wir haben eine Premiere zu feiern: Am 14.7. erscheint unser erstes E-Original! Norbert Stöbe, einer der bekanntesten deutschen Science-Fiction-Autoren und -Übersetzer, wirft in seinem neusten Roman „Morgenröte“ einen Blick in die Zukunft, in der es nicht gerade rosig für uns aussieht: Aufgrund der Instabilität der Sonne steigen die Temperaturen und Strahlungswerte auf der Erde massiv an. Die Felder verdorren, Flüchtlingsströme ziehen nach Norden, die Menschen werden zu Nachtwesen. Zwar funktionieren die Funknetzwerke, Satelliten und andere Infrastruktur noch, doch nach und nach bricht die öffentliche Ordnung zusammen. Da entschließen sich die USA und die Vereinten Nationen zu einem tollkühnen Plan: Binnen zehn Jahren soll auf dem Mond ein Raumschiff gebaut werden, das 18.000 Menschen zu dem erdähnlichen Planeten Morgenröte bringen soll, um dort eine neue Zivilisation aufzubauen. Die Plätze an Bord sollen ganz offiziell verlost werden. Aber geht bei diesem Projekt alles mit rechten Dingen zu? Wer erhält wirklich einen Platz an Bord? Wie können so viele Menschen auf eine so lange Reise geschickt werden? Und vor allem: Existiert Morgenröte, diese letzte Hoffnung der Menschheit, überhaupt?Um euch die Wartezeit ein wenig zu verkürzen, haben wir einen kleinen Teaser für euch:

 

In Momenten wie diesem wünschte Rudger sich sehnlichst einen verstoppelten, transpirierenden, muskelbepackten Kumpel, der ihm hätte zur Hand gehen können. Aber diesen Kumpel gab es nicht, hatte es nie gegeben, und deshalb trat er allein in die sengende Tageshitze hinaus, geschützt von einem reflektierenden knöchellangen Adidas Passive Cooler und einer Überziehkapuze mit integrierter Uvex-Brille. Den Filter hatte er auf 90 Prozent gestellt, und das war auch nötig. Mit seiner spiegelnden Beschichtung und den sechs Ballonreifen glich der UPS-Truck einer einfachen, aber wirkungsvollen Alien-Waffe, deren Wirkungsweise darin bestand, jeden, der ihrer ansichtig wurde, dauerhaft zu blenden. Teerbatzen, Fetzen von Plastiktüten und plattgewalzte Aludosen klebten am schwarzen Reifenprofil. Nur das dunkelgraue Logo erinnerte noch an die bulligen Wagen, mit denen UPS die Pakete vor der Singularität ausgeliefert hatte. Spätestens dann, wenn der Paketdienst nicht mehr käme, wäre es an der Zeit, sich dem Flüchtlingstreck gen Norden anzuschließen.

Für den Fall, dass der Truck noch von Menschenhand gesteuert wurde, nickte Rudger zu der langsam kreisenden verspiegelten Kuppel hoch und trat an den Bordstein. Der Truck summte leise, wie ein Trafo. HANDSCHUHE BENUTZEN! stand über den beiden Paketfächern. Rudger spähte durch die Brille zur anderen Straßenseite hinüber, doch dort regte sich nichts. Das Gelbe Haus wirkte ausgestorben. Er wusste, das war Täuschung, doch sein deutlich sichtbares Waffenholster und die Tageshitze waren vermutlich ein ausreichender Schutz vor einem Überfall.

Er hielt die Karte vor den Scanner. Das grüne Licht leuchtete auf, die Klappe für das Ausgabefach der ungekühlten Fracht sprang auf. Er zog die Pakete heraus, insgesamt waren es fünf, darunter zwei große, schwere Kartons, zwei mittelgroße und ein kleines, leichtes Päckchen. Inzwischen musste er heftig blinzeln, weil sich unter der Brille Schweiß gebildet hatte, der ihm in die Augen tropfte. Während die Klappe zusprang und der Truck zum nächsten Empfänger weiterfuhr, stapelte er die Pakete der Größe nach auf die Sackkarre und schob sie zur angelehnten Haustür.

Auf einmal fiel sein Blick auf die Fahne. Insgeheim hatte er gehofft, sie wäre in der Zwischenzeit verschwunden. Jetzt sah er, dass es ein T-Shirt war – ein Kinder-T-Shirt. Es hing drei Häuser weiter in der zweiten Etage an einem Stock, der aus einem Loch in der mit Alufolie beklebten Fensterabdeckung ragte. Die Ärmel bewegten sich sachte in der Konvektionsströmung über der Straße. Vor anderthalb Jahren hatten in dem Haus noch Leute gelebt – nicht nur in diesem, auch in den meisten anderen. Ein Bus hatte die Kinder eingesammelt und zur Schule gebracht. Nachts hatten sie auf dem Gehsteig gegrillt. Man hatte Geräusche gehört: Musik und Stimmen, Kindergeschrei. Als der Bus nicht mehr fuhr und die letzten Geschäfte in der Gegend schlossen, begannen die Leute wegzuziehen. Jetzt knackte nur noch der erhitzte Beton.

Und vor dem Fenster hing eine Fahne.

War es ein Hilferuf? Eine Mitteilung? Feierte ein schrulliger Überlebenskünstler seinen einsamen Geburtstag? Oder sollte das Hemd Leute wie ihn in eine Falle locken? Der Anstand hätte es verlangt, nachzusehen und sich wenigstens zu erkundigen, ob dort jemand Hilfe brauchte, doch er konnte die Pakete nicht hier auf dem Gehsteig stehen lassen. Außerdem war er sich gar nicht sicher, ob er sich in seiner Lage Anstand noch leisten konnte. Die Karten wurden neu gemischt, die Spielregeln änderten sich von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag. Das Sollen hatte ausgedient. Dies war die Zeit der Notwendigkeit, des Rette-sich-wer-kann.

Er schob die Karre in den Hausflur, der ihm wegen des starken Filterfaktors der Brille vorkam wie ein pechschwarzer Schlund. Kaum war die Haustür hinter ihm zugefallen und das Sicherheitsschloss eingeschnappt, riss er Schutzhaube und Brille herunter, wischte sich den Schweiß ab und pellte sich aus dem Anzug. Keuchend legte er die drei armdicken Riegel vor, dann stellte er die Sackkarre am Treppenabgang ab und schleppte die Pakete nacheinander ins Basement hinunter. Je tiefer er kam, desto kühler wurde es. Beim Hochsteigen war es umkehrt. Bevor er sich ans Auspacken machte, trank er eine halbe Wasserflasche leer, sprühte Desinfektionsmittel in den Anzug und legte ihn in die Kühltruhe. Als er bemerkte, dass Alfred, der altersschwache Haushaltsbot, mit seinem Sensorstängel seinen Bewegungen folgte, zog er ihm den Stecker und steckte ihn nach kurzem Überlegen wieder ein. Er zögerte den Moment des Auspackens gern hinaus. Schon als Kind hatte er die masochistische Kunst praktiziert, die Wunscherfüllung hinauszuschieben. Jetzt, da die UPS-Lieferungen überlebensnotwendig waren, hatte er diesen Spleen perfektioniert.

Das erste Paket war von Amazon und enthielt fünfzig Kilobeutel Algenpampe für den Bioprinter, Aromanachfülltanks sowie allerlei nützlichen Kleinkram. Im zweiten waren Munitionsschachteln unterschiedlichen Kalibers, eine Großpackung Leuchtstäbe, eine Sprühgaskeule mit auswechselbaren Patronen und ein original Schweizer Taschenmesser. Die beiden mittelgroßen Pakete waren für Venice, die ließ er ungeöffnet. In einem davon war vermutlich sein Geburtstagsgeschenk. Er brachte die Sachen in den Maschinenraum, in dem auch die Notstromgeneratoren untergebracht waren. Früher war das die Waschküche gewesen. Jetzt verwahrte er hier in einem Regal die Waffen, die er sich nach und nach zusammengekauft hatte. Das Messer und das kleine Päckchen nahm er mit in sein Arbeitszimmer. Vor Venice’ Tür hielt er inne und überlegte, ob er klopfen sollte, wollte sie aber nicht bei der Arbeit stören. Er ging weiter zu seiner Arbeitshöhle, legte Paket und Messer auf den Schreibtisch und schaltete den Monitor ein.

Früher, vor der Singularität, hatte er ein Designbüro mit Filialen in zwei großen Städten geleitet. Zegg’s Up & Down war gut im Geschäft gewesen und hatte zu seiner besten Zeit fast fünfunddreißig Angestellte gehabt. Jetzt, da alles den Bach runterging, war Rudger vom einstigen Glanz nur noch das Down geblieben – und dieser Keller. Trotzdem koordinierte er noch immer verschiedene Projekte, darunter die Kühlanzugreihe von Adidas und eine Messkollektion von Samsung. Die Designfirma war aufgelöst oder vielmehr, sie war innerhalb weniger Monate zerfallen. Da alle Betroffenen davon in Anspruch genommen waren, ihr Leben auf einer ganz elementaren Basis an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, waren ihm wenigstens die emotionalen Konflikte erspart geblieben, die normalerweise mit Pleiten einhergingen. Weil der Firmenapparat weggefallen war, arbeitete er jetzt wieder allein und autonom, wie damals als Student, als er nebenher alle möglichen Designjobs angenommen hatte, um später, wenn es darum ginge, sich bei den großen Agenturen zu bewerben, etwas vorweisen zu können. Schon damals hatte er das Ziel gehabt, irgendwann eine eigene Agentur zu besitzen, und das hatte er auch geschafft. Insofern war es bemerkenswert, dass er sich im Moment zumindest nicht unwohl fühlte. Er genoss es, wieder die Kontrolle über die einzelnen Projekte zu haben. Und noch konnten sie von dem, was er und Venice verdienten, recht gut leben. Das Erstaunlichste dabei aber war, dass selbst heute noch Spitzendesign produziert wurde und dass Menschen wie er damit beschäftigt waren, es zu verunstalten, nur damit man die Premiumprodukte zu überhöhten Preisen losschlagen konnte. […]

 

Sie stellte den Fernseher an und packte die beiden an sie adressierten Pakete auf dem Küchentisch aus – eine Zehnerpackung Slips und zwei digitale Freisprechfunkgeräte, das Geburtstagsgeschenk für Rudi –, dann schüttete sie eine abgemessene Menge Nutralgon in eine Schüssel, gab Wasser hinzu, rührte um und kippte die Pampe in den Biodrucker. Die Menüliste hatte sie aus der Bedienungsanleitung ausgeschnitten und mit einem ausgelutschten Kaugummi an die Wand geklebt. Sie wählte das Menü Nummer 17, Steaks mit gelben Bohnen, Polenta und Texassoße. Die Mongolei und Alaska hatten sich für unabhängig erklärt, das englische Königshaus hatte sich auf Grönland einquartiert, das Unabhängige Tibet hatte die Grenzen für Flüchtlinge aus China und Indien geschlossen. Israelische und iranische Algenernter waren im Pazifik aneinandergeraten, die Süßwasservorräte in der Sahara waren von der UNO zum Menschheitsbesitz erklärt worden und wurden fortan von Friedenstruppen geschützt. Wissenschaftler diskutierten den Plan, die Menschheit zu einem fernen Planeten zu evakuieren, afrikanische Dschihadisten lieferten sich in Süditalien Kämpfe mit den Resten der Armee, aufgrund von andauernden Instabilitäten des Erdmagnetfelds war tagsüber weiterhin mit stark erhöhten Strahlungswerten zu rechnen.

Venice schaltete den Fernseher aus und erst wieder an, als die Nachrichten vorbei waren.

 

Die Marmorierung der Algensteaks war wie immer überzeugend, aber wenn man ehrlich war, hatten sie mehr Ähnlichkeit mit der Leber einer Riesenmade als mit einem echten Steak. Um Venice einen Gefallen zu tun, tat Rudger so, als könnte er gar nicht genug davon bekommen. Manchmal fand sie das erheiternd. Heute nicht.

»Tut sich was im Haus gegenüber?«, fragte sie.

»Bis jetzt nicht«, antwortete Rudger. »Vielleicht sind sie ja schon weitergezogen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Hier können sie nicht bleiben.«

»Stimmt auch wieder.«

Eine Weile aßen sie schweigend. Im TV lief jetzt eine Ratgebersendung mit Tipps zum Gemüseanbau in geschlossenen Räumen. Venice stellte mit der Fernbedienung den Ton ab.

»Hast du gehört, die wollen ein Raumschiff bauen«, sagte sie.

»Ja, gute Reise.«

»Was meinst du wohl, wer an Bord sein wird? Was glaubst du?«

»Da wird nichts draus.«

»Aber wenn doch?«

»Ein paar ausgebildete Raumfahrer mit den Genen eines Hellboy Lawson und dem IQ eines Einstein. Und natürlich der Präsident. Und die Präsidenten aller anderen Länder, die am Bau beteiligt wären. Und deren Leibwächter. Und deren Ehefrauen. Und deren Kinder und Geliebte. Das dürfte Streitgeben. Puh, also ich möchte da lieber nicht dabei sein, vielen Dank.«

»Du glaubst nicht dran«, sagte Venice. Sie klang enttäuscht.

»Ich weiß nicht. Nein. Ich denke … wie lange würde es dauern, so ein Ding zu entwickeln und es zu bauen? Zehn Jahre, zwanzig? Und wohin sollte es fliegen? Wie lange würde es unterwegs sein? Wie sollte die Besatzung den langen Flug überleben? Also, wenn du mich fragst …«

»Du glaubst, es ist zu spät?«

»Nein, nein. Ich vermute eher, das Ganze ist ein Ablenkungsmanöver.

Ein riesengroßer Bluff. Ein Placebo.« Er legte das Besteck auf den Teller und schob ihn von sich weg. »Ich muss noch mal raus.«

»Was?«, sagte Venice erschrocken.

»Heute ist der Sensor gekommen, von dem ich dir erzählt habe.«

»Aber sei vorsichtig, ja?«

»Das bin ich doch immer, Schatz. Außentemperatur?«

»53,3, abnehmend.«

»Partikelstrahlung?«

»Im roten Bereich, leicht zunehmend.«

»Verkehrslage?«

»Keinerlei Staus in diesem Viertel.«

»Dann ist ja alles bestens.« Er trat hinter sie, legte ihr die

Arme um die Brust und schnupperte an ihrem Hals. »Du transpirierst«, sagte er.

»Früher hast du immer gesagt, du magst meinen Geruch.« Sie versuchte ihn abzuschütteln.

»Mag ich noch immer. Ich mach mir nur Sorgen um unsere Hightech-Klimaanlage.« Er küsste sie aufs Haar.

 

Na, neugierig geworden?

 

Norbert Stöbe, 1953 in Troisdorf geboren, begann schon als Chemiestudent zu schreiben. Neben seiner Tätigkeit als Chemiker am Institut Textilchemie und Makromolekulare Chemie der RWTH Aachen übersetzte er die ersten Bücher. Sein Roman „New York ist himmlisch“ wurde mit dem C. Bertelsmann Förderpreis und dem Kurd-Lasswitz-Preis ausgezeichnet. Seine Erzählung „Der Durst der Stadt“ erhielt ebenfalls den Kurd-Lasswitz-Preis und die Kurzgeschichte „Zehn Punkte“ den Deutschen Science Fiction Preis. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen „Spielzeit“, „Namenlos“ und „Der Weg nach unten“. Norbert Stöbe lebt als freier Autor und Übersetzer in Nordrhein-Westfalen.

 

Norbert Stöbe: Morgenröte • Roman • München, Wilhelm Heyne Verlag, 2014 • € 6,99 • im Shop

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