Die Flüchtigkeit des Glücks
Eine Leseprobe aus Dan Simmons‘ visionärem Zukunftsthriller „Flashback“
Spätestens seit seinem internationalen Bestseller „Terror“ und der gleichnamigen, nicht minder erfolgreichen TV-Adaption ist Dan Simmons aus der Landschaft der fantastischen Literatur nicht mehr wegzudenken. In seinem Roman „Flashback“ (im Shop) entführt Simmons seine Leser ins Amerika der nahen Zukunft, in dem man dank einer ominösen Droge namens Flashback die glücklichsten Momente seines Lebens immer wieder durchleben kann. Doch genau das droht dem ehemaligen Cop Nick Bottom zum Verhängnis zu werden …
1.00
Japanische Grünzone über Denver
Freitag, 10. September
»Sie wundern sich wahrscheinlich, dass ich Sie heute zu mir gebeten habe, Mr. Bottom«, sagte Hiroshi Nakamura.
»Nein«, antwortete Nick. »Ich weiß genau, warum Sie mich geholt haben.«
Nakamura blinzelte. »Tatsächlich?«
»Ja.« Scheiß drauf, dachte Nick, wer A sagt, muss auch B sagen. Nakamura möchte einen Detektiv engagieren. Zeig ihm, dass du einer bist. »Sie wollen, dass ich den oder die Mörder Ihres Sohnes Keigo finde.«
Nakamura blinzelte erneut, blieb jedoch stumm. Als hätte ihn der laut ausgesprochene Name seines Sohnes erstarren lassen.
Die Augen des alten Milliardärs schnellten kurz zu seinem gedrungenen, kräftigen Sicherheitschef Hideki Sato. Dieser lehnte an einem Treppentansu neben dem Shoji, der zum Hofgarten geöffnet war. Wenn Sato mit irgendeiner Bewegung oder einer mimischen Regung auf den Blick seines Dienstherrn reagierte, so nahm Nick nicht das Geringste davon wahr. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass Sato auf der Fahrt im Golfwagen hinauf zum Haupthaus oder während der Vorstellung in Nakamuras Büro nur einmal das Gesicht verzogen hätte. Die Augen des Sicherheitschefs waren Murmeln aus Obsidian.
Schließlich sprach Nakamura weiter. »Ihre Schlussfolgerung ist richtig, Mr. Bottom. Eine elementare Schlussfolgerung, wie Sherlock Holmes sagen würde, da Sie damals der für den Fall meines Sohnes zuständige Ermittler waren, als ich noch in Japan war, und wir beide nie Kontakt miteinander hatten.«
Nick wartete.
Nach dem flüchtigen Blick in Satos Richtung hatte sich Nakamura wieder auf das einzelne Blatt E-Pergament in seiner Hand konzentriert, doch nun richteten sich seine grauen Augen bohrend auf Nick.
»Glauben Sie, Sie können den oder die Mörder meines Sohnes finden, Mr. Bottom?«
»Ganz sicher«, log Nick. Er ahnte, dass ihm der alte Milliardär eigentlich eine ganz andere Frage gestellt hatte: Können Sie die Uhr zurückdrehen und verhindern, dass mein einziger Sohn getötet wird?
Auch auf diese Frage hätte Nick notfalls mit »ganz sicher« geantwortet. Um an das Geld zu kommen, das ihm dieser Mann geben konnte, war Nick zu jeder Behauptung bereit. Denn das war genug Geld, um für Jahre zu Dara zurückzukehren. Vielleicht sogar für den ganzen Rest seines Lebens.
Nakamura rümpfte leicht die Nase. Nick war klar, dass man nicht zum hundertfachen Milliardär und zu einem der neun regionalen Bundesberater in Amerika wurde, wenn man ein Dummkopf war.
»Warum sind Sie so davon überzeugt, dass es Ihnen jetzt gelingen wird, Mr. Bottom, wo Sie doch vor sechs Jahren gescheitert sind, zu einem Zeitpunkt also, da Sie noch ein echter Mordermittler waren und die vollen Ressourcen des Denver Police Department hinter sich hatten?«
»Damals gab es vierhundert ungeklärte Mordfälle, Mr. Nakamura. Wir hatten fünfzehn Ermittler, die für alles zuständig waren, und jeden Tag kamen neue Fälle rein. Jetzt kann ich mich ganz darauf konzentrieren, diesen einen Fall zu lösen. Keine Ablenkung.«
Nakamuras graue Augen, die ohnehin frostig und so reglos waren wie Satos dunkle Obsidiane, wurden merklich noch frostiger. »Wollen Sie damit andeuten, Detective Sergeant Bottom, dass Sie der Ermordung meines Sohnes damals nicht absoluten Vorrang eingeräumt haben – trotz entsprechender Anweisungen des Gouverneurs von Colorado und der Präsidentin der Vereinigten Staaten persönlich?«
Nick spürte das Flashbackjucken im Inneren wie das Krabbeln eines Tausendfüßlers. Am liebsten wäre er aus dem Zimmer verschwunden und hätte sich das Früher übergestreift wie eine warme Wolldecke: damals, nicht heute, sie, nicht das hier.
»Ich will damit bloß sagen, dass das DPD vor sechs Jahren keinen einzigen Mordfall mit der angemessenen Sorgfalt und dem nötigen Personalaufwand bearbeitet hat«, erwiderte Nick. »Nicht einmal den Ihres Sohnes. Und wenn das Kind der Präsidentin persönlich in Denver ermordet worden wäre, das Dezernat Gewaltverbrechen hätte den Fall nicht lösen können.« Er schaute Nakamura offen in die Augen, obwohl er sich ziemlich lächerlich vorkam mit dieser Aufrichtigkeitsmasche.
»Und heute erst recht nicht«, fügte er hinzu. »Heute ist es noch fünfzigmal schlimmer.«
In dem Büro gab es keinen einzigen Stuhl zum Hinsetzen, nicht einmal für Mr. Nakamura persönlich. Nick Bottom und Hiroshi Nakamura standen sich gegenüber, nur getrennt durch das schmale, brusthohe, vollkommen leere, blank polierte Mahagonipult des Milliardärs. Satos zwanglose Haltung am Tansu konnte – zumindest für Nick Bottom – nicht darüber hinwegtäuschen, dass er hellwach und auch unbewaffnet äußerst gefährlich war. Der Sicherheitschef strahlte die unbestimmte Bedrohlichkeit eines Exsoldaten, eines Polizisten oder eines anderen Berufsstandes aus, in dem man zum Töten ausgebildet wurde.
»Natürlich sind Ihre fachlichen Kenntnisse aus vielen Jahren beim Denver Police Department und Ihre wertvollen Einblicke in die damaligen Ermittlungen die Hauptgründe dafür, dass wir Ihr Engagement für diese Untersuchung in Betracht ziehen«, bemerkte Mr. Nakamura in aalglattem Diplomatenton.
Nick atmete durch. Er hatte die Nase voll von Nakamuras Skript.
»Nein, Sir«, widersprach er. »Das sind nicht die wirklichen Gründe. Wenn Sie mir den Auftrag erteilen, den Mord an Ihrem Sohn zu untersuchen, dann nur, weil ich der einzige lebende Mensch bin, der – dank Flashback – jede einzelne Seite der damaligen Fallakten einsehen kann, die bei dem Cyberangriff vor fünf Jahren zusammen mit dem gesamten Archiv des DPD vernichtet worden sind.«
Und, dachte Nick, weil ich der einzige Mensch bin, der auf Flash jedes Gespräch mit Zeugen, Verdächtigen und anderen Detectives wiedererleben kann. Ich kann in der Mordakte nachlesen, die mit den Dokumenten verloren gegangen ist.
»Wenn Sie mich engagieren, Mr. Nakamura«, setzte Nick hinzu, »dann bloß, weil ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der knapp sechs Jahre zurückgehen und in diesem Mordfall alle Spuren wieder sehen und hören kann, die inzwischen so kalt sind wie die auf Ihrem katholischen Privatfriedhof in Hiroshima bestatteten Gebeine Ihres Sohnes.«
Mr. Nakamura atmete zischend ein, dann wurde es totenstill im Zimmer. Draußen plätscherte friedlich der kleine Wasserfall in den Teich des gleichmäßig geharkten Kiesgartens.
Nachdem er seinen ersten Trumpf ausgespielt hatte, verlagerte Nick das Gewicht und schaute sich mit verschränkten Armen um.
Berater Hiroshi Nakamuras Büro in seinem Privathaus hier in der japanischen Grünzone über Denver wirkte, obwohl erst kürzlich errichtet, als wäre es tausend Jahre alt. Und als wäre es in Japan.
Die Schiebetüren und -fenster – Shoji und die schwereren Fusuma – blickten alle auf den kleinen, aber erlesen formellen japanischen Garten. Im Raum selbst spendete ein einzelnes Shojifenster einer winzigen Altarnische natürliche Helligkeit. Bambusschatten bewegten sich über eine perfekt auf dem lackierten Boden platzierte Vase mit herbstlichen Pflanzen und Zweigen. Die wenigen Möbelstücke waren nach japanischer Vorliebe asymmetrisch verteilt, und ihr antikes Holz war so dunkel, dass es förmlich das Licht schluckte. Dagegen strahlten die polierten Zedernholzböden und die Tatamimatten ihren eigenen warmen Schein aus. Von den Tatamis erhob sich ein sinnlicher, frischer Duft nach getrocknetem Gras. Aufgrund der Kontakte mit Japanern in seinem früheren Job als Mordermittler verstand Nick Bottom, dass in Mr. Nakamuras Anwesen – Haus, Garten, Büro, Ikebana und die wenigen bescheidenen, aber wertvollen Einrichtungsgegenstände – alles vollkommener Ausdruck der Schönheitsbegriffe Wabi (schlichter Friede) und Sabi (elegante Schlichtheit und Feier des Vergänglichen) war.
Allerdings war Nick das scheißegal.
Er brauchte diesen Auftrag, um an Geld zu kommen. Er brauchte das Geld, um Flashback zu kaufen. Und das Flashback brauchte er, um wieder mit Dara zusammen sein zu können.
Da er Satos Beispiel folgend seine Schuhe im Genkan, dem Eingangsbereich, ausgezogen hatte, wurde Nick Bottom in diesem Augenblick vor allem von dem Bedauern beherrscht, dass er sich am Morgen ausgerechnet diese schwarze Socke geschnappt hatte – die mit einem Riesenloch am linken Fuß, durch das sein großer Zeh lugte. Verstohlen zog er den Fuß ein, um den Zeh zurück durch das Loch zu bugsieren, aber um es richtig zu machen, hätte er beide Füße benötigt, und das wäre aufgefallen. Sato war ohnehin schon auf sein Gezappel aufmerksam geworden. Nick bog den Zeh zurück, so weit wie es ging.
»Was für einen Wagen fahren Sie, Mr. Bottom?« erkundigte sich Nakamura.
Fast hätte Nick laut aufgelacht. Er war darauf gefasst, für die unverschämte Erwähnung der kalten Knochen des verehrten Sohnes Keigo von Sato hinausgeworfen zu werden, aber mit einer Frage nach seinem Auto hatte er nicht gerechnet. Außerdem hatte ihn Nakamura mit Sicherheit über eine der ungefähr fünfzigtausend Überwachungskameras beobachtet, die seine Fahrt hierher verfolgt hatten.
Er räusperte sich. »Also …, ich fahre einen zwanzig Jahre alten GoMotors Gelding.«
Mit leicht zur Seite gewandtem Kopf bellte der Milliardär japanische Worte in Satos Richtung. Ohne gerade Haltung anzunehmen und mit dem Hauch eines Lächelns gab der Sicherheitschef eine noch tiefere und schnellere Kaskade von kehligen Lauten zurück.
Nakamura nickte offenbar zufrieden. »Ist Ihr … äh … Gelding ein zuverlässiges Fahrzeug, Mr. Bottom?«
»Die Lithium-Ionen-Batterien sind uralt, Mr. Nakamura, und Bolivien ist im Augenblick so schlecht auf uns zu sprechen, dass sie wahrscheinlich in nächster Zeit nicht ersetzt werden. Nach einer zwölfstündigen Aufladung schafft das blöde Sch…, das Auto ungefähr fünfundsechzig Kilometer mit sechzig Sachen oder sechzig Kilometer mit fünfundsechzig Sachen. Wir müssen eben hoffen, dass sich bei diesem Auftrag keine Verfolgungsjagden im Höchsttempo wie in Bullit ergeben.«
Mr. Nakamura verzog keine Miene. Sahen sich die in Hiroshima keine tollen alten Filme an?
»Wir können Ihnen für die Dauer Ihrer Ermittlungen ein Fahrzeug der Delegation zur Verfügung stellen, Mr. Bottom. Vielleicht eine Lexus- oder Infiniti-Limousine.«
Diesmal platzte das Lachen tatsächlich aus Nick heraus. »Einer von Ihren Wasserstoffschlitten? Nein, Sir. Das funktioniert nicht. Erstens würde er überall, wo ich in Denver parken kann, einfach auseinandergebaut. Zweitens – und das kann Ihnen Ihr Sicherheitschef bestimmt genau erklären – brauche ich einen Wagen, der sich nicht von der Umgebung abhebt, falls ich jemanden beschatten muss. Bloß nicht auffallen, das ist die Devise jedes Privatdetektivs.«
Aus Mr. Nakamuras Kehle drang ein tiefes Grollen, als wollte er spucken. In seiner Zeit als Cop hatte Nick diesen Laut öfter von japanischen Männern gehört. Er drückte wohl Überraschung und ein wenig Unmut aus, allerdings gaben sie ihn auch von sich, wenn sie zum ersten Mal etwas Schönes wie eine Gartenlandschaft erblickten. Wahrscheinlich unübersetzbar.
»Also gut, Mr. Bottom«, meinte Nakamura schließlich. »Sollten wir uns für Sie entscheiden, brauchen Sie auf jeden Fall ein Fahrzeug mit größerer Reichweite, wenn Ihre Ermittlungen Sie nach Santa Fe in Nuevo Mexico führen. Aber diese Einzelheiten können wir auch später erörtern.«
Santa Fe, schoss es Nick durch den Kopf. Gottverdammt, nicht Santa Fe. Überall, bloß nicht Santa Fe. Allein die Erwähnung des Namens reichte, damit das tiefe Narbengewebe auf und in seinen Bauchmuskeln heftig zu ziehen begann. Aber er hörte auch eine andere Stimme in seinem Kopf, eine von den Hunderten Kinostimmen, die dort hausten: Vergiss es, Jake. Wir sind in Chinatown.
»In Ordnung«, antwortete Nick. »Über das Auto reden wir später. Falls Sie mich engagieren.«
Erneut betrachtete Nakamura das Blatt E-Pergament in seiner Hand. »Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum. Ist das richtig, Mr. Bottom?«
Verflucht. Seine ganze Zukunft hing wahrscheinlich vom Ausgang dieses Vorstellungsgesprächs ab, und Mr. Nakamura hätte tausend Fragen stellen können, deren Beantwortung möglich war, ohne dass er auch noch den letzten Rest seiner ohnehin schon arg ramponierten Würde verlor. Aber ausgerechnet das musste es sein: Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum?
Ja, Sir, hätte Nick am liebsten erwidert, derzeit wohne ich in einem Sechstel eines früheren Baby Gap in der ehemaligen Cherry Creek Mall in einem beschissenen Teil einer beschissenen Stadt in einem Vierundvierzigstel der früheren Vereinigten Staaten von Amerika, ich, der kleine Nick Bottom. Sie hingegen leben mit den anderen Japsen hier oben auf dem Hügel, geschützt von drei Sicherheitsringen, durch die nicht mal der verdammte Geist von Osama bin Laden durchschlüpfen könnte.
Seine tatsächliche Antwort fiel deutlich kürzer aus. »Cherry-Creek-Wohnkomplex heißt das Ding jetzt. Und der Teil, zu dem meine Wabe gehört, war tatsächlich früher ein Baby Gap.«
Von den drei Männern waren zwei teuer gekleidet, in schwarze Anzüge mit schmalen Revers und Hosenbeinen, mit weißen Hemden und dünnen schwarzen Krawatten – der nach über fünfundsiebzig Jahren wiederbelebte Kennedy-Look. Nicht einmal Nakamura, der schon Ende sechzig war, konnte sich noch aus eigener Anschauung an diese historische Epoche erinnern, und Nick fragte sich, warum die Modegurus aus Japan diesen Trend zum zehnten Mal aus der Versenkung geholt hatten. Trotzdem – an dem schlanken, eleganten Mr. Nakamura sah der Stil der toten Kennedys gut aus. Sato war fast genauso erlesen gekleidet, auch wenn sein Anzug wahrscheinlich ein-, zweitausend neue Dollar weniger gekostet hatte. Allerdings hätte der Anzug des Sicherheitschefs sorgfältiger geschneidert sein müssen. Trotz seiner fortgeschrittenen Jahre war Nakamura dünn und fit, während Sato gebaut war wie der sprichwörtliche Kleiderschrank, falls die Japaner so was überhaupt hatten.
Als er die kühle Brise aus dem Garten spürte, die seinen nach unten gekrümmten Zeh umfächelte, wurde Nick klar, dass er zwar mit Abstand der größte Mann im Zimmer war, aber auch auf die für ihn mittlerweile typische Weise die Schultern nach unten hängen ließ. Wenn er wenigstens sein Hemd gebügelt hätte! Eigentlich hatte er es vorgehabt, dann aber letzte Woche nach der Einladung zu diesem Vorstellungsgespräch einfach keine Zeit dazu gefunden. Da stand er nun in einem zerknitterten Hemd unter einem zerknitterten, zwölf Jahre alten Anzugjackett – dazu kein passendes Beinkleid, nur die am wenigsten verbeulte und verschmutzte Kakihose. Alles in allem sah er garantiert aus, als hätte er nicht nur in seinen Kleidern geschlafen, sondern auf ihnen. Und erst am Morgen in der Wohnwabe hatte er gemerkt, dass er die alte Hose, das Anzugjackett und den Hemdkragen nicht zuknöpfen konnte, weil er in den letzten ein oder zwei Jahren so stark zugenommen hatte. Er konnte nur hoffen, dass sein unmodisch breiter Gürtel den offenen Hosenknopf und der Krawattenknoten den unverschließbaren Hemdkragen verdeckten, zumal schon der verfluchte Schlips dreimal so dick war wie die der beiden Japaner. Und es war auch nicht unbedingt förderlich für Nicks Selbstvertrauen, dass diese Krawatte, ein Geschenk Daras, wahrscheinlich ungefähr ein Hundertstel von dem gekostet hatte, was Nakamura für seine ausgegeben hatte.
Egal. Es war Nicks letzte Krawatte.
Nick Bottom war im vorletzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts geboren, und jetzt spukte ihm ein Lied aus einer Kindersendung von damals durch den schmerzdröhnenden, flashbackhungrigen Schädel.
Scheiß drauf, dachte er erneut, und eine panische Sekunde lang hatte er Angst, laut gesprochen zu haben. Es fiel ihm immer schwerer, sich in dieser elenden, irrealen, flashbacklosen Welt auf irgendetwas zu konzentrieren.
Und weil die ausgedehnte Stille von Mr. Nakamura ganz gelassen und von Sato geradezu amüsiert aufgenommen wurde, fügte Nick Bottom, dem diese Stille peinlich war, etwas hinzu: »Natürlich ist es schon ein paar Jahre her, dass Cherry Creek ein Einkaufszentrum war und dass es dort Läden gab. BIAHTF.«
Nick sprach die Abkürzung »buy-ought-if« so aus, wie es alle Leute taten, doch Nakamuras Gesicht blieb ausdruckslos, passivherausfordernd oder höflich neugierig – vielleicht auch eine Kombination aus allen dreien. Eins stand für Nick fest: Der Großunternehmer aus Nippon machte ihm keinen Teil des Gesprächs leicht.
Sato war die Phrase sicher schon begegnet, aber anscheinend hatte er keine Lust, sie für seinen Chef zu übersetzen.
»Before it all hit the fan – bevor alles den Bach runterging«, erklärte Nick. Er ließ unerwähnt, dass das gebräuchlichere »die-ought-if« für »day it all hit the fan« stand: »der Tag, an dem alles den Bach runterging«. Bestimmt kannte Nakamura beide Ausdrücke. Schließlich lebte der Mann nach seiner Ernennung zum Vierstaatenberater seit fast fünf Jahren in Colorado. Und auch davor hatte er solche amerikanischen Ausdrücke zweifellos schon gehört, zum Beispiel von seinem ermordeten Sohn.
»Ah.« Mr. Nakamura vertiefte sich wieder in das E-Pergament. Bilder, Filme und Textspalten huschten über das papierflexible Blatt und verschwanden unter der leisesten Bewegung von Nakamuras manikürten Fingerspitzen. Nick bemerkte, dass der Milliardär starke Arbeiterhände hatte – allerdings hatte er sie bestimmt nie für eine körperliche Tätigkeit benutzt, die nicht Teil einer Freizeitbeschäftigung war. Segeln vielleicht. Oder Polo. Oder Bergsteigen. Alle drei Hobbys wurden in Hiroshi Nakamuras Go-Wiki-Bio erwähnt.
»Und wie lange waren Sie Mitarbeiter des Denver Police Department, Mr. Bottom?«
Nick hatte das Gefühl, dass das verdammte Vorstellungsgespräch rückwärtslief. »Ich war neun Jahre lang Detective. Insgesamt war ich siebzehn Jahre bei der Truppe.« Er widerstand der Versuchung, einige seiner Erfolge zu zitieren. Nakamura hatte sowieso alles in seiner Pergamentdatenbank.
»Detective im Dezernat Gewaltverbrechen und im Dezernat für Raub und Mord?« Nakamura las die Informationen ab und fügte nur aus Höflichkeit ein Fragezeichen an.
»Ja.« Bringen wir es endlich hinter uns.
»Und aus welchem Grund wurden Sie vor fünf Jahren entlassen? « Nakamura schaute nicht mehr auf sein Blatt. Diesmal brachte nur die erhobene linke Augenbraue ein Fragezeichen zum Ausdruck.
Arschloch. Insgeheim war Nick erleichtert, dass sie den schwierigen Teil des Gesprächs erreicht hatten. »Meine Frau kam vor fünfeinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben.« Nick ließ sich keine Emotionen anmerken. Ihm war klar, dass Nakamura und sein Sicherheitschef mehr über sein Leben wussten als er selbst. »Das hat mich … etwas aus der Bahn geworfen.«
Nakamura wartete, aber nun war es Nick, der es seinem Gegenüber nicht leicht machte. Du weißt genau, warum du mir den Auftrag geben wirst, Blödmann. Also raus damit.
Schließlich fuhr Mr. Nakamura leise fort. »Sie wurden demnach nach einer neunmonatigen Bewährungsfrist aus dem Polizeidienst entlassen – wegen Flashbackmissbrauch.«
»Ja.« Nick bemerkte, dass er die beiden zum ersten Mal anlächelte.
»Und diese Sucht, Mr. Bottom, war auch der Grund für das Scheitern Ihrer Privatdetektei, ein Jahr nach Ihrer … äh … Ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst?«
»Nein«, log Nick. »Eigentlich nicht. Es sind einfach schwere Zeiten für Kleinunternehmen. Das Land ist im dreiundzwanzigsten Aufschwungjahr ohne Arbeitsplätze, wissen Sie.«
Keinem der beiden Japaner schien der alte Witz etwas zu sagen. Der gelassen an dem Tansu lehnende Sato erinnerte Nick an Jack Palance in Mein großer Freund Shane, obwohl die Körperformen nicht unterschiedlicher hätten sein können. Der Blick unverwandt. Auf der Hut. Auf der Lauer. Und wenn Nick eine falsche Bewegung macht, kann Sato-Palance ihn niedermähen. Als wäre Nick immer noch bewaffnet nach den zahlreichen Sicherheitschecks auf dem Gelände, nach dem CMRI-Scan seines Wagens, den er einen knappen Kilometer weiter unten hatte stehen lassen, und nach der Beschlagnahmung der Neun-Millimeter-Glock – selbst Sato musste einsehen, dass es lächerlich gewesen wäre, ohne Waffe durch die Stadt zu fahren.
Mit der tödlichen, auf alles gefassten Konzentration eines professionellen Bodyguards behielt ihn Sato im Blick. Oder der eines Killers wie Jack Palance.
Statt weiter auf der Sache mit dem Flashback herumzureiten, wechselte Nakamura plötzlich das Thema. »Bottom. Das ist ein ungewöhnlicher Name in Amerika, oder?«
»Ja, Sir.« Nick gewöhnte sich allmählich an das Sprunghafte der Befragung. »Das Komische daran ist, dass der ursprüngliche Familienname durchaus englisch war: Badham. Aber ein Schreiberling in Ellis Island hat ihn falsch verstanden. Muss so ähnlich gewesen sein wie in der Szene aus Der Pate II, wo der stumme kleine Michael Corleone umbenannt wird.«
Mr. Nakamura, der offenbar wirklich kein Fan alter Filme war, bedachte Nick erneut mit seinem vollkommen leeren und undurchdringlichen Japanerblick.
Nick seufzte vernehmlich. Der Versuch, Konversation zu machen, ermüdete ihn allmählich. »Bottom ist ein ungewöhnlicher Name, aber es ist der Name unserer Familie, seit sie vor ungefähr hundertfünfzig Jahren in die USA gekommen ist.« Auch wenn mein Sohn ihn nicht benutzt.
Als hätte er Nicks Gedanken gelesen, sagte Nakamura: »Ihre Frau ist verstorben, aber meines Wissens haben Sie einen sechzehnjährigen Sohn, er heißt …« Der Milliardär stockte und neigte sich wieder über sein E-Pergament, sodass Nick die rasiermesserscharfe Vollkommenheit seiner Salz-und-Pfeffer-Frisur bewundern konnte. »Val. Ist das eine Abkürzung, Mr. Bottom?«
»Nein«, antwortete Nick. »Einfach nur Val. Es gab einen alten Schauspieler, den meine Frau und ich mochten und … Jedenfalls heißt er einfach Val. Vor ein paar Jahren hab ich ihn nach L. A. geschickt, er lebt dort bei seinem Großvater – meinem Schwiegervater, einem pensionierten Professor. Bessere Bildungschancen dort. Aber Val ist erst fünfzehn, Mr. Nakamura, nicht …«
Nick unterbrach sich. Val hatte am 2. September Geburtstag gehabt, vor acht Tagen. Nick hatte es vergessen. Nakamura hatte recht, sein Sohn war inzwischen tatsächlich sechzehn. Gottverdammt. Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zusammen, und er räusperte sich. »Also ja, stimmt, ich habe ein Kind. Einen Sohn namens Val. Lebt bei seinem Großvater mütterlicherseits in Los Angeles.«
»Und Sie sind immer noch flashbacksüchtig, Mr. Bottom.« Diesmal gab es weder in der flachen Stimme noch in der ausdruckslosen Miene des Milliardärs ein Fragezeichen.
Es ist so weit.
»Nein, Mr. Nakamura, das stimmt nicht«, erwiderte Nick in festem Ton. »Ich war süchtig. Die Polizei hat mich zu Recht gefeuert. In dem Jahr nach Daras Tod war ich total am Ende. Und auch als meine Detektei ein Jahr nach meinem Abschied …, meinem Rauswurf aus der Truppe baden gegangen ist, habe ich die Droge noch zu oft genommen.«
Sato rekelte sich in seinem Anzug. Mr. Nakamura wartete mit starrer Haltung und ausdruckslosem Gesicht.
»Aber inzwischen hab ich die eigentliche Abhängigkeit hinter mir.« Er breitete die Hände aus. Er war entschlossen, nicht zu betteln– schließlich hatte er noch sein Ass im Ärmel, den Grund, warum sie ihn engagieren mussten –, aber irgendwie war es ihm wichtig, dass sie ihm vertrauten. »Mr. Nakamura, Sie wissen doch bestimmt, dass heute laut Schätzungen ungefähr fünfundachtzig Prozent der Amerikaner Flashback nehmen, aber nicht alle sind süchtig, so wie ich es … kurze Zeit war. Viele benutzen das Zeug nur gelegentlich … zur Erholung … in Gesellschaft …, so wie man bei uns Wein oder in Japan Sake trinkt.«
»Wollen Sie ernsthaft andeuten, Mr. Bottom, dass man Flashback in Gesellschaft nehmen kann?«
Nick atmete durch. Die japanische Regierung hatte die Todesstrafe wiedereingeführt für all diejenigen, die mit Flash handelten, es benutzten oder auch nur besaßen. Sie fürchteten es genauso wie die Muslime. Auf dem Gebiet des Neuen Weltkalifats zog eine Verurteilung wegen Flashbackbesitzes durch ein Schariatribunal sogar die sofortige Enthauptung nach sich und wurde in aller Welt von einem der rund um die Uhr sendenden Al-Dschasira-Kanäle ausgestrahlt, deren Programm sich ausschließlich aus Steinigungen, Enthauptungen und anderen islamischen Bestrafungen zusammensetzte. Dieses Programm wurde im gesamten Kalifat im Nahen Osten, in Europa und in Asien, aber auch in amerikanischen Städten von Hadschis verfolgt. Nick wusste, dass selbst Nichtmuslime in Denver aus Spaß zuschauten. Auch er konnte an besonders schlimmen Abenden nicht widerstehen.
»Nein«, sagte Nick schließlich, »ich behaupte nicht, dass es eine soziale Droge ist. Ich wollte nur sagen, dass Flashback in Maßen nicht schädlicher ist als … Fernsehen zum Beispiel.«
Nakamuras graue Augen bohrten sich weiter in die seinen. »Mr. Bottom, Sie sind also nicht mehr flashbackabhängig wie in der Zeit unmittelbar nach dem tragischen Unfall Ihrer Frau? Wenn ich Ihnen den Auftrag erteilen würde, den Tod meines Sohnes zu untersuchen, würde Sie nicht das Bedürfnis ablenken, die Droge zur Erholung zu benutzen?«
»Das ist richtig, Mr. Nakamura.«
»Haben Sie die Droge in letzter Zeit genommen, Mr. Bottom?«
Nick zögerte keine Sekunde. »Nein, das habe ich nicht. Ich hatte keine Lust darauf.«
Mr. Sato zog ein Handy aus der Jackentasche, einen unauffälligen Chip aus poliertem Ebenholz, der kleiner war als Nicks National Identity Credit Card. Sato legte das Telefon auf die oberste Stufe des Tansu.
Sogleich verwandelten sich fünf dunkle Holzoberflächen in dem kargen Raum in Monitore. Das hochauflösende, aber nicht dreidimensionale Bild war klarer als der Blick durch ein vollkommen transparentes Fenster.
Aus verschiedenen Kamerawinkeln beobachteten Nick und die beiden Japaner einen Flashbacksüchtigen in seinem Auto, das sechs Kilometer entfernt in einer Seitenstraße gestanden hatte. Die Aufnahmen waren keine fünfundvierzig Minuten alt.
Gottverdammte Kacke, dachte Nick.
Dann liefen die Bilder.
Dan Simmons: „Flashback“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Karl Jünger ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 640 Seiten ∙ Preis des Taschenbuchs € 10,99 (im Shop)
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