21. Oktober 2019 2 Likes

Fake News als Orakel

Was uns Trump, die Impfgegner und die Opioid-Krise über unsere Zukunft verraten können – und was nicht

Lesezeit: 8 min.

Immer wieder wettere ich gegen den unsäglichen Aberglauben, dass es sich bei der Science-Fiction um prophetische Literatur oder Wahrsagerei handelt. Science-Fiction-Autoren können die Zukunft ebenso wenig vorhersagen wie Wahrsager – aus dem einfachen Grund, dass es (in Wirklichkeit) nun mal keine Wahrsager gibt. Weil erstens niemand die Zukunft kennt und sie sich zweitens durch unsere Handlungen ständig verändert. Nichtsdestotrotz hat die Science-Fiction auf zwei verschiedene Arten mit der Zukunft zu tun: Erstens kann sie als Warnung oder Inspiration dienen und damit die Handlungen der Menschen und der daraus resultierenden Zukunft beeinflussen. Zweitens – und das ist viel interessanter – fungiert die Science-Fiction quasi als Ouija-Brett, auf das sich der gesamtgesellschaftliche ideomotorische Impuls überträgt. Wenn Sie und Ihre Freunde die Hände auf den Zeiger legen und die Geister zu sich einladen, bewegt sich der Zeiger durch winzige, unbewusste Nervenimpulse so über das Brett, dass Botschaften entstehen. Diese Botschaften stammen natürlich nicht aus dem Jenseits, aber doch aus einem geheimnisvollen, unsichtbaren und schwer zu fassenden Reich: dem der unausgesprochenen Wünsche und Ängste, die Sie und Ihre Freunde hegen.

Auf genau dieselbe Weise reagiert auch die Science-Fiction auf die ideomotorischen Impulse unserer Gesellschaft. Zum einen schreibt ein Autor dieses Genres immer über die Zukunft, die er fürchtet oder sich erhofft. Diese Zukunft ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern bedient sich eines dem Verfasser (und dem Publikum) vertrauten Vokabulars aus futuristischen Elementen: Roboter, Netzwerke, künstliche Intelligenz, Raumschiffe und Überwachungsapparate. Jedes literarische Werk verträgt nur ein bestimmtes Maß an Exposition (obwohl man mir nachsagt, in dieser Hinsicht des Öfteren an die Grenzen zu gehen). Die imaginativen Höhenflüge eines fiktionalen Werkes werden also durch die Konventionen beschränkt, von denen der Autor annimmt, dass er sie mit seinem Publikum teilt.

Der Autor schreibt die Geschichten; die Lektoren entscheiden, welche dieser Geschichten veröffentlicht werden; die Leser wiederum entscheiden darüber, welche Geschichten es wert sind, gelesen und diskutiert und schließlich in das Vokabular möglicher – guter wie schlechter – Zukünfte aufgenommen zu werden. Dieser Prozess ist äußerst komplex und hängt stark vom Zufall ab (als da wären Glück, clevere Literaturagenten, PR-Coups, die wohlwollende Kritik eines prominenten Fürsprechers etc.). Unbestritten haben alle erfolgreichen SF-Werke jedoch eines gemeinsam: Sie regen die Fantasie des Lesers an. Entweder, indem sie unseren gegenwärtigen Ängsten vor oder unseren Hoffnungen auf die Zukunft Ausdruck verleihen. Ein Blick auf die Bestsellerlisten und Buchpreiskandidaten verrät noch mehr über die Zukunftsängste und -hoffnungen unserer Gesellschaft. Autoren, Leser, Lektoren, Literaturkritiker, Buchhändler und Rezensenten bilden ein System, das wie ein Orakel funktioniert – gewissermaßen ein soziales Ouija-Brett. Unsere Hand ruht auf dem Zeiger, und ihre Bewegungen enthüllen uns bisher ungeahnte Geheimnisse.

Und damit wären wir bei den Fake News. „Fake News“ ist ein mehr oder weniger nutzloser Ausdruck, der von Scherzen und Verschwörungstheorien über nicht zu widerlegende Aussagen bis hin zu Whistleblowing alles bezeichnen kann. Im Prinzip bedeutet es: „Ich habe im Internet etwas gelesen, was meiner Meinung widerspricht.“ Das Phänomen hat zumindest einen Nutzen: Die Verbreitung einer Scherznachricht, einer unwiderlegbaren Behauptung, einer Wahrheit unter dem Deckmantel der Lüge, einer Verschwörungstheorie oder eines anstößigen Gerüchts lässt zumindest zweifelsfrei darauf schließen, dass die Fantasie der Öffentlichkeit angeregt wurde. Fake News, die keiner glaubt, wurden vielleicht einfach nur nicht geschickt genug in Umlauf gebracht. Fake News, die ein Publikum finden, verraten uns eine ganze Menge über die Welt, in der wir leben und wie unsere Mitmenschen diese Welt betrachten.

Nehmen wir beispielsweise die Impfgegner. Diese Bewegung beruht auf zwei Grundannahmen. Erstens: Die Pharmakonzerne müssen keine Konkurrenz mehr fürchten. Zweitens: Ihre Vorstandsvorsitzenden und Entscheidungsträger passen bequem an einen einzigen Konferenztisch, von dem aus sie dann irgendwelche Verschwörungen planen. Außerdem glauben die Impfgegner, dass die Kontrollstellen, die der Branche auf die Finger schauen sollen, bei den großen, marktbeherrschenden Firmen gerne mal ein Auge zudrücken. Diese Kontrolleure stammen sowieso aus der Branche selbst und/oder werden nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst von ihr beschäftigt. Aus dem Arzneimittelzulassungsprozess – der eigentlich nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen sollte – ist eine Versteigerung geworden. Und dank der Unternehmenskonzentration gibt es nur wenige ernsthafte Mitbietende, die sich dann sowieso verschwören, um mithilfe der Regulierungsbehörden satte Gewinne einzustreichen. Das Argument der Impfgegner lautet also: „Die Pharmaindustrie ist korrupt und geht für Profit buchstäblich über Leichen. Sie macht sich im wahrsten Sinne des Mordes schuldig, und die Kontrolleure lassen sie davonkommen. Deshalb halten wir es für sehr unwahrscheinlich, dass auch die Impfstoffe unbedenklich sind.“

Die Unbedenklichkeit eines Impfstoffes festzustellen ist ein schwer durchschaubarer und sehr technischer Prozess, der sowohl die Kompetenz, Statistiken richtig zu deuten, als auch die Fähigkeit voraussetzt, wissenschaftliche von unwissenschaftlichen Beiträgen zu unterscheiden – von Kenntnissen in Mikrobiologie, Chemie und Epidemiologie ganz zu schweigen. In Wahrheit besitzen nur die Wenigsten von uns die Qualifikation, die Beweisgrundlage für so ziemlich alles, was wir für wahr halten, zu überprüfen. Deshalb beurteilen wir den Prozess, nach dem diese Beweisgrundlage von entsprechend qualifizierten Menschen beurteilt wird. In diesem Punkt haben die Impfgegner recht – aber selbstverständlich nicht, was die angebliche Schädlichkeit der Impfstoffe angeht. Da liegen sie zu einhundert Prozent falsch, und ich bin der Meinung, dass niemand sich und seinen Kindern die nötigen Impfungen vorenthalten sollte.

Trotzdem: Die Impfgegner haben nicht unrecht, was den Prozess angeht, wie das Beispiel der Opioid-Epidemie in den USA zeigt. Vor etwa zwanzig Jahren brachte Purdue Pharma ein neues Schmerzmittel auf den Markt. Oxycontin war angeblich völlig ungefährlich, seine Wirkung hielt unglaubliche zwölf Stunden an, und das alles ohne die Toleranzentwicklung, die anderen Opioiden zu eigen ist und den Konsumenten zwingt, immer höhere Dosen einzunehmen. Darüber hinaus behauptete der Pharmakonzern, dass das Suchtpotenzial von Opioiden stark überschätzt sei und zitierte einen recht kurzen Brief des am Boston University Medical Center tätigen Dr. Hershel Jick an das New England Journal of Medicine, in dem dieser behauptete, dass die Gabe von höheren Opioid-Dosen über einen längeren Zeitraum hinweg einer internen, nicht verifizierten Studie zufolge weniger schädlich sei als gedacht. Es waren die fünf folgenreichsten Sätze, die das Magazin je veröffentlichte. Purdue Pharma sorgte dafür, dass dieser sogenannte „Jick-Brief“ zu einer der meistzitierten Quellen in der Geschichte der Medizinforschung wurde. Mithilfe einer Reihe von Täuschungsmanövern – die allmählich im Zuge mehrerer Gerichtsverhandlungen ans Licht kommen – trat Purdue eine Opioid-Epidemie los, die bis dato über zweihunderttausend Amerikanern das Leben gekostet hat. Das sind mehr Opfer, als der Vietnamkrieg gefordert hat. Purdue hat damit einunddreißig Milliarden Dollar verdient, und die Familie Sackler, denen der Konzern gehört, ist heute reicher als die Rockefellers.

Wie konnte den Kontrollbehörden entgehen, dass hier etwas Schreckliches vor sich ging? Kleinstadtapotheken bestellten Millionen von Tabletten, die Toten stapelten sich auf den Straßen Amerikas. Die lediglich durch schlampig durchgeführte Studien gerechtfertigte Opioid-Krise konnte man nur übersehen, wenn man sich aktiv dazu entschied, in die andere Richtung zu blicken. Das wiederum ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass viele hochrangige Regulierungsbeamte in der Branche und vorzugsweise bei einem Opioid-Hersteller gearbeitet haben (oder anderweitig mit einem Opioid-Hersteller verbunden waren).

Wenn man vor zehn Jahren vom Arzt ein Rezept für Oxycontin verschrieben bekam, erhielt man außerdem den Hinweis, dass man sich wegen des Suchtpotentials keine Sorgen zu machen brauchte. Hätte man damals behauptet, dass das Blödsinn sei und eine skrupellose, über Leichen gehende Milliardärsfamilie die Behörde, die sie eigentlich überwachen sollte, auf ihre Seite gezogen hatte, man wäre wohl als „Opioid-Leugner“ bezeichnet worden.

Heute machen wir uns darüber Sorgen, dass längst überwunden geglaubte Krankheiten durch die Impfgegner wieder epidemisch werden könnten. Morgen könnten die Impfgegner als erstes Symptom des verlorenen Vertrauens in unsere kollektive Fähigkeit zur Wahrheitsfindung gelten.

Für uns sind Fake News so etwas wie eine ansteckende Krankheit. Manche Personen haben eine wirre Weltsicht, und wenn man ihnen zu nahe kommt, springt diese Weltsicht auf einen selbst über. Seit es Impfungen gibt, gibt es auch Impfgegner. Sie waren – genau wie die Masern – immer latent vorhanden, doch plötzlich kam es nach Jahrzehnten zu einem Ausbruch. Weshalb? Manchen Theorien zufolge ist die Impfskepsis wieder virulent, weil wir vergessen haben, was für eine schreckliche Krankheit die Masern sind. Andere vermuten, dass die sozialen Medien die Impfskepsis verstärkt haben. Dabei gibt es nur wenige Impfgegner. Obwohl es großen Schaden anrichten kann, ist es ein Randphänomen. Aber wieso sind manche Menschen überhaupt empfänglich für derlei Botschaften?

Meiner Meinung nach sind sie von einer Welt traumatisiert, in der es viele Beweise dafür gibt, dass unseren Bemühungen, die Wahrheit zu finden, nicht vertrauenswürdig sind. Eine beunruhigende Vorstellung: Wenn die Wahrheit dem Meistbietenden gehört, steht uns eine Zukunft voller Chaos und Terror bevor, in der man weder dem Essen auf dem Teller, dem Dach über dem Kopf oder der Schule des eigenen Kindes trauen kann. Fake News sind also ein Instrument, mit dem man den Schweregrad dieses Traumas messen kann. Es zieht eine epistemologische Inkohärenz nach sich: das gerechtfertigte Misstrauen gegenüber einem Establishment, das unseren Planeten beinahe zerstört hat und uns immer noch einreden will, dass irgendwann alle davon profitieren, wenn die Reichen noch reicher werden.

Fake News zu bekämpfen – also falsche Aussagen durch wahre zu ersetzen – ist wie Feuerlöschen: notwendig, aber man kann nur reagieren, statt zu agieren. Das Traumamodell dagegen verrät uns, dass das Feuer immer weiterbrennen wird, solange wir das trockene Gestrüpp nicht entfernen, in dem es sich so leicht ausbreiten kann. Wenn wir die tiefsitzende Korruption, die unsere Gesellschaft aushöhlt, nicht beseitigen, wird das Feuer auch nicht verlöschen. Einfach gesagt: Wenn man Verschwörungstheorien die Glaubwürdigkeit nehmen will, muss man zuerst die Verschwörungen aufdecken und beenden.

Wir stecken mitten in einer hitzigen Diskussion über die Gründe und Ursachen der großen gesellschaftlichen Veränderungen unserer Zeit. Hat Trump den Trumpismus begründet oder hat der Trumpismus Trump hervorgebracht? Ich glaube, Letzteres ist der Fall. Trump ist einfach nicht schlau genug, um irgendetwas zu begründen. Trotzdem schien unsere Gesellschaft auf genau so jemanden gewartet zu haben: jemanden, der der inkohärenten Wut eine Stimme gibt. Trump ist der Zeiger auf dem Ouija-Brett, und die Wählerschaft ist der ideomotorische Impuls. Manipulation und Desinformation waren womöglich das Zünglein an der Waage, doch der Zeiger hätte sich niemals in diese Richtung bewegt, wenn der ideomotorische Impuls nicht auf seine Präsidentschaft gedrängt hätte.

 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog, seinen öffentlichen Auftritten und seinen Büchern hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Walkaway“ ist im Shop erhältlich. Im Mai diesen Jahres erschien bei Heyne seine Novelle „Wie man einen Toaster überlistet“ (im Shop).

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