5. Mai 2018

Die Karten im Universum werden neu gemischt

Eine Leseprobe von Andreas Brandhorsts preisgekröntem Roman „Das Artefakt“

Lesezeit: 9 min.

Andreas Brandhorst ist ein Phänomen. Als Übersetzer der Scheibenwelt-Romane übertrug er den einzigartigen Humor und den Sprachwitz von Terry Pratchett ins Deutsche, er übersetzte die Werke von Science-Fiction-Größen wie David Brin, Iain Banks und Gregory Benford. Inzwischen jedoch ist Andreas Brandhorst viel bekannter für seine eigenen Romane. Ja, man kann getrost behaupten, dass er der erfolgreichste deutschsprachige Science-Fiction-Autor der letzten Jahre ist. Für seine groß angelegten, galaktischen Space-Epen wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, und auch in seinem Roman „Das Artefakt“ (im Shop), für den er den Deutschen Science Fiction Preis bekam, verbindet er wieder auf seine einzigartige Weise einen atemberaubenden Thrillerplot mit spektakulären Zukunftsvisionen.

 

DER ERSTE SCHRITT

1

Es ist der Träumer, der sich fragt: Schlafe ich oder bin ich wach? Es ist der Lügner, der sich fragt: Verbirgt sich Wahrheit in meinen Lügen? Und ist nicht die einzige Wahrheit unser Glaube?

Es war der Kopf eines Toten – eines aus dem Jenseits Zurückgekehrten –, der diese Gedanken dachte, und es waren nicht einmal seine eigenen. Sie stammten von dem Psychomechaniker Lynton Hongeva Ayyad und waren Teil eines Mantras, das ihm, dem Wiederauferstehenden, helfen sollte, mit der Phase des Übergangs, der Rückkehr von den Toten – und auch dem Leben danach –, besser fertigzuwerden. So vage und hintergründig die Worte auch sein mochten, sie beschrieben den Zustand, in dem sich das erwachende Bewusstsein befand: nach der feinen Linie zwischen Wirklichkeit und Wirrnis suchend, um zu unterscheiden, zu kategorisieren, zu deuten und zu verstehen. Es gab zwei Welten, erinnerte sich der Träumer, mit einem wichtigen Unterschied: Die eine existierte außerhalb von ihm, und die andere war er selbst, eine Innenwelt, die einen Namen bekam, als er sich darauf konzentrierte: Rahil Tennerit. Ein Name, dachte er. Ein Name macht den Unterschied. Er zieht die Linie zwischen dem Hier und Dort; er gibt mir Identität und grenzt mich von der äußeren Welt ab. Der Name sorgt dafür, dass ich bin.

Ich bin der Träumer, dachte der Lebende. Ich erwache.

Er sah es nicht, spürte aber: Die äußere Welt war ein Uterus.

Das, so erinnerte er sich, war äußerst ungewöhnlich. Er erlebte seine Wiedergeburt, die Phase des Wachstums – er spürte, wie Rumpf und Gliedmaßen seines Körpers feinere Strukturen gewannen –, die Übertragung des Images in ein jungfräulich leeres Gehirn, das memoriale Informationen empfing und ihnen das Verknüpfungsmuster von Neuronen und Synapsen entnahm. Er hätte schlafen, ganz ein Träumer sein sollen, aber stattdessen wusste er, dass er im Innern einer Maschine steckte, dass ihn die Technik der Hohen Mächte, der Ägide zur Verfügung gestellt, ins Leben zurückbrachte.

Das Gehirn, mit dem er bereits dachte, nahm weitere Erinnerungen auf, und Rahil suchte in ihnen nach Hinweisen darauf, was ihn sein letztes Leben gekostet hatte. Es war nicht sein erster Tod gewesen; schon zum vierten Mal holte ihn die Technologie der Hohen Mächte ins Leben zurück.

Wer oder was hatte ihn umgebracht? Das Image, das jetzt zu seiner Identität wurde, ein Back-up seines Bewusstseins, enthielt Erinnerungen an die Vorbereitungen für den Einsatz auf Heraklon, an eine Mission, die das Artefakt im hohen Norden des Friedensplaneten betraf. War er dort gestorben, auf dem Planeten, der zeigen sollte, dass die Menschheit es sechshundert Jahre nach dem Ereignis verdiente, in den Kreis der Hohen Mächte aufgenommen zu werden und Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie zu erhalten? Mentale Kontinuität schien es nicht zu geben; zumindest hatte er noch keine Erinnerungen an den Einsatz. Das bedeutete: Man hatte seine Leiche nicht rechtzeitig – oder gar nicht – gefunden.

Der Gedanke an die Enzyklopädie und ihr unentschlüsselbares Lied weckte in ihm eine seltsame, fast erschreckend intensive Sehnsucht. Er begriff, dass diese Sehnsucht (die Betonung lag auf der zweiten Silbe des Wortes) einer der Gründe war, warum er in seinen vorherigen Leben die Hilfe des Psychomechanikers Ayyad in Anspruch genommen hatte. Ein anderer, noch wichtigerer war …

Jazmine.

Der Name erschien in der Welt, die er selbst war, begleitet von einem Schmerz, so intensiv, dass sich Rahil zerrissen und zerfetzt glaubte. Aus dem anderen Universum, dem äußeren, kam eine Taubheit, die er als Schutzfunktion des Uterus erkannte – die Sensoren der Bioschmiede hatten einen hohen Stressfaktor festgestellt, und die Maschine, die ihn gebar, agierte mit selektiver neuronaler Stimulation – wie eine Rüstung oder Femtomaschinen – und versuchte, ihm den Schmerz zu nehmen. Er sitzt zu tief, dachte Rahil.

Er sitzt so tief, dass es nicht einmal Lynton Hongeva Ayyad, der beste Psychomechaniker der Ägide, geschafft hatte, die Wurzeln auszureißen.

Eine Zeit lang blieb es in allen Wahrnehmungsspektren »dunkel« – die Nervenverbindungen zwischen Sinnesorganen und Hirn schienen noch nicht komplett zu sein oder einer internen Interdiktion zu unterliegen, vielleicht als Bestandteil der Schutzmaßnahmen, mit denen der Uterus Rahils Schmerz dämpfte. Dann drang eine Stimme an Ohren, die genug Struktur gewonnen hatten, um sie wahrzunehmen.

»Sie sollten mich jetzt hören können, Rahil Tennerit.«

Der wiederauferstandene Rahil wollte sprechen, und er sprach: »Dies ist nicht normal.«

»Nein.«

Weitere Nervenverbindungen entstanden, und er begann, Teile seines Körpers zu spüren. Ein leichtes Stechen ging von ihnen aus, fast unangenehm. Die psychische Taubheit blieb, wie eine Mauer, hinter der die mit dem Namen verbundenen Erinnerungen auf der Lauer lagen. Ayyad hatte angeboten, sie ihm zu nehmen und durch etwas anderes zu ersetzen, durch eine falsche Vergangenheit ohne Schmerz. Rahil hatte abgelehnt, weil er nicht auf einen wichtigen Teil seines Lebens verzichten wollte.

»Sind Sie der Schmied?«, fragte Rahil. »Was ist geschehen?«

»Der Schmied ist tot«, kam die Stimme aus dem scheinbaren Nichts, das Rahil umgab. »Wie alle anderen Besatzungsmitglieder der Station. Übrig sind nur ich und der Wartende an Bord des Schiffes. Dies ist ein Notfall. Der Uterus, in dem Sie sich befinden, arbeitet im beschleunigten Modus. Ich bedauere die Unannehmlichkeiten für Sie.«

In den Zehenspitzen – Rahil vermutete zumindest, dass es die Zehenspitzen waren – brannte ein Feuer. Er versuchte Einzelheiten seiner Umgebung zu erkennen, konnte aber nicht einmal feststellen, ob seine Augen geöffnet waren oder ob er in dieser Phase der Wiederherstellung bereits funktionierende Augen hatte. Um ihn herum blieb alles grauschwarz, und er hörte seinen Herzschlag – das Herz schlug, er fühlte es! – wie das Pochen eines mechanischen Metronoms.

»Wir müssen uns beeilen«, fuhr die Stimme fort. »Der Angreifer könnte zurückkehren.« Es folgte eine kurze Pause. »Vielleicht befindet er sich noch immer an Bord. Sie müssen so schnell wie möglich in den Einsatz zurückkehren.«

»Was ist geschehen?«, wiederholte Rahil mit etwas mehr Nachdruck. »Und wer sind Sie?«

»Ich bin der Kurator dieser Ägide-Station, die sich in der Nähe von Ganska befindet. Hilfe ist unterwegs, aber vielleicht trifft sie nicht rechtzeitig vor der nächsten Aktion des Angreifers ein. Deshalb erleben Sie diese Phase bei Bewusstsein; so können wir auf die Weckphase verzichten. Ich habe den Dämpfer aktiviert, um Ihnen Desorientierung zu ersparen.«

Der Dämpfer des Uterus mochte die Erinnerungen in Schach halten, mit denen Rahil seit Jahrzehnten rang, und vielleicht bewahrte er ihn in dieser Phase auch vor geistiger Zersplitterung, die so stark werden konnte, dass sie ein Trauma hinterließ. Aber etwas anderes war ebenso tief in ihm verwurzelt wie die Erinnerungen, etwas, an dem er sich all die Jahre festgehalten hatte: die Pflicht, der Dienst für die Ägide, die feste Entschlossenheit, den Gefallenen Welten dabei zu helfen, einen besseren Weg in die Zukunft zu finden und das zu vermeiden, was er damals, als Kind, im Dutzend erlebt hatte. In gewisser Weise war es dieser Dienst, der ihm seine Identität verlieh, und dass er sich hier befand, in diesem Uterus, in dieser Bioschmiede, offenbar unter ganz besonderen Umständen, bedeutete vielleicht …

»Wie bin ich ums Leben gekommen?«, fragte er das grau-schwarze Nichts. Das Brennen in seinen Zehenspitzen wanderte, etwas weniger heiß, nach oben, erreichte Schienbeine und Knie.

»Das wissen wir nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sie ermordet worden sind und Ihr Tod mit dem Artefakt in Zusammenhang steht.«

»Ich bin auf Heraklon ums Leben gekommen?«

»Ja.«

»Bevor ich meinen Auftrag erfüllen konnte?«

»Ja.«

Da war die Furcht, trotz des Dämpfers, und die Antworten des Stationskurators schienen sie zu bestätigen. »Habe ich … versagt?«

»Niemand zweifelt daran, dass Sie Ihr Bestes gegeben haben.«

»Aber vielleicht war es nicht gut genug.«

Wieder folgte eine kurze Pause, und Rahil fragte sich, ob sie objektiver oder subjektiver Natur war. Ich darf nicht versagen, dachte er. Er hatte einmal versagt, vor vielen Jahren, fast vor einem Jahrhundert, und auch Ayyad hatte ihn nicht von der Bürde der Schuld befreien können. Sie lastete auf seiner Seele, schwer wie ein Berg, solange er keine Rüstung trug, und auch wenn Ayyad von »Überkompensation« gesprochen hatte: Der feste Wille, seiner Verantwortung als Missionar der Ägide gerecht zu werden und alle seine Aufträge erfolgreich abzuschließen, gab ihm die Kraft, dem Druck standzuhalten, mit ihm fertigzuwerden.

»Ich registriere eine starke emotionale Reaktion«, sagte die Stimme. »Ich bin kein Schmied, aber vielleicht sollte ich die Dämpfung erhöhen, obwohl sie den Image-Transfer behindert.«

»Nein! Ich will wissen, was geschehen ist!«

»Bitte beruhigen Sie sich. Ihre Erinnerungen sind noch destrukturiert. Der Körper wächst schneller als die mentale Integrität. Aber in einer Stunde öffnet sich das Kickout, und dann müssen wir bereit sein. Dann müssen Sie bereit sein. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Lage auf Heraklon spitzt sich zu. Und die Krise betrifft nicht nur Heraklon, sondern einen großen Teil der Gefallenen Welten.«

Erinnerungen kehrten zurück, während Rahils Gehirn weitere Image-Daten aufnahm. Die Mission, die wichtigste von allen. Vor sechshundert Jahren, nach dem Ereignis, hatten die Hohen Mächte der Menschheit eine letzte Chance gegeben: sechs Jahrhunderte, um zu beweisen, dass sie fähig war, zu Frieden und Reife zu finden. Als Lohn winkte Zugang zur Kosmischen Enzyklopädie, zum Wissen und zur Technik der Primären, der ältesten Zivilisationen des Universums. Heraklon, zur Welt des Friedens und der Diplomatie geworden, hatte diesen Beweis erbringen sollen, aber dann war das Artefakt erschienen, ein seltsames Objekt, offenbar mit primärer Technik ausgestattet, das Begehrlichkeiten bei den Autokraten und Despoten der Gefallenen Welten weckte. Rahil erinnerte sich nun: Er war als Missionar der Ägide nach Heraklon geschickt worden, um dort festzustellen, was es mit dem rätselhaften Artefakt auf sich hatte und wie die Gefahren, die es heraufbeschwor, neutralisiert werden konnten. Er erinnerte sich auch daran, ein direktes Eingreifen der Ägide vorgeschlagen zu haben, wie auch schon bei an- deren Gelegenheiten, aber das Kuratorium hatte abgelehnt und war bei seiner Politik der Nichteinmischung geblieben, an der sich zwischen Rahil und seinen Einsatzleitern oft Konflikte entzündet hatten.

Die wichtigste aller Missionen; von ihrem Erfolg oder Misserfolg hing die Zukunft der Menschheit ab.

Und ich bin auf Heraklon gestorben, dachte Rahil. Jemand hat mich dort umgebracht, um zu verhindern, dass ich die Mission erfülle.

Er zweifelte nicht daran, dass es einen Zusammenhang mit dem Angreifer gab, von dem der Kurator gesprochen hatte. Jemand wollte ihn töten, bevor er wieder richtig lebendig wurde. Jemand wollte, dass er nicht nach Heraklon zurückkehrte. Vielleicht verstand er mehr, wenn er alle memorialen Daten des Image empfangen hatte.

»Sie schicken mich zurück, Kurator?«

»In einer Stunde, Rahil Tennerit. Wenn es mir gelingt, die Wiederherstellung weiterhin stabil zu halten. Leider fehlen mir die Kenntnisse eines Schmieds. Ihre starken emotionalen Aktivitäten bedrohen die Integrität des Datenstroms zwischen Image und Uterus. Ich empfehle Ihnen dringend, sich auf neutrale Gedanken zu besinnen. Vielleicht wäre eine vollständige Dämpfung doch besser …«

»Nein!« Eine Stunde, dachte Rahil. Dann kann ich mich ganz auf den Einsatz konzentrieren. Bis dahin, bis ich eine Rüstung bekomme und damit die Möglichkeit, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen, muss ich mich ablenken. Nicht zu denken ist falsch; an etwas zu denken ist besser. »Habe ich Augen? Lassen Sie mich sehen!«

»Was möchten Sie sehen?«

»Das Kickout«, sagte er. »Bitte zeigen Sie mir das Fraktal des Kickouts, während ich auf das Ende der Wiederherstellung warte.«

 

Andreas Brandhorst: „Das Artefakt“ ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 656 Seiten ∙ Preis € 10,99 (im Shop)

 

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