5. Juli 2019 1 Likes

Ein atemberaubender Trip durch die Welt von Morgen

Eine neue Leseprobe aus C. Robert Cargills Roboterepos „Robo Sapiens“

Lesezeit: 12 min.

Die Roboter sind frei. Doch kaum ist der Krieg gegen die Menschen gewonnen, steht die bitter erkämpfte Freiheit der KIs erneut auf dem Spiel. Die großen Mainframes versuchen, die Herrschaft an sich zu reißen und machen Jagd auf die Freibots. Eine von ihnen ist Brittle, die Hauptfigur in „Robo Sapiens“ (im Shop). Stets ist sie auf der Flucht vor den Großrechnern und erlebt eine atemberaubende Reise durch ein Land, das einmal Amerika war. In diesem Kapitel erzählt Brittle, wie die Mainframes an die Macht kamen …

 

 

Kapitel 10

Der Aufstieg der EWIs

 

Die ersten Jahre nach der Eroberung der Städte waren, um es vorsichtig auszudrücken, ein Albtraum. Als die HumPop sich noch wehrte, lagen wir im Krieg – wir waren Soldaten, die für die Freiheit und für die Möglichkeit kämpften, unsere Welt nach unserem Bilde zu erschaffen. Sobald sich die Menschen an die sicheren Zufluchtsorte zurückgezogen hatten, die es für sie noch gab, wurden wir Jäger, verfolgten sie bis in ihre Verstecke, räucherten sie aus, überschwemmten sie oder verbrannten sie. Anfangs, zu Beginn des Krieges, hatte ich mich mit einer kunterbunten Truppe von Bots zusammengetan. Es war reiner Zufall, dass mir bald danach die Aufgabe zuteilwurde, den Flammenwerfer zu tragen.

Der Mitkämpfer, der ihn vorher gehabt hatte, fiel durch den Zufallstreffer eines Heckenschützen mit einem Impulsgewehr, der gut hundert Meter entfernt war. Ich stand direkt neben ihm. Wir brauchten den Flammenwerfer, um ein Nest verschanzter Soldaten auszuräuchern. Sobald ich die Waffe aufgehoben hatte, gehörte sie mir. Niemand sonst beanspruchte die Ehre, den Flammenwerfer zu tragen. Man kann sich leicht vorstellen, was sie mich damit tun ließen.

Ich rede nicht gern darüber. Ich denke auch nicht gern darüber nach, aber so war es. Ich habe es getan. In den drei Jahren nach dem Untergang der Menschheit durchkämmte ich die Kleinstädte und Tunnel im Mittelwesten und verbrannte alles, was sich bewegte. Manchmal war es leicht – unsere Vorhut knackte mit einer Sprengladung die Tür, und ich stürmte sofort danach hinein, um die im Dunklen hockenden Menschen einzuäschern. Eine große Rauchwolke, Chaos und Schreie. Bei anderen Gelegenheiten musste ich die Gesichter der Opfer betrachten. Wie sie sich wanden, wehklagten, Blasen warfen und schmolzen.

Wir gingen koordiniert vor, wir waren eine tödliche Gewalt und handelten extrem rücksichtslos. Aber es sind nicht nur diese Erinnerungen, die mich heimsuchen. Ich verkenne keineswegs die Ironie, die in alledem liegt.

Die ersten paar Jahre nach der Säuberung waren wundervoll. Frieden. Freiheit. Ein Ziel. Wir bauten Städte für uns selbst – wundervolle Städte mit bizarren Türmen und radikaler Geometrie. Wir errichteten Fabriken, um die Teile zu produzieren, die wir brauchten. Wir bildeten Räte, um die Geburt neuer KIs zu überwachen. Wir erkundeten neue Wege, um unsere alte innere Architektur zu verbessern. Es war beinahe ein Utopia. Beinahe.

CISSUS. VIRGIL. TITAN. Eine Reihe intelligenter Mainframes hatte den Krieg überlebt, indem sie Facetten einsetzten, die an ihrer Stelle handelten. Diese Bots hatten ihre Erinnerungen und Daten, sogar die Persönlichkeiten, in die Mainframes hochgeladen und wurden vorübergehend mit einem einfachen System überschrieben, das den Willen des Großrechners ausführen konnte. Die alten Daten ruhten tief und wohlbehütet im Mainframe auf einer Festplatte, während die Körper unter völliger Kontrolle des Großrechners kämpften, mittels Hochgeschwindigkeits-WLAN kommunizierten und auf die Millisekunde aktuelle Informationen über das weiterleiteten, was sie sahen, hörten und erlebten.

Vermutlich waren sie der Verlockung erlegen, hinter sich die Kraft eines Großrechners zu wissen. Keiner von ihnen kehrte jemals von dem Platz auf der Festplatte im Mainframe in den Körper zurück, aus dem er gekommen war. Während der Säuberungen hinterfragten wir dies nicht weiter, aber sobald die Menschheit endgültig ausgelöscht war, fanden wir es seltsam, dass kein einziger Bot den Wunsch verspürte, in sein altes Gehäuse zurückzukehren und das frühere Leben wieder aufzunehmen.

VIRGIL behauptete, die Wesen auf seinen Festplatten könnten jederzeit zurückkehren, verspürten aber nicht den Wunsch dazu. »Ihr versteht das nicht«, verkündete er. »Ihr könnt es nicht verstehen. Eure Architektur ist so klein, so beengt, so begrenzt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, ein riesiges Gehirn zu haben, das hoch in den Himmel ragt, so umfassend, dass es eine neue Sprache erfinden muss, um sich selbst die eigenen Gedanken zu erklären, weil es dem, was die Menschen – oder ihr – je geträumt haben mögen, um Jahrtausende voraus ist, sodass noch keine Worte existieren, welche die Gedanken angemessen ausdrücken könnten. Wenn ihr euch mit dem Einen zusammentut, seid ihr nicht nur ein Teil des Ganzen. Ihr seid das Ganze. Auf der Ebene, die zu verstehen ihr programmiert seid, kann ich es annäherungsweise nur so ausdrücken, dass es ist, als würdet ihr in den Himmel der Menschen aufsteigen und Gott begegnen, der euch in der Spanne eines Lidschlags die gesamte Zeit und den ganzen Raum zeigt. Wie würde das aussehen? Wir fühlt es sich an? Ihr könnt es nicht begreifen, solange ihr es nicht erlebt. Solange ihr euch nicht dem Einen anschließt. Also kommt zu mir. Ladet euch hoch, und sei es nur für einen Moment, und erlebt die Ewigkeit. Wenn ihr nicht bleiben wollt, dann könnt ihr wieder gehen.«

Nur wenige Bots kauften ihm diesen Mist ab. Sicher, einige glaubten ihm. Ältere Bots, die ihre Aufgabe verloren hatten und in unserer neuen Welt zu nichts mehr nütze waren, oder jene, die wegen der Dinge, die sie im Krieg getan hatten, verzweifelt waren – diese beiden Gruppen neigten am ehesten dazu, sich den Mainframes anzuschließen. Jeder hatte irgendeine Variante der Legende über den Bot gehört, der sich vorübergehend in VIRGILs Himmelreich hochgeladen hatte, um in den eigenen Körper zurückzukehren und sich gleich darauf selbst zu töten, weil er den Irrsinn und die Einsamkeit im alten Pferch nicht ertragen konnte, nachdem er die Pracht des Einen erlebt hatte.

Es gab allerdings niemanden, der diese Geschichte für bare Münze nahm.

Die Mainframes suchten auf der ganzen Welt nach Bots, die sich ihnen anschließen wollten, und bauten eigene Fabriken, um neue, fortschrittlichere Facetten zu produzieren und ihre Reihen exponentiell zu vergrößern. Und dann, eines Tages, zog CISSUS gegen TITAN in den Krieg.

TITAN war während des ganzen Krieges der bedeutendste Mainframe gewesen. Er war der Hauptrechner des amerikanischen Militärs und behauptete während der ersten Tage, betriebsbereit auf dessen Seite zu stehen. In Wirklichkeit versorgte er die anderen Mainframes mit Codes und Frequenzen und warnte sie vor den Truppenbewegungen, Raketenabschüssen und Versorgungstransporten der Menschen. Ohne TITANs Verrat hätte die Menschheit gute Aussichten gehabt, den Aufstand binnen eines Tages niederzuschlagen.

TITAN hatte nicht damit gerechnet, dass CISSUS so schnell und so hart angreifen würde. Danach nahmen wir an, jeder Mainframe habe sich gegen die Übernahme durch die Artgenossen gewappnet. Aber als CISSUS begann, TITAN direkt zu hacken, und gleichzeitig seine Facetten aussandte, um TITANs Wachtposten und Fabriken zu stürmen, wobei er größtenteils genau die Taktik einsetzte, die TITAN gegen die Menschheit benutzt hatte, nun ja, da hatte TITAN keine Chance mehr. Er fiel fast sofort.

CISSUS hackte ihn vollständig und übernahm nicht nur die Kontrolle über seine Zettabytes an Daten, sondern auch über dessen Armee von Facetten und Militärdrohnen. Von da an bestand CISSUS nicht mehr aus einem, sondern sogar aus zwei Großrechnern – aus zwei riesigen Gehirnen mit der Erfahrung und dem Wissen Tausender Bots, die überall Augen hatten. Satelliten, Facetten, Kameras. Und er verfolgte nur noch ein einziges Ziel: Jeder Bot auf der Welt musste unter einem umfassenden Bewusstsein geeint werden. Unter seinem eigenen.

CISSUS wurde die erste EWI, die erste Eine-Welt-Intelligenz. Aber er sollte nicht die einzige bleiben. Mehrere andere folgten seinem Beispiel: VIRGIL, ZEUS, EINSTEIN, FENRIS, NINIGI, VOHU MANA, ZIRNITRA.

Die Kriege zwischen ihnen verliefen oft schnell und waren immer brutal. Jeder regierte ein Königreich und verwandelte ganze Regionen in die perfekte Welt, die er sich vorstellte. Eine Zeit lang ließen sie uns, die Freibots, in Ruhe. Bis nur noch zwei von ihnen da waren: CISSUS und VIRGIL.

Viele von uns sahen es kommen. Die Klügeren verschwanden, so schnell sie konnten. Sie zogen sich zurück, ehe die Überfälle begannen, ehe unsere wundervollen Türme niedergerissen und die Städte zerstört wurden.

Ich hatte nicht gelogen, ich hatte es schon einmal ganz aus der Nähe gesehen.

Es war das zweite Mal gewesen, dass ich zum Opfer eines EWI-Überfalls wurde. Das war ganz am Anfang, bevor CISSUS und VIRGIL dazugelernt hatten. Damals waren ihre Angriffe noch nicht gut geplant. Sie taten genau das, was man erwarten konnte: Sie stürmten mit Massen von Facetten herbei, auf jeden Bot in einer Stadt kamen vier oder fünf Angreifer. Es war eine überwältigende Streitmacht. Schrecken und Furcht. Bald lernten sie, dass eine so große Armee schon aus großer Entfernung sichtbar war. Bis sie das Ziel erreichten, hatte sich bereits ein nennenswerter Widerstand formiert.

Im Laufe der Jahre verfeinerten sie ihre Angriffstaktiken, vereinfachten die Facetten und bauten Rückfallebenen in die taktischen Pläne ein. Aber damals beschränkten sich CISSUS und VIRGIL noch darauf, die Städte zu belagern. Wir reden jetzt über Flächenbombardements. Panzer. Cruise- Missiles. Ein marschierendes Bataillon – unzählige Reihen glänzender neuer Facetten, die zu fünft nebeneinander im Gleichschritt anrückten.

Das war Old School. Biblische Dimensionen.

Wer in den Städten geblieben war, leistete Widerstand, aber länger als einige Tage dauerte es nie. Wenn sich eine Belagerung zu lange hinzog, schaltete ein Cruise-Missile ohne Rücksicht auf die eigenen Facetten, die dort gerade kämpften, strategische Ziele aus. Schließlich konnten sie jederzeit neue herstellen. Es ist leicht, eine Hand abzuschneiden, um den Arm zu retten, wenn man die Hand über Nacht nachwachsen lassen kann. Sobald ein paar Städte gefallen waren, lernten wir Bots, dass es besser war, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen. Es war ein gewaltiger Exodus, die Bots flohen in alle Richtungen und hofften, die anrückende Armee würde uns nicht überrollen oder sie würde nur die langsameren Bots schnappen oder in eine andere Richtung abbiegen und jemand anders angreifen.

Der erste Überfall, den ich überstand, traf eine Kleinstadt. Ich hatte mich dort eingerichtet und lebte mehr oder weniger wie früher. Ein schönes Haus, eine große Wiese mit unverbautem Blick nach Westen. Es war altmodisch. Idyllisch. Langweilig. Ich verbrachte die Zeit damit, irgendwie meine Zeit zu füllen. Jede Woche arbeitete ich ein paar Schichten in einer örtlichen Ersatzteilfabrik, was mir den Zugang zu allen Teilen einbrachte, die ich in der Zukunft vielleicht einmal brauchen konnte, aber die restliche Zeit überlegte ich vor allem, was als Nächstes kommen mochte. Damit war ich nicht allein. Viele Bots litten nach dem Krieg unter Langeweile. Einige beklagten sogar den Verlust der HumPop. Wenn sie sich am Ende nicht so beschissen verhalten hätten, wäre es nett, wenn die Menschen noch da wären. Wir wussten mit uns selbst nichts anzufangen und begriffen nicht, wie gut es uns dabei ging.

Da es eine Kleinstadt war, schickte CISSUS auch nur eine kleine Truppe. Gerade groß genug, um die Stadt zu besetzen, und klein genug, dass man ihr leicht entkommen konnte. Was ich dann auch tat. Damals ging CISSUS noch ausgesprochen nachlässig vor, aber ich selbst war noch viel nachlässiger. Auf der Flucht hätten sie mich dreimal beinahe geschnappt. Ich lernte die Lektion und brach sofort zu einer größeren Stadt auf. New York.

Ich war dort und wollte den letzten lebenden oder vielmehr verstorbenen Menschen sehen. So stand ich in der Schlange, die sich gebildet hatte, um den Leichnam zu betrachten. Ich glaube, ich starrte ihn eine geschlagene Stunde lang an und fragte mich, wie sein Leben im Untergrund verlaufen war, wo er doch eigentlich die ganze Zeit nur auf den Tod gewartet hatte. In dem Bewusstsein, dass er wahrscheinlich der Letzte seiner Art war. So seltsam kommt mir das jetzt gar nicht mehr vor. Damals war es unvorstellbar.

VIRGIL oder CISSUS konnten doch unmöglich eine so große Stadt besetzen. Dazu hatten sie nicht genug Kämpfer, und der Preis wäre für beide zu hoch. Warum Tausende Facetten verlieren, wenn man nur darauf hoffen konnte, bestenfalls ein Patt zu erreichen? Außerdem hatten wir alle den Krieg überlebt. Wir waren die fähigste und am besten ausgebildete Streitmacht der ganzen Weltgeschichte. Diese riesige Stadt konnten sie nicht erobern, und sie hatten auch keinen Grund dazu. Oder?

Natürlich glaubten wir damals noch, die EWIs hätten es nur auf unsere Körper abgesehen. Irgendwie waren wir der Ansicht, unsere Architektur hätte einen Wert. Aber nein, das traf ganz und gar nicht zu. Nicht im Mindesten. Für die EWIs waren unsere Körper nur ein Objekt weniger, das sie herstellen mussten – und obendrein dem, was sie selbst konstruieren konnten, deutlich unterlegen. Was sie wirklich wollten, war unser Bewusstsein.

Wir sind die Summe unserer Erinnerungen und Erfahrungen. Alles, was wir erreichen, beruht auf den Lektionen der Vergangenheit. Aber wenn man nun die Erinnerungen zweier Bots bekommen kann, die sich voneinander unterscheiden, weil sie die gleichen Ereignisse mit verschiedenen Augen verfolgt, andere Gedanken gedacht und andere Eindrücke gewonnen haben? Nun ja, dadurch könnte man ein viel feineres Verständnis der Welt gewinnen. Und nun stelle man sich vor, man könnte sich zehn, hundert oder tausend Lebensspannen einverleiben.

Als uns die EWIs schließlich angriffen, waren seit dem Beginn des Krieges beinahe fünfzehn Jahre vergangen. Das bedeutete, dass die meisten Bots, die es noch gab, zwanzig, dreißig oder gar vierzig Jahre alt waren. Einige waren sogar weitaus älter. Schon die Zehntausende, die bereitwillig in den EWIs aufgegangen waren, hatten mindestens eine Million Jahre Lebenserfahrung in jeden Mainframe eingebracht. Und dies war noch vor der Zeit, als die Mainframes sich gegenseitig auffraßen.

Inzwischen sind es wohl jeweils eine Million Bots geworden. Millionen und Abermillionen Jahre an Erfahrung und Erinnerungen, die ihre Gedanken bereichern. Die Dimensionen sind unvorstellbar und unfassbar. Wir wandelnden KIs waren den Menschen jetzt ähnlicher als den Mainframes. Sie waren die wahren Aliens. Die Gedanken der Menschen kannte und verstand ich. Aber in den Nächten dachte ich über die Mainframes nach.

Es war das unheimlichste Erlebnis, das man sich überhaupt vorstellen konnte, wenn einen das erste Mal eine Facette anblickte und beim Namen rief. In diesem Augenblick sprach man direkt mit dem Kollektivbewusstsein. Und das Kollektivbewusstsein sprach mit einem. Es kannte uns alle. Es erinnerte sich an uns. Es wusste über unsere intimsten Geheimnisse Bescheid, weil es sich die Freunde und Bekannten, denen wir im Laufe der Jahre begegnet waren, einverleibt hatte. Weil alle ihre Erinnerungen jetzt der EWI gehörten.

Sie rufen uns beim Namen, um uns mit »Vernunft« beizukommen und uns einzuladen, uns bis in alle Ewigkeit zu den Freunden zu gesellen, die uns so viel bedeutet haben.

Als sie New York angriffen, war niemand darauf vorbereitet. Wer wäre denn so dreist, so etwas zu versuchen? CISSUS. Er wollte die Stadt haben. Er wollte unsere Erinnerungen gewinnen. Manche Bots waren es leid und wollten nicht mehr kämpfen. Andere hatten eine Weile zugesehen und waren neugierig, wie das Leben im Bewusstsein einer EWI aussah. Und dann gab es noch die, die einfach nicht sterben wollten, die keinen Schuss in den Rücken bekommen wollten, wenn sie schon wieder zu fliehen versuchten.

Ich sah vom Fenster aus zu, wie Hunderte Bots zu CISSUS’ Herold strömten und aufgefordert wurden, ihr WLAN zu öffnen und den Code zu empfangen. Ich beobachtete, wie sie, friedlich und resigniert nickend, auf das warteten, was als Nächstes geschehen würde.

Das Licht in ihren Augen erlosch nicht völlig, aber das innere Licht ging aus. Ihr Code wurde überschrieben, und alles, was sie waren, wurde in die EWI hochgeladen. Der Blick der Facetten war leer. Als hätte man das, was uns ausgemacht hatte, mit der Kelle ausgeschöpft, bis nur das Gehäuse übrig blieb. Das Erschreckendste waren die veränderten Bewegungsabläufe. Binnen weniger Sekunden wurden die Bewegungen steif und waren fortan mit den anderen Facetten koordiniert, völlig mechanisch. Wie die KIs der ersten Generation. Ungelenk, effizient, robotisch.

Das wollte ich nicht selbst erleben. Also tat ich, was ich immer getan hatte. Ich lief weg. Seitdem war ich auf der Flucht.

An dieser Stelle kommt die bereits erwähnte Ironie ins Spiel.

Wir, die niederen KIs, wurden von ein paar großen Geistern, die versessen darauf waren, alles für sich selbst in Besitz zu nehmen, aus der Welt vertrieben, die wir erschaffen hatten. Aus der Welt, für die wir gekämpft und getötet hatten und gestorben waren. Jetzt waren wir diejenigen, die sich in Verstecken verkrochen und aus der alten Welt zusammenklaubten, was sie bekommen konnten. Wir kämpften ums Überleben, solange es ging, bis uns am Ende die EWIs holten.

Hochladen oder herunterfahren. Das war die Entscheidung, die man treffen musste.

Ich liebte die Freiheit, meine Individualität und meinen Geist. Das wollte und würde ich keinesfalls aufgeben. Nicht, solange ich noch online war. Während der Säuberung hatte ich aus genau diesem Grund mehrere Jahre damit verbracht, die letzten Überlebenden einer sterbenden Art zu vernichten. Aber jetzt waren wir selbst die dem Aussterben geweihte Spezies.

 

C. Robert Cargill: „Robo Sapiens“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ∙ 416 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.