21. November 2014 3 Likes 1

Fortschrittliche Flachwelt

Warum Terry Pratchetts Scheibenwelt-Fantasy auch SF-Leser begeistert

Lesezeit: 4 min.

Gerade ist der 40. Roman aus Sir Terry Pratchetts Scheibenwelt-Serie auf Deutsch erschienen. In „Toller Dampf voraus“ (Orig.: „Raising Steam“) bekommen die Scheibenwelt-Metropole Ankh-Morpork und andere Orte auf der außergewöhnlichen Flachwelt, die ungeachtet ihrer Form ein vorzüglicher Spiegel unserer Rundwelt ist, eine Eisenbahn – die Discworld des englischen Bestseller-Autors betritt also offiziell das Dampfzeitalter. Viele sind begeistert von den Zügen und den angekoppelten Möglichkeiten, aber ein paar reaktionären Zwergen-Hardlinern explodiert bei so viel Neuzeitlichkeit und Fortschritt nun endgültig der Kessel…

Mittendrin im aufgeregten, dampfenden Getümmel ist einmal mehr der durchtriebene Ex-Gauner Feucht von Lipwig, der sich in vorausgegangenen Büchern bereits um die Revolution von Bankwesen, Münzamt und Post des Stadtstaates Ankh-Morpork gekümmert hat und überdies mit Adora Belle Liebherz verheiratet ist, der Königin des Klacker-Kommunikationssystems, dessen Siegeszug vor einer Weile dem der Schienenbahn vorausging. Dazu gibt’s die obligatorischen Gastauftritte der Stadtwache, der Zauberer der Unsichtbaren Universität, des Tods und anderer lieb gewonnener Charaktere; und Patrizier Lord Vetinari, der sagenhaft moderne und geschmeidige Tyrann Ankh-Morporks, und Paul König, der cleverste Unternehmer der absolut aromatischen Großstadt, erhalten ebenfalls erfreulich viel Redezeit.

Obendrein ist der neueste Roman von der Scheibenwelt ein tolles Beispiel dafür, wieso die Bücher von Pterry – wie er von seinen Fans gerne genannt wird – trotz ihres eindeutigen Fantasy-Charakters und ihres unbestreitbar genretypischen Figuren-Ensembles aus Zauberern, Zwergen, Trollen, Golems, Goblins, Gnomen, Vampiren, Zombies, Igors und dergleichen mehr zugleich ein Fest für Science-Fiction-Fans sind.

Im Grunde ist es kinderleicht, die Scheibenweltromane als Science Fiction zu deklarieren. Schließlich ruht die flache Scheibenwelt auf den Rücken von vier Welten-Elefanten, die wiederum auf dem zerkratzten, zerfurchten Panzer der gigantischen, zehntausend Meilen langen Sternenschildkröte Groß A’Tuin stehen, die sich gemächlich durchs Universum bewegt und gelegentlich nach Meteoriten schnappt, um die Scheibenwelt vor größeren Einschlägen aus dem All zu bewahren.

Doch das SF-klassifizierende KO-Argument Sternenschildkröte muss gar nicht bemüht werden, wenn aktuell ein mustergültiger Roman wie „Toller Dampf voraus“ als Discworld-Neuerscheinung vorliegt. Denn die Geschichte um den ersten Eisenbahn-Boom der Scheibenwelt, die Terry Pratchett wieder einmal mit viel Weisheit und noch mehr Wissen über die Natur und das Wesen des Menschen angereichert hat, steht exemplarisch für eine Verschmelzung von Kernthemen, die der Brite mit der Vorliebe für Schlapphüte seit 1983 ebenso humorvoll wie geistreich betreibt:

Veränderung und Fortschritt.

So gut wie alle Romane über die flache magische Welt, die sich nicht dreht, aber trotzdem niemals stillsteht, befassen sich mit sozialem, kulturellem und/oder technologischem Wandel und damit, wie die Bewohner der Scheibenwelt mit den vielfältigen Veränderungen umgehen. Ob das Konzept von Versicherungen oder ein Mädchen an der chauvinistischen Unsichtbaren Universität, die nächste Generation ländlicher Hexen zwischen Tradition und Moderne, die Frage nach der Anerkennung von Golems und Goblins als Bürger, oder die neueste sensationelle Erfindung im wuchernden, wimmelnden, wuselnden Melting Pot Ankh-Morpork – die Scheibenwelt macht seit 1983 unaufhörlich einen Schritt in die Zukunft nach dem anderen, und damit muss sich jeder unabhängig von Herkunft, Stand, Kontostand und Pegel auf seine Weise befassen. Tja, und ein oder zwei Bücher später sind Golems als Landschaftsgärtner statt als ausgebeutete Arbeitsknechte, Freundschaft anstelle von Feindschaft zwischen jungen Trollen und Zwergen oder die Morgenzeitung und die Klacker-Telegramme völlig normal und der neue Standard, der neue Status quo – bis zum nächsten Schritt, zur nächsten Veränderung …

Und klingt das nicht nach den Erkennungsmerkmalen der besten Science-Fiction überhaupt? Nach fiktiven Geschichten, in denen fremde Welten, Wesen und Zeiten die metaphorische Verpackung für eine entwaffnend kluge und sympathische Betrachtung unserer Position zum permanenten Wandel der Welt und unserer Reaktion auf rasanten Fortschritt und unaufhaltsame Veränderungen sind?

Genau diese Betrachtung stellt Terry Pratchett in seinen gut geschrieben Romanen von der Scheibenwelt seit mehr als drei Jahrzehnten an – humorvoll, liebenswert, schrullig, menschlich und blitzgescheit. Das ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, unter welch schwierigen und bitteren Bedingungen Pratchett, der seit einigen Jahren an einer seltenen, früh einsetzenden Form von Alzheimer leidet, seine Romane Gestalt annehmen lässt. So muss der heute 66-jährige Chef-Metaphoriker, der weltweit 75 Mio. Bücher verkauft hat, seine Geschichten mittlerweile z. B. diktieren, da er die Fähigkeit des Tippens eingebüßt hat (es hat leider seine Gründe, wieso sich Sir Terry immer wieder für Sterbehilfe ausspricht). Nichtsdestotrotz erkundet Pratchett, so unaufhaltsam wie der Fortschritt in allen Bereichen des Lebens selbst, in seinen Scheibenwelt-Romanen weiterhin die Psyche und die Seele der „Leute“, die mit dem Neuen und dem Morgen konfrontiert werden.

Dass das Neue selbst für treue, routinierte Scheibenwelt-Touristen nicht ohne Hürden ist, beweist die Hexenjagd im Internet, die 2010 mit dem Amtsantritt der beiden neuen Übersetzer begonnen hat und die dazu führt, dass seither jeder neue Pratchett bei den einschlägigen Online-Portalen eine schauderhafte Gesamt-Bewertung reingewürgt kriegt. Dabei könnte man auf die neue Covergestaltung viel besser eindreschen als auf die neuen Eindeutschungen, die ohne Frage anders sind als unter dem langjährigen Scheibenwelt-Übersetzer Andreas Brandhorst, den Genuss auf Deutsch jedoch keineswegs schmälern – die Bücher haben nach wie vor den unverkennbaren Pratchett-Sound und Scheibenwelt-Charme.

Aber zurück zur Frage: Scheibenwelt – Science Fiction?

Zeit für ein Geständnis. Letztlich geht es hier überhaupt nicht darum, den Scheibenwelt-Romanen von Sir Terry wirklich mit aller Entschlossenheit irgendein Etikett anzuhängen, sondern darum, möglichst viele Leute dazu zu kriegen, die Bücher zu lesen.

Terry Pratchetts Romane sind, was sie sind – großartige literarische Werke, die einfach von jedem gelesen werden sollten, egal ob als Science Fiction, Fantasy oder sonst was.

Foto © Christian Thiel

Terry Pratchett: Toller Dampf voraus • Manhattan, München 2014  • 448 Seiten • € 17,99

Kommentare

Bild des Benutzers Horusauge

Herr Endres, ich bin voll und ganz ihrer Meinung! Lest Pratchett und taucht ein in eine fantastische Welt mit vielen liebenswerten Charakteren.

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