30. Juni 2018 1 Likes

Geschmolzene Arktis

Eine neue Leseprobe aus Kim Stanley Robinsons Meisterwerk „New York 2140“

Lesezeit: 15 min.

Diejenigen von Ihnen, die im vergangenen Jahr die wunderbare Lesung von Kim Stanley Robinson in Berlin besuchten, werden sich vielleicht an diese Passage aus seinem Klima-Epos „New York 2140“ (im Shop) erinnern. Alle anderen können hier erstmals erfahren, wie es überhaupt zu der weltverändernden Katastrophe kommen konnte, von der uns Kim Stanley Robinson erzählt.

 

DER BÜRGER

Die Erste Welle wurde nicht etwa von einer ganzen Generation von Zwergenhirnen ignoriert – das ist ein Mythos. Obwohl ihm, wie den meisten Mythen, ein wahrer Kern innewohnt, der allerdings im Laufe der Jahre überbewertet wurde. Die schnöde Wahrheit ist, dass die Erste Welle ein gewaltiger Schock war. Wie hätte es auch anders sein sollen, wenn der Meeresspiegel innerhalb von zehn Jahren um drei Meter ansteigt? Allein das genügte, um fast überall die Küstenverläufe durcheinanderzubringen und allen wichtigen Häfen auf der Erde ernsthafte Probleme zu bereiten. Verkehr heißt Handel: Millionen von Containern waren an Bord von dieselgetriebenen Schiffen und Trucks durch die Gegend gekarrt worden, und darin hatten sich all die Dinge befunden, die sich die Leute wünschten und die man für den Konsum auf einem Kontinent auf einem anderen hergestellt hatte, immer dem Gesetz der höchsten Profitrate gehorchend – die einzige Regel, der man damals eisern gefolgt war. Und so hatte eben diese Nichtbeachtung der Konsequenzen des Kohlendioxidausstoßes das arktische Eis entfesselt und damit den Anstieg des Meeresspiegels verursacht, der den weltweiten Warenverkehr lahmlegte und zu einer wirtschaftlichen Depression führte, die den Menschen jener Generation noch mehr zusetzte als die gleichzeitige Flüchtlingskrise, die man auf einer damals beliebten Skala mit fünfzig Katrinas bewertete. Ziemlich übel, aber die grundlegende Störung des Welthandels war schlimmer, jedenfalls soweit es das Geschäftliche betraf. Die Erste Welle war also eine Katastrophe ersten Ranges, die die Leute aufschreckte und sie dazu veranlasste, ihr Verhalten zu ändern – klar. Nach der Ersten Welle hörten die Menschen viel schneller mit dem Verbrennen von Kohlenstoff auf, als man es vorher für möglich gehalten hatte. Sie schlossen das Scheunentor, als die Pferde draußen waren. Die vier Reiter der Apokalypse genau genommen.

Zu spät natürlich. Die globale Erwärmung, die vor der Ersten Welle initiiert worden war, war bereits voll im Gange und durch nichts, was sich nun noch tun ließ, zu stoppen. Obwohl die Leute damals also »alles änderten« und dem Kohlenstoff so schnell entsagten, wie sie es fünfzig Jahre eher hätten tun sollen, wurden sie dennoch wie Heuschrecken in der Pfanne gebraten. Selbst als sie in den 2060er-Jahren begleitet von allgemeiner Begeisterung beziehungsweise von Heulen und Zähneknirschen einige Milliarden Tonnen Schwefeldioxid in die Atmosphäre pumpten, um einen Vulkanausbruch zu imitieren und so einen Gutteil des Sonnenlichts, das die Erde erreichte, zu reflektieren, was die Temperaturen für ein bis zwei Jahrzehnte absenkte, genügte das nicht, um die Erwärmung insgesamt aufzuhalten, weil die Hitze bereits tief in die Meere eingedrungen war und so schnell nicht wieder von dort verschwinden sollte. Wie sehr die Menschen auch im Glauben an ihre gottgleichen Kräfte am globalen Thermostat herumspielten – sie waren eben doch keine Götter.

Es war die Erhitzung der Meere, die die Erste Welle in Gang setzte und später auch die Zweite auslöste. Zuweilen wird behauptet, niemand habe das vorhergesehen, aber auch das stimmt nicht – man hat es sehr wohl vorhergesehen. Als sich die Paläoklimatologen mit der Lage befassten und sahen, dass das CO2-Level in weniger als dreihundert Jahren von 280 auf 450 parts per million hochgejagt war, schneller, als es in den fünf Milliarden Jahren zuvor auf der Erde geschehen war (kann ich hier ein »Anthropozän« von der Klasse hören?), suchten sie in den geologischen Aufzeichnungen nach Analogien für dieses beispiellose Ereignis und sagten dann: Puh! Heilige Scheiße! Sie sagten: Hört mal zu, Leute! Steigende Meeresspiegel! Während der Eemzeit, die wir uns genauer angesehen haben, war der Temperaturanstieg nur halb so hoch wie der von uns verursachte, und direkt danach stieg der Meeresspiegel dramatisch an. Es war, als würden sie Straßenschilder aufstellen mit der Aufschrift: Unser beispielloser CO2-Ausstoß wird unweigerlich einen gewaltigen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge haben! Sie veröffentlichten ihre Papiere und riefen und wedelten mit den Armen, und ein paar Science-Fiction-Autoren malten die künftigen Ereignisse in grellen Farben aus, während der Rest der Zivilisation den Planeten weitergrillte wie bei so einer Burning-Man-Nummer. Wirklich. So wenig lag diesen Armleuchtern an ihren Enkelkindern, und so wenig Glauben schenkten sie ihren Wissenschaftlern, obwohl sie, wenn sie auch nur den Anflug einer Erkältung verspürten, sofort zum nächstbesten Wissenschaftler (also zum Arzt) rannten.

Na gut, man kann sich eben nicht richtig vorstellen, von einer Katastrophe ereilt zu werden, bis es so weit ist. Dafür sind die Menschen einfach nicht mental ausgestattet. Andernfalls wäre man ständig vor Angst gelähmt, weil es ein paar Katastrophen gibt, an denen kein Weg vorbeiführt (nehmen wir nur mal den Tod). Deshalb hat dich die Evolution freundlicherweise mit einem blinden Fleck ausgestattet, mit der Unfähigkeit, sich zukünftiges Unglück in einer Art und Weise auszumalen, die einem wirklich glaubwürdig erscheint, sodass man weiter funktioniert, und mag es auch noch so sinnlos sein. Das ist eine Aporie, wie die Griechen und die Intellektuellen unter uns sagen würden, ein »Nicht-Sehen«. Na schön, fein. Es ist praktisch. Wenn es nicht gerade katastrophal blöd ist.

So taumelten die Menschen der 2060er blind durch die große Depression, die auf die Erste Welle folgte, und natürlich gab es in dieser Generation eine Gruppe von Leuten, diese gewissen ein Prozent, die ziemlich gut über die Runden kamen und die ganze Sache als Akt schöpferischer Zerstörung betrachteten. Das galt in ihren Augen für alles Schlimme, das nicht an sie heranreichte; letztlich mussten die Menschen eben nur die Zähne zusammenbeißen, den Grundgedanken der Austerität akzeptieren, was mehr Armut für die Armen bedeutete, und einen Polizeistaat mit viel Meinungsfreiheit und verrückten Lifestyles als Fassade für die eiserne Faust dahinter hinnehmen. Presto! Weiter geht’s im Programm! Die Menschheit ist zäh, die hält das aus!

Aber haltet bitte mal einen Moment lang inne – wobei diejenigen von euch, die so schnell wie möglich wissen wollen, wie es mit den drolligen Individuen in dieser Geschichte weitergeht, gerne zum nächsten Kapitel weiterblättern können (und ich sehe zu, dass alle weiteren Erklärtiraden, alle weiteren Infodumps in Rot gedruckt sein werden, damit ihr wisst, dass ihr sie überspringen könnt) – haltet inne, ihr aufgeschlosseneren, intellektuell flexibleren Leser, um kurz darüber nachzudenken, warum es überhaupt zur Ersten Welle gekommen ist. Kohlendioxid – das ist der hinreichend erforschte Treibhauseffekt – schließt die Hitze in der Atmosphäre ein; es füllt eine Lücke im Spektrum, durch die das reflektierte Sonnenlicht normalerweise ins All zurückgestrahlt wird, und wandelt dieses Licht stattdessen in Wärme um. Das ist in etwa so, als würde man an einem heißen Tag die Autofenster ganz hochkurbeln, anstatt sie zumindest einen Spalt weit offen zu lassen. Oder auch nicht, aber es kommt der Sache zumindest nahe genug, um sich ein Bild davon zu machen, falls ihr es noch nicht kapiert habt. Okay, die in der Atmosphäre gefangene Hitze wird auf einfachem, natürlichem Weg an die Ozeane weitergegeben und erwärmt das Meerwasser. Da dieses ständig zirkuliert, wird das erwärmte Oberflächenwasser früher oder später nach unten gedrückt. Nicht bis an den Grund, nicht einmal ansatzweise, aber trotzdem nach unten. Schon durch die Hitze dehnt sich das Meerwasser ein gutes Stück aus, was den Meeresspiegel steigen lässt, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass sich diese wärmeren Meeresströmungen überall verteilen, auch im Bereich der Antarktis, die wie ein großer Eiskuchen unten am Planeten haftet. Ein echt großer Eiskuchen – wenn man das ganze Eis dort schmelzen und in den Ozean kippen würde (in den es allerdings schon von ganz alleine läuft), dann würde der Meeresspiegel gegenüber dem Holozän um zweiundachtzig Meter ansteigen.

Allerdings hat man einiges zu tun, wenn man das ganze Eis der Antarktis schmelzen will, deshalb dauert das selbst im Anthropozän ziemlich lange. Aber alles antarktische Eis, das ins Meer abrutscht, treibt davon, sodass mehr Eis nachrutschen kann. Und im 21. Jahrhundert, genau wie in den drei Millionen Jahren davor, hat sich eine Menge antarktisches Eis auf Beckenrändern abgelagert – gigantische Täler, die in den Ozean hineinreichen. Eis bewegt sich bergab, so wie Wasser, nur langsamer. Wenn es allerdings auf einer flüssigen Wasserschicht gleitet (skimboardet?), ist es gar nicht mehr so langsam. Das Eis, das über die Meereskante hing, rutschte also nur deshalb nicht schnell ab, weil es ein auf Meereshöhe oder etwas tiefer mehr oder weniger fest verankertes Stützwerk aus Eis gab. Dieses Küsteneis lag direkt auf Grund und wurde durch sein eigenes gewaltiges Gewicht fixiert; es bildete also im Prinzip lange Dämme rund um die Antarktis, Dämme, die das Eis in den höherliegenden Becken einigermaßen hielten. Allerdings wurden diese Eisbarrieren wiederum in erster Linie von ihren Vorderkanten an Ort und Stelle gehalten, die vor der Küste auf dem Meeresgrund auflagen. Zwar drückte auch sie ihr gewaltiges Gewicht an den Boden, aber hinzukam, dass sie unter Wasser an Felsbänken festhingen, die sich wie der flache Rand einer Schüssel erhoben und durch die Bewegung des Eises in früheren Erdzeitaltern entstanden waren. Wissenschaftler nannten diese äußersten Ränder der Eisdämme die »Stützen des Stützwerks«. Ist das nicht ein großartiger Ausdruck?

Die Stützen des Stützwerks waren also an ihrem Platz, doch der Ausdruck lässt bereits ahnen, dass sie im Vergleich zu den von ihnen gehaltenen Eismassen nicht besonders groß waren, und sie waren auch nicht besonders gut platziert; sie lagen einfach in den Küstengewässern rund um die Antarktis, diesen kontinentgroßen Eiskuchen, diesen dreitausend Meter dicken Eiskuchen mit einem Durchmesser von 2400 Kilometern. Die Mathematikgenies unter euch können das ja mal durchrechnen; für die anderen ist der Anstieg des Meeresspiegels um zweiundachtzig Meter bereits die Antwort. Und was noch zu sagen ist: Diese sich rasch erwärmenden Meeresströmungen rund um den Pol drangen im Großen und Ganzen etwa ein bis zwei Kilometer weit nach unten vor, was – ihr habt es erraten – bedeutet, dass sie genau in jene Tiefe kamen, in der die Stützen des Stützwerks ruhten. Und Eis mag zwar auf dem Boden aufliegen und, wenn es schwer genug ist, sogar auf dem Grund seichter Gewässer, aber wenn Wasser darunter kommt, dann schwimmt es. Das ist bekannt. Ihr könnt dieses Phänomen bei eurem Cocktail überprüfen.

Die erste Stütze des Stützwerks, die wegfiel, befand sich an der Mündung des Cook-Gletschers, der das Wilkesland/Viktorialand-Becken in der Ostantarktis festhielt. Allein dieses Becken enthielt genug Eis, um den Meeresspiegel um dreieinhalb Meter ansteigen zu lassen, und obwohl nicht alles auf einmal abrutschte, ging es im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte schneller ab als erwartet, bis über die Hälfte davon auf dem Meer trieb und in den brühwarmen Tiefen schmolz.

Grönland spielte bei all dem übrigens eine nicht zu vernachlässigende Rolle; sein Eis schmolz ebenfalls mit zunehmender Geschwindigkeit. Die grönländische Eiskappe war eine Anomalie, ein Überbleibsel der riesigen Nordpoleiskappe aus der letzten großen Eiszeit, und ihre Lage so weit im Süden ließ sich nur dadurch erklären, dass sie ein Fossil war – dass sie eigentlich schon vor zehntausend Jahren hätte schmelzen sollen, wenn sie nicht in einer Badewanne aus Bergketten gelegen hätte, die sie mehr oder weniger stabil und gut gekühlt hielten. Aber das grönländische Oberflächeneis schmolz, und das Wasser lief durch Risse nach unten, wo es den Abgang der Gletscher durch die großen, rinnenartigen Täler beschleunigte, die die Bergkette an der Küste zu einer ziemlich löchrigen Badewanne machten. Die Folge war, dass auch hier die Gletscher schmolzen, und zwar etwa zur selben Zeit, zu der das Wilkesland/Viktorialand-Becken in den antarktischen Ozean rutschte. Die Schmelze in Grönland war der Grund dafür, dass die Karten mit den globalen Durchschnittstemperaturen in jenen Jahren – und sogar in den Jahrzehnten davor – zwar die Welt in einem wütenden Rot erstrahlen ließen, man aber einen kühlen blauen Fleck auf ihnen sah: nämlich das südöstliche Grönland. Was wohl die Abkühlung des Ozeans dort verursacht?, fragte man sich damals. Wie seltsam, sagte man – und verbrannte weiter Kohlenstoff.

Also: Die Erste Welle ging vor allem von Wilkesland/Viktorialand aus. Und von Grönland. Und von der Westantarktis, die einen nicht ganz so bedeutenden, aber folgenreichen Beitrag leistete, da ihre Becken größtenteils unterhalb des Meeresspiegels lagen, daher ihr Stützwerk schnell niederwalzten und dann auf dem von unten einströmenden Meerwasser emporstiegen und davontrieben. So viel Eis, das auseinanderbrach und ins Meer rutschte! 2052 bis 2061, das waren die Jahre des größten Anstiegs, und mit einem Mal lag der Meeresspiegel drei Meter höher. O nein! Wie ist das nur möglich?

Weil sich die Geschwindigkeit, mit der sich etwas verändert, selbst verändert. Sagen wir, die Schmelzgeschwindigkeit verdoppelt sich alle zehn Jahre. Nach wie vielen Jahrzehnten ist man am Arsch? Viele sind es nicht. Es ist so ähnlich wie beim Zinseszins. Oder wie in dieser Geschichte von dem Großmogul, den man dazu überredete, einen Mann aus dem Volk, der ihm das Leben gerettet hatte, zu belohnen, indem er ihm erst ein Reiskorn und dann zwei gibt und dann die jeweils doppelte Menge für jedes Feld auf einem Schachbrett. Vermutlich hat ihm der Großwesir oder der oberste Astronom zu dieser Zahlungsweise geraten – oder der schlaue Mann aus dem Volk selbst –, und der mathematisch wenig begabte Mogul sagte: Klar, gutes Geschäft, wen interessieren schon ein paar Reiskörner? Und machte sich daran, die Bezahlung auf das Brett zu streuen, denn eine serbische Derwisch-Frau hatte ihm beigebracht, wie man Reiskörner zählte. Nach den ersten paar Reihen aber wird ihm klar, dass man ihn reingelegt hat, und er lässt den Wesir oder Astronom oder den Mann aus dem Volk köpfen. Vielleicht gleich alle drei, das wäre so richtig herrschaftlich. Die ein Prozent werden ganz schön garstig, wenn ihr Vermögen bedroht ist.

So war das also mit der Ersten Welle. Eine große Überraschung. Was mit der Zweiten Welle war, wollt ihr wissen? Fragt nicht. Es war noch mal das Gleiche, nur im doppelten Ausmaß, als in der zunehmenden Wärme und dem gestiegenen Meerwasser alles aus dem Leim ging. Vor allem gab das Stützwerk des Aurora-Beckens nach, und das Eis floss den Totten-Gletscher hinab. Das Aurora-Becken war noch größer als das Wilkesland/Viktorialand-Becken. Und schließlich, als der Meeresspiegel erst um viereinhalb und dann um sechs Meter stieg, lösten sich alle Stützen des Stützwerks rund um den antarktischen Kontinent und wurden ins Meer gedrückt, woraufhin sich die Schwerkraft das Eis in sämtlichen Becken der Ostantarktis und das Eis, das in der Westantarktis unterhalb des Meeresspiegels auf dem Boden auflag, vorknöpfte. Dieses ganze Eis schmolz schnell, sobald es im Wasser schwamm, aber selbst solange es noch als Eis dahintrieb, häufig in Form von Tafelbergen, die so groß wie ganze Länder waren, verdrängte es bereits so viel Meerwasser wie im geschmolzenen Zustand. Warum das so ist, kannst du gerne selbst ausknobeln, lieber Leser, und anschließend kannst du dann nackt aus deiner löchrigen Badewanne springen und »Heureka!« rufen.

Man sollte allerdings anmerken, dass die Zweite Welle viel schlimmere Auswirkungen hatte als die Erste, weil sich der Gesamtanstieg des Meeresspiegels nach ihr auf etwa fünfzehn Meter belief. Damit waren wirklich alle Küstenverläufe der Erde hinüber, was eine Flüchtlingskrise zur Folge hatte, die bei zehntausend Katrinas eingestuft wurde. Ein Achtel der Weltbevölkerung lebte in Küstennähe und war mehr oder weniger direkt betroffen, und das Gleiche galt für die Fischerei und die Aquakulturen, die ein Drittel der menschlichen Nahrungsversorgung ausmachten, sowie für die küstennahe Landwirtschaft (die vom Regen weggeschwemmt wurde) und den bereits erwähnten Transport auf dem Seeweg. Und da durch das Stocken des Warentransports auch der Welthandel in Mitleidenschaft gezogen wurde, war nun auch die Grundlage der brummenden neoliberalen Erfolgsgeschichte, die so wenigen so viel gebracht hatte, ein Scherbenhaufen. Noch nie zuvor hatten so wenige so vielen so viel angetan!

All das ging sehr schnell und spielte sich in den letzten Jahren des 21. Jahrhunderts ab. Es war apokalyptisch, es war armageddonisch – sucht euch euer Lieblingswort aus. Anthropogen käme auch in Frage. »Anthropogenes Massenaussterben« war ein häufig verwendeter Begriff. Das Ende eines Zeitalters. Geologisch gesprochen war es vielleicht eher das Ende einer Ära, einer Periode, einer Epoche oder eines Äons, aber das lässt sich erst sagen, wenn es wirklich zu Ende ist, weshalb die verbreitete Wendung »Ende eines Zeitalters« etwa für die nächste Milliarde Jahre schon okay ist. Danach können wir die Bezeichnung ja entsprechend anpassen.

Aber hey! Jedes Ende ist auch ein Anfang! Schöpferische Zerstörung, wie? Einfach noch ein bisschen Polizeistaat und Austerität hinzugeben, sich ins Zeug legen, weitermachen. Den ganzen Schlamassel aufzuräumen ist doch eine tolle Investitionsmöglichkeit. Weiter, Baby, immer weiter! Nur nicht locker lassen!

Es stimmt, dass die abgesoffenen Küsten, nachdem man sie zuerst verlassen hatte, schnell wieder von verzweifelten Schrottsammlern, Hausbesetzern, Fischern und dergleichen Leuten mehr besiedelt wurden, denen man lustige Namen gab, zum Beispiel »Wasserratten«. Es waren ziemlich viele, und man könnte sagen, dass etliche von ihnen durch ihre Erfahrungen radikalisiert wurden. Und auch wenn es erstmal keinen Strom, kein Wasser, kein Abwassersystem und keine Polizei mehr gab, war doch immer noch eine Menge Infrastruktur vorhanden, die entweder amphibisch in den neuen Flachwassergebieten stand oder in der Gezeitenzone regelmäßig überschwemmt wurde. Sofort – ein integraler Bestandteil der menschlichen Reaktion auf Tragödien und Katastrophen – kam es zu ausufernden Rechtsstreitigkeiten. In vielen davon ging es um den Status der überfluteten Gebiete, bei denen es sich jetzt buchstäblich und vielleicht auch technisch, also juristisch, um Küstengewässer handelte, sodass die Gesetze, die für sie galten und den Umgang mit ihnen regulierten, möglicherweise nicht mehr die gleichen waren wie früher, als diese Gebiete noch an Land gelegen hatten. Aber da der ganze Kram sowieso kaputt war, interessierte das die Leute in Denver nicht sonderlich. Und auch nicht die Leute in Beijing, die nach Hongkong und London und Washington D.C. und Sao Paulo und Tokio und so weiter blickten, an all diese Orte überall auf der Welt, und sagten: Meine Güte! Wie übel für euch, wir wünschen euch viel Glück! Und natürlich helfen wir euch, so gut wir können, vor allem hier daheim in China, aber auch anderswo, und das zu einem verringerten Zinssatz, wenn ihr also nur einfach hier unterschreiben würdet.

Und vielleicht waren diese Leute auch – so wie jenes eine Prozent, das Glück gehabt hatte – der Meinung, dass das eine oder andere soziale Experiment in den abgesoffenen Gebieten dem wütenden Pöbel die Gelegenheit geben würde, etwas Dampf abzulassen, gesellschaftlichen Dampf, der womöglich sogar zu brauchbaren Innovationen führen würde. Also lösten sie, in den unsterblichen Worten von Bertolt Brecht, »das Volk auf und wählten ein anderes«, das heißt sie zogen nach Denver und überließen es den Wasserratten, die Lage so gut es eben ging in den Griff zu bekommen. Ein Experiment in Sachen nasses Leben. Einfach mal abwarten, was diese Verrückten so anstellten, und wenn etwas Gutes dabei herauskam, würden sie es einfach kaufen. Wie immer, was? Ihr kühnen, mutigen, hippen und ganz und gar korrumpierten Avantgardisten kennt das doch längst, egal ob ihr meine Worte nun im Jahr 2144 oder 2312 oder 3333 oder 6666 lest.

Da sind wir nun also. Schwer zu glauben, aber das alles ist wirklich passiert. In den unsterblichen Worten von sonstwem: »Geschichte heißt einfach nur, dass eines nach dem anderen geschieht.« Es sei denn, Henry Ford hat das gesagt, dann streicht das bitte. Aber er war ja derjenige, der gesagt hat: »Geschichte ist Quatsch.« Und das ist ganz und gar nicht das Gleiche. Aber am besten ihr streicht beide dummen und zynischen Sprüche. Die Geschichte ist der Versuch der Menschheit, die Dinge in den Griff zu bekommen. Offenbar ist das nicht so einfach. Es könnte jedoch besser laufen, wenn ihr auf gewisse Details achten würdet: wie zum Beispiel euren Planeten.

Aber genug jetzt von diesem Ich-hab’s-euch-ja-gesagt! Zurück zu unseren furchtlosen Helden und Heldinnen!

 

Kim Stanley Robinson: „New York 2140“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 816 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.