„Holly“ von Stephen King
Der neue Roman um die unkonventionelle Detektivin aus „Mr. Mercedes“
Jeder hat ja so seine Lieblingswerke, wenn es um Stephen King (im Shop) geht. Ich zum Beispiel werde nie müde, die jüngeren Krimis des schreibenden Altmeisters aus Maine zu preisen, allen voran „Joyland“ (im Shop) und die „Bill Hodges“-Trilogie (im Shop). Letztere begann 2014 mit dem Band „Mr. Mercedes“, für den der 1947 geborene King völlig zurecht den Edgar Award der Mystery Writers of America erhielt, einen der wichtigsten Krimipreise der Welt. In diesem superben Roman widmete sich der Gigant der Gegenwartsliteratur dem pensionierten Polizisten Bill Hodges, einem wirklich wunderbaren Protagonisten für einen augenzwinkernden und doch klassischen Hardboiled-Krimi, im Kampf gegen das Böse.
Doch da war natürlich auch noch die 45-jährige Holly Gibney, eine von ihren psychischen Problemen, ihre Neurosen sowie ihrer nörglerischen Mutter geradezu erdrückte Frau. Trotz ihrer diversen Handicaps und Hürden wurde Holly, in der Filmgeschichte ebenso versiert wie mit technischen Gadgets, eine nützliche Helferin bei den Ermittlungen von Bill, und letztlich weit mehr als eine Nebenfigur. Die logische Konsequenz war, dass Holly auch in den spannenden Sequels „Finderlohn“ (im Shop) und „Mind Control“ (im Shop) auftauchte und sich von der anfänglichen labilen grauen Maus zur schrulligen Protagonistin mit mehr Selbstbewusstsein und Stabilität mauserte. Schnell stand außerdem fest, dass Stephen King spät in seiner Karriere eine neue Lieblingsfigur gefunden hatte.
Für die Fernsehserienadaption von „Mr. Mercedes“ wurde die atypische Detektivin verjüngt und von Justine Lupe verkörpert. Hollys literarische Reise ging unterdessen weiter, ja, die „Bill Hodges“-Trilogie mutierte rückwirkend irgendwie sogar viel mehr zu den Anfängen und einem Teil des „Holly Gibney“-Zyklus. Nach Bills Tod ging Hollys Gefecht mit der Finsternis im twilight-zone-mäßigen, king-typischen Horror-Roman „Der Outsider“ (im Shop) sowie in der titelgebenden Novelle der Sammlung „Blutige Nachrichten“ (im Shop) weiter. Nun liegt mit „Holly“ (im Shop), Titel und Einband verraten es schon, ein weiterer Roman um die Privatdetektivin vor, die nicht nur Stephen Kings Herz erobert hat. Diesmal muss Holly den Fall einer verschwundenen jungen Bibliothekarin untersuchen – und zwar im Jahr 2021, in einem durch Trump veränderten, gespaltenen Amerika, und ferner mitten während der Corona-Pandemie, als sich gerade die Delta-Variante ausbreitet.
Anders als Holly, wissen die Lesenden von Anfang an, gegen wen die Ermittlerin antritt und wer hinter den Entführungen steckt: Ein älteres Professoren-Ehepaar mit reichlich Serienkiller-Allüren, das seine Opfer in die Falle lockt, im Keller in einen Käfig einsperrt, mit roher Leber füttert und … nun, sagen wir einfach, einer der auf Ernährung spezialisierten Bösewichte hat schon länger den Spitznamen „Mr. Meat“ (und so, wie King den verwendet, wird man das Gefühl nicht los, dass er sich ein bisschen über seine älteren Horror-Werke bzw. das gesamte Genre amüsiert – wäre ja nicht das erste Mal). Die Geschichte der beiden gesundheitlich angeschlagenen Akademiker und Serienkiller, die auf einer eigenen Handlungsebene noch vor Corona einsetzt, sind für den über 600 Seiten starken Roman jedenfalls genauso präsent wie die Ermittlungsarbeit von Holly.
Kings neuster Krimi-Slowburner zwischen Hardboiled und Horror ist, wie zu erwarten, grundsolide und eine unterhaltsame Lektüre. Ab der Hälfte zeigt der mit vielen Ehren bedachte Erfolgsautor all sein Können und all seine Erfahrung, verwebt er die Stränge und Hinweise scheinbar mühelos. Wesentlich früher merkt man dagegen abermals, wie viel ihm Holly als Charakter bedeutet, aber auch, wie viel Spaß ihm seine etwas betagteren Figuren (nicht nur die Bösewichte!) machen, die King einmal mehr nutzt, um die Schrecken des Alterns bzw. des Alters in seinem Werk einzufangen. Obwohl diesmal sowohl in Wahnsinn als auch in Würde gealtert wird, je nachdem.
Der jugendliche Gegenpol zu diesem Teil des Ensembles entsteht über Jerome und Barbara Robinson aus den „Bill Hodges“-Ursprüngen von Hollys anwachsender Serie, die wieder mit von der Partie sind. Die ersten literarischen Schritte der Geschwister – Barbara z. B. trifft berühmte eine alte Dichterin, und plötzlich schmuggelt King sogar eigene Lyrik in den Roman – schließen dabei hübsch den Kreis zu „Finderlohn“, in dem die Welt der Literatur von zentraler Bedeutung war. Holly indes erfährt im Roman mit ihrem Namen auf dem Cover derweil nicht zum ersten Mal auf schmerzhafte Weise, dass Menschen, die uns nahe stehen, uns oft am meisten weh tun können. Hin und wieder selbst über ihren Tod hinaus.
Vor allem jedoch muss „Holly“ als ein Paradebeispiel dafür betrachtet werden, dass Stephen King einfach einer der wichtigsten literarischen Chronisten der amerikanischen Gegenwart ist, seine millionenfach verkauften Bücher wahre Zeitzeugnisse sind – womit keineswegs bloß die Anspielungen auf Sherlock Holmes, Indiana Jones, Veronica Mars, Star Wars oder Nancy Drew gemeint sind. Die Folgen der Ära Trump, die COVID-19-Pandemie, tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze, die Erstürmung des Kapitols, die Kluft zwischen politischen, ideologischen und sozialen Lagern – „Holly“ deckt eine schwierige Phase der Extreme, des Leids, der Verschärfung und der Düsternis in der modernen Geschichte der USA, der gesamten Menschheit ab.
Während Fans des Gespanns King/Holly von diesem sympathischen Detektivkrimi mit Horror-Serienkillern also ohnehin nicht enttäuscht werden, stellt der unangefochtene Titan der literarischen Unterhaltung kurz vor seinem 50. Dienstjahr als Romancier ein weiteres Mal unter Beweis, wieso er zu den größten und bedeutendsten Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts gehört, und dass er trotz aller übertriebener oder übernatürlicher Schrecken stets den echten Horror unserer Wirklichkeit einzufangen vermag.
Für 2024 steht eine neue Kurgeschichtensammlung vom Vielschreiber, Dauerbrenner und Bestsellerlisten-Herrscher an – und mit „We Think Not“ wohl gleich der nächste Holly-Gibney-Roman, den King im August gerade erst in einem Podcast angekündigt hat.
Stephen King: Holly • Roman • Aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt • Heyne, München 2023 • 640 Seiten • Erhältlich als Hardcover, eBook, Hörbuch MP3-CD und Hörbuch Download • Preis des Hardcover: € 28,00 • im Shop
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