„Little Brother“ von Cory Doctorow
Die Neuausgabe der ersten beiden preisgekrönten Romane und das neue Spin-off als deutschsprachige Erstausgabe bei Heyne
Ob es um die Freiheit unserer E-Books, die Entscheidungsgewalt über unseren Toaster oder die Unantastbarkeit unserer Daten sowie unserer Privatsphäre geht: Seit vielen Jahren sagt und schreibt Cory Doctorow (im Shop) in beeindruckender Regelmäßigkeit und Sachlichkeit unheimlich kluge Dinge über das Internet, elektronisches Urheberrecht, die Gefahren der Monopolisierung durch Konzerngiganten oder den Datenschutz (hier finden Sie seine absolut repräsentative Kolumne auf diezukunft.de).
Außerdem verfasst der 1971 geborene Kanadier, der lange in London lebte und mittlerweile mit seiner Familie im Großraum Los Angeles residiert, noch ausgesprochen aktuelle, starke und wichtige Science-Fiction. Allen voran seine „Little Brother“-Bücher (im Shop), die für mich und viele andere noch immer den Doctorow-Goldstandard verkörpern – und ungebrochen bedeutungsvolle Werke des Cypherpunk darstellen, also des Cyberpunk-Gedankenguts in der gegenwärtigen, echten Welt, bei dem Libertarismus und Datenschutz im Mittelpunkt stehen. Cory, der mich über die Jahre in jedem E-Mail-Wechsel und jedem Interview mit seinen durchdachten Antworten erreichte und überzeugte, schafft es in seinen SF-Geschichten zudem, unsere Gegenwart in technologischen, virtuellen, politischen und gesetzlichen Aspekten so glaubhaft zu extrapolieren, dass die Grenze zwischen akuter Realität und dystopischer Zukunft fortwährend verwischt.
Heimatschutz gegen Datenschutz
2008 erschien sein eben bereits erwähnter Roman „Little Brother – Aufstand“ (im Shop), für den er den John W. Campbell Memorial Award, den Prometheus Award und einige andere Preise erhielt. Kritik und Leserschaft waren begeistert, dasselbe galt für Kolleginnen und Kollegen, darunter Neil Gaiman, John Scalzi, Jo Walton und Brian K. Vaughan. Die Erstfassung zu seinem Buch, das Mr. Doctorow parallel zur Verlagsveröffentlichung unter der Creative Commons-Lizenz für alle frei verfügbar ins Netz stellte, entstand zwischen Mai und Juli 2007 in einem wütenden Schreibflash innerhalb von acht Wochen. Zu jener Zeit wurden nicht bloß im Namen des digitalen Cropyrights immer mehr Freiheiten und Grundrechte beschnitten, sondern desgleichen im so genannten Krieg gegen den Terror als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001. Oder wie Doctorow es seinerzeit ausdrückte: Die USA verloren ihren Verstand, und Großbritannien saß im selben Irrenhaus.
Und so erzählt er in seinem ursprünglichen „Little Brother“-Roman (auf Deutsch früher ohne Untertitel publiziert) die Geschichte des 17-jährigen Hackers und Gamers Marcus Yallow, der keine Probleme hat, die Überwachungsmaßnahmen seiner Schule auszuhebeln. Doch dann sind er und seine drei besten Freunde mitten in San Francisco unterwegs, als die kalifornische Metropole Ziel eines Terroranschlags wird, bei dem Tausende sterben. Marcus und seine Clique werden unmittelbar nach der Explosion vom Ministerium für Innere Sicherheit verhaftet, wegen ihrer Hacker-Ausrüstung wie Terroristen behandelt und tagelang auf einer Insel in der Bucht verhört und gefoltert. Als Marcus freigelassen wird, ist er traumatisiert und wütend. Darum verschafft er sich und Gleichgesinnten über ein gut verschlüsseltes Xbox-Game-Netzwerk verschiedene Möglichkeiten, um gegen die massive Dauerüberwachung der Menschen durch die Heimatschutzbehörde aufzubegehren. Der Hacker-Guerillakrieg junger Leute ist jedoch nicht ungefährlich, und die Propaganda hat es in sich. Zum Glück lernt Marcus mit Ange ein besonderes Mädchen kennen, das ihm beisteht …
„Little Brother – Aufstand“ machte damals großen Spaß und tut es fast 15 Jahre später noch immer. An Fachwissen, Brisanz und Relevanz hat dieser Roman, diese zeitgemäße Antwort auf George Orwells „1984“ und den darin geschilderten Big Brother-Wahnsinn (im Shop), sowieso nichts eingebüßt. Man denke nur an die NSA-Affäre um Whistleblower Edward Snowden im Sommer 2013, der passenderweise das Vorwort zur Neuausgabe geschrieben hat, was die Aktualität und Bedeutung von Marcus’ Story unterstreicht (und muss nur ich bei den neuen Covern an die 2019, 2020 gesehenen Proteste in den USA und in Hongkong denken?). „Little Brother – Aufstand“ war und ist nicht nur ein Buch für die Generation Proxy und die Generation Xbox (eines der Nachworte steuerte übrigens „Xbox-Hacker“ Bunnie Huang bei). Es zählt und gilt für die gesamte Generation Gerechtfertige Paranoia, die sich keineswegs durch ein Geburtsjahr definiert und zu der wir alle ein Stück weit gehören sollten, die wir im Hier und Jetzt leben und wählen, surfen, mailen und chatten oder irgendwelche Treuepunktekarten, Apps mit Standort-Marker und überhaupt smarte Gadgets benutzen.
Denkanstöße und praktische Tipps
Fünf Jahre später kam mit „Little Brother – Revolution“ (im Shop) die Fortsetzung des gefeierten Bestsellers heraus. Nach den Snowden-Leaks und angesichts der längst kritisch betrachteten Überpräsenz von Facebook, Google, Amazon und Co. war die Skepsis gegenüber Datenkraken und Überwachungsstaaten beständig weiter gewachsen. Der Fokus des 2013 noch als „Little Brother: Homeland“ veröffentlichten Sequels liegt erneut auf Marcus alias M1k3y, der diesmal in den Besitz von vier Gigabyte Daten mit hochexplosiven, schmutzigen Regierungsgeheimnissen der USA kommt. Ergo beginnt das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Departement of Homeland Security von Neuem. Doctorow verpackt „seine Themen“ wieder in einem sympathischen und spannenden Roman für alle Altersklassen, der als Fortsetzung genauso besteht wie als für sich zu genießendes Werk (und den Lesenden einmal mehr einige Denkanstöße und praktische Tipps mit auf den Weg gibt). Es ist freilich nahehzu unmöglich, ein Buch nicht zu mögen, in dem der Ich-Erzähler auf dem Burning Man-Festival inmitten eines Wüsten-Staubsturms in einer Jutehütte mit Wil Wheaton Dungeons & Dragons zockt. Davon abgesehen wird man nach der Lektüre des zweiten „Little Brother“-Bandes abermals das Gefühl nicht los, den Regierungen, Konzernen und Entitäten dieser Welt die eigenen Daten und die eigene Freiheit unbedarft auf dem Silbertablett zu servieren.
Ist es eigentlich realistisch, dass junge Hacker wie in den „Little Brother“-Geschichten so umsichtig handeln, ihren Gegnern aus Legislative und Exekutive am Ende stets die Stirn bieten können, ihnen den entscheidenden Schritt voraus sind, und trotz der unterschiedlichen Gewichtsklassen siegreich und moralisch standhaft aus dem Clash der Ideologien hervorgehen? Fraglos sind Doctorows junge Computer-Cracks und Hacker-Helden ziemlich firm und überlegen. Sie bekommen zwar zwischendurch ordentlich auf die Mütze, am Ende schlagen sie dem System dennoch meistens ein Schnippchen. Und das ist, jedenfalls für mich als Leser wie als Autor, vollkommen okay. Umso mehr, wenn wir uns vor Augen halten, dass die „Little Brother“-Romane ein ganzes Stück weit als Young-Adult-Literatur gedacht waren und sind, obwohl Doctorow alle Leserinnen und Leser mitreißt. So, wie seine Botschaft Tu etwas! an alle geht.
Die Romane um Marcus Yallows Kreuzzüge für Freiheit, Privatsphäre und Datenschutz, jetzt als „Little Brother – Aufstand“ und „Little Brother – Revolution“ neu abgepackt, sind noch immer coole Bücher, die nach wie vor jede Menge zu einigen sehr wichtigen Themen unserer hyperdigitalisierten, ultragläsernen Welt zu sagen haben. Schön, das sie nun erstmals in einheitlicher Aufmachung als Paperbacks und E-Books vorliegen. Und es wird noch besser, da bald „Little Brother – Sabotage“ (im Shop) als deutschsprachige Erstveröffentlichung zur Lektüre bereitsteht, bei dem es sich um den eigenständigen Spin-off-Roman „Attack Surface“ aus dem „Little Brother“-Universum handelt, der ab Ende Dezember, Anfang Januar endlich in Übersetzung verschlungen werden kann.
Immer, wenn ich eine Kurzgeschichte oder Novelle, einen Essay, eine Kolumne, einen Tweet-Thread, ein Vorwort, einen Blog-Eintrag oder einen Roman von Cory Doctorow lese, habe ich das Gefühl, neu sensibilisiert zu werden, was meine Rechte, meine Aufmerksamkeit und klar, meine Fehler und Versäumnisse angeht. Seine Texte sind wie ein Update für meine Achtsamkeit. Dabei hat es überhaupt nichts mit Querdenken, Verschwörungstheorien oder Aluhüten zu tun, wenn man in der heutigen Zeit eine gesunde Portion Skepsis an den Tag legt und darauf achtet, was für Konsequenzen das eigene Online-Verhalten oder die persönlichen Konsum-Gewohnheiten haben, wie Firmen, Medien und Parteien arbeiten oder was mit der Datenspur passiert, die wir überall hinterlassen. Es lohnt sich mehr denn je, Cory Doctorows „Little Brother“-Bücher zu lesen und sich daraufhin im bequemen Alltag hin und wieder ein paar unbequeme Gedanken zu machen.
Oder wie es im ersten Roman an einer Stelle heißt: Bleib frei. Bleib paranoid.
Cory Doctorow: Little Brother – Aufstand • Roman • Aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn • Heyne Verlag, München 2021 • 448 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop
Cory Doctorow: Little Brother – Revolution • Roman • Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka • Heyne Verlag, München 2021 • 448 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop
Cory Doctorow: Little Brother – Sabotage • Roman • Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski • Heyne Verlag, München 2022 • 576 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des E-Books: € 11,99 • im Shop
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