9. Juni 2016 3 Likes 5

„Ich will, dass meine Leser anfangen, nachzudenken“

Ein Gespräch mit „Metro 2035“-Autor und Journalist Dmitry Glukhovsky

Lesezeit: 21 min.

2002 veröffentlichte der damals sechsundzwanzigjährige Journalist Dmitry Glukhovsky sein Romandebüt Metro 2033 (im Shop) kapitelweise im Netz – und löste damit ein regelrechtes Phänomen aus. Die postapokalyptische Welt in den Moskauer U-Bahn-Tunneln, die zur Zufluchtsstätte für die Überlebenden einer Jahrzehnte zurückliegenden nuklearen Katastrophe geworden ist, begeisterte die stetig wachsende Fangemeinde im Netz. Schnell griffen andere Autoren Glukhovskys Idee auf und bevölkerten die U-Bahnen ihrer Heimatstädte mit Monstern und Helden. Das Metro-Universum (im Shop) ist heute längst über die Grenzen Russlands hinausgewachsen und hat auch das Medium Buch bereits hinter sich gelassen: nach zwei erfolgreichen Computerspielen ist auch eine Verfilmung im Gespräch. Glukhovsky selbst hat zwei Fortsetzungen geschrieben, Metro 2034 (im Shop) und Metro 2035 (im Shop), das im Mai 2016 auf Deutsch erschienen ist. Dem Abschluss der Saga um Artjom, der sich einmal mehr zu einer Reise durch die Metro aufmacht, um das, was von der Menschheit übrig ist, zu retten, sind die dreizehn Jahre seit Metro 2033 deutlich anzumerken. Metro 2035 ist Glukhovskys Reaktion auf die politischen Ereignisse in Russland in den letzten Jahren, wie sein Roman Futu.re (im Shop) auf die jüngsten Entwicklungen in Europa reagiert. Politik und Literatur zu trennen ist bei Glukhovsky nahezu unmöglich, selbst wenn es erst neun Uhr morgens ist und Autor und Interviewer sich beim Gespräch noch am Kaffee festhalten müssen, der in einer Hotelbar in München serviert wird.

 

Guten Morgen, Herr Glukhovsky. Sie sind – offensichtlich - gerade auf Reisen, um Ihren soeben erschienenen Roman Metro 2035 in Deutschland zu promoten, und nach allem, was ich gehört habe, reisen Sie ja generell viel. Wissen Sie, wo Sie sind?

Ich bin in München. (Lacht.) Ich kann mich allerdings an Zeiten als Reporter erinnern, in denen ich das nicht immer wusste.

Reisen Sie denn überhaupt noch zum Spaß?

Ich reise vor allem, um Eindrücke zu sammeln. Ich bin ein Reisejunkie und ununterbrochen unterwegs, seit ich zweiundzwanzig bin. Und mein ganzes Leben davor habe ich vom Reisen geträumt. Mein Großvater war als Chefredakteur für das sowjetische Satiremagazin KROKODIL oft auf Dienstreisen in der gesamten Sowjetunion unterwegs. Als Kind fand ich das beeindruckend, und ich hörte mit großen Augen seinen Geschichten zu und bestaunte die Sachen, die er mitgebracht hat. Er hat diese Leidenschaft – oder diese Krankheit, je nach dem – an mich vererbt. Inzwischen habe ich zwei Kinder, die mich sozusagen zwingen, so oft und so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Diese Zeit will ich auch voll ausschöpfen.

Das heißt, Sie schreiben nicht, wenn Sie zu Hause sind? Nur unterwegs?

Ich mache beides. Ich nehme mir jedes Mal vor, im Zug oder im Flugzeug zu arbeiten, damit ich zu Hause nicht mehr schreiben muss. Zumal ich dort dauernd abgelenkt werde. (Lacht.) Es ist echt schwierig. Je älter man wird und je mehr Verpflichtungen man hat, desto schwieriger wird es, zu schreiben. Man muss da neue Wege finden. Mit zwanzig war ich alleine und schrieb einfach, wann immer mir der Sinn danach stand. Ich musste mich nicht mal im Arbeitszimmer einschließen – niemand wollte etwas von mir! (Lacht.) Heute ist das anders. Ich muss allen ankündigen, dass ich mich wie ein Einsiedler zurückziehen, das WLAN abschalten und an keines meiner Handys gehen werde. Ich habe die Telefone auch schon im Auto eingeschlossen, damit ich ja nicht damit herumspiele. Wie gesagt, ist meine neueste Methode das Arbeiten im Flugzeug. Transatlantikflüge gehören zu meinen produktivsten Phasen. Gestern, im Zug von Berlin nach München, habe ich mit dem Skript für eine Graphic Novel angefangen, die ich gerade mit einem Künstler entwickle.

Davon habe ich schon gehört - Sie haben erste Bilder auf Ihrem vk.com-Profil gepostet.

Ja, es sind eigentlich zwei Graphic Novels: die eine so ein Noir-Ding, die andere eine Liebesgeschichte, sehr verträumt und im Miyazaki-Stil. Beide spielen in der Postapokalypse - offenbar kann ich nichts anderes. (Lacht.) Es werden mehr Bildbände als Graphic Novels werden, vollfarbig, 150 Seiten, großes Format. Etwas, in das man in seiner Freizeit abtauchen kann.

Und wie sieht es mit neuen Romanen aus?

Ich habe derzeit zwei größere Romanprojekte, an denen ich arbeite. Beide haben allerdings nichts mit Science-Fiction zu tun. Das eine ist ein kriminalistisches Drama, ein bisschen im Stile von Dostojewskij. Die zweite Idee ist eine Art introspektive Studie meiner eigenen Familiengeschichte. Wenn man zwischen dreißig und vierzig ist, beginnt man zu verstehen, dass das, was man an sich bisher als einzigartig und individuell angesehen hat, in Wirklichkeit ein Erbe seiner Vorfahren ist. Wir sind ein Mosaik, ein Patchwork aus Teilen unserer Eltern und Großeltern. Auch wenn sie schon gestorben sind, bleiben sie trotzdem bei uns – das meine ich sowohl mystisch als auch in einem ganz realen Sinne. Ich glaube, daraus lässt sich eine sehr schöne Geschichte machen, halb Fiction, halb Non-Fiction. Außerdem habe ich Pläne für ein paar Kurzgeschichten.

Wie ist das zur Zeit eigentlich als reisender Russe im Ausland? Ihr Heimatland hat ja in letzter Zeit einiges getan, was Europa nicht gern gesehen hat. Die Krim, die Ostukraine …

Nun, Russe zu sein ist immer eine Herausforderung. Russen, die in Europa leben, versuchen, nicht allzu russisch zu sein. Sie tun lieber so, als seien sie Europäer. Ich habe Russland das erste Mal mit siebzehn verlassen und seither in verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet. Damals - und später auch noch - habe ich versucht, mich als Einheimischer zu tarnen, was mal mehr, mal weniger gut gelang. Als Metro 2033 anfing, sich weltweit gut zu verkaufen, musste ich jedoch so viel reisen, dass ich nicht mehr so tun konnte, als wäre ich ein Einheimischer. Also habe ich mich nicht mehr darum gekümmert, und heute ist es mir egal. Das ist eines von diesen Dingen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben wichtig sind und unüberwindbar erscheinen. Aber wenn etwas Zeit vergangen ist, weiß man nicht mehr, warum man sich deswegen überhaupt je Sorgen gemacht hat. Plötzlich ist es einfach nicht mehr so wichtig. Das ist vermutlich auch mit den Kritiken so, die man über seine Romane im Netz liest. Wenn man das erste Mal eine positive Bewertung bekommt, ist man super aufgeregt. Kriegt man eine schlechte Rezension, verfällt man in Depressionen und ist sauer auf die Person, die sie geschrieben hat. Dann fängt man an, sich selbst zu googeln, weil man wissen will, wie die Leute über deine Bücher denken. Ich war eine ganze Zeit lang ein regelrechter „Ego-Surfing Junkie“.

Die Besprechungen im Netz oder auf Amazon zu Metro 2035 interessieren Sie also nicht?

Ach, ich sage mir: Fuck everybody! (Lacht.) Ich danke denen, die gute Rezensionen schreiben, und bei denen, die etwas Negatives schreiben, denke ich mir meinen Teil. Aber ich reagiere generell nicht mehr so emotional. Wenn man sich zehn Jahre lang angesehen hat, was andere über einen schreiben, bekommt man einfach eine dicke Haut.

Sie lesen also die Rezensionen, kümmern sich aber nicht darum?

Mich interessierte, wie die Deutschen auf Metro 2035 reagierten, also ging ich auf Amazon und las ein paar Reviews. Aber die waren wie die aus Russland. Die eine Hälfte fragte, wo die Mutanten seien, und wollte Monster und Geheimnisse und so, also gaben sie dem Buch zwei Sterne oder nur einen. Die andere Hälfte schrieb, dass es eine gute Dystopie mit einem glasklaren politischen Bild sei und dass man die Mutanten gar nicht brauche. Die gaben mir fünf Sterne, also liegt der Durchschnitt bei drei – was nicht wirklich etwas über das Buch aussagt. Als ich die Reaktionen auf Metro 2035 sah, war für mich klar, dass die Genre-Fans wollten, dass ich immer wieder dasselbe schreibe, nämlich über Abenteuer und Monster. Wer könnte ihnen einen Vorwurf machen? Sie mögen das eben. Aber jedes Genre wird mir nach einer Weile langweilig. Ich will neue Dinge erforschen und Grenzen ausloten. Metro 2035 gehört ja auch nicht in ein bestimmtes Genre. Es ist eine Mischung aus Reise- und Bildungsroman, eine Coming-of-Age-Story, eine Urban Fantasy, eine Dystopie, eine Sozialkritik und so weiter.

Bisher haben Sie aber überwiegend Romane geschrieben, die sich der Science-Fiction zuordnen lassen.

Vor einiger Zeit lud mich der Heyne-Verlag zur Leipziger Buchmesse ein, wo mir ein Roman von Sergej Lukianenko (im Shop) in die Hände fiel. Im Vorwort stand sinngemäß: „Als Autor musst du dir ein Genre aussuchen, und bei dem bleibst du dann für immer und perfektionierst es. Das ist wie beim Sport: Du kannst kein hervorragender Boxer und gleichzeitig Schwimmer und Triathlet sein.“ Aber Sergej Lukianenko hat ja nicht einmal versucht, das Genre zu wechseln! Ich hingegen glaube wirklich, dass sich Literatur nicht immer um dieselben Dinge drehen, nicht ewig nach demselben Muster und denselben Regeln dieselben Dinge reproduzieren sollte. Sie muss etwas Neues erforschen. Mir würde langweilig werden, wenn ich immer wieder dasselbe machen müsste - und dem Leser letztlich auch. Wenn der neue Roman so ist wie der letzte, reagieren die Leser emotional nicht mehr darauf. Das ist wie bei der Ehefrau, die zuerst versucht, den Mann zu domestizieren, und sich dann beschwert, dass er nicht mehr der ist, der er früher einmal war. Und lässt sich scheiden.

Das Gute an der Science-Fiction ist ja, dass sie flexibel ist und gewissermaßen andere Genres - Krimis, Fantasy und so weiter - in sich aufnehmen kann. Science-Fiction ist ja auch oft das einzige Genre, in dem man bestimmte Ideen wirklich konsequent durchspielen kann.

Für mich ist die Science-Fiction ein Werkzeug, mit dem ich Dinge ausdrücken kann, die mich bewegen. Unglücklicherweise gibt es da draußen aber viele Science-Fiction-Fans, die nur Abenteuergeschichten lesen wollen. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, dass nicht alle, aber einige von ihnen Teenager sind und einen Adrenalinkick wollen.

Die Reaktionen auf Metro 2035 speisen sich also aus dem unterschiedlichen Alter der Rezensenten? Die Reviews teilen sich in zwei Kategorien auf: diejenigen, die die politische Dimension loben, und diejenigen, die sich über die Abwesenheit der Monster beschweren. Ich habe mich gefragt, ob es mehr „westliche“ Leser waren, die sich beschwert haben, weil sie es nicht in diesem Ausmaß gewohnt sind, Metaphern zu lesen. Die russischen Leser hingegen lesen anders, und die russischen Autoren schreiben anders, weil es eine historische Tradition gibt, bestimmte Ansichten, die sie zu Papier bringen wollen, zu verschleiern bzw. verschleiern zu müssen.

Ausgehend von den Reviews auf Amazon – die ich trotz allem, was ich Ihnen gerade erzählt habe, gelesen habe (lacht) – kann ich sagen, dass es in Deutschland durchaus Leser gibt, die ihren Spaß an Metro 2035 haben. Es hat einfach mit den Erwartungen zu tun. Ich warne also alle Leser dieses Interviews: In Metro 2035 gibt es keine Monster! Dieser Roman dreht sich um Menschen. Metro 2033 handelt übrigens auch nicht von Monstern, die waren nur Dekoration. Es ging immer von Anfang an um das, was in unseren Seelen passiert. Okay, jetzt, da ich alle gewarnt habe, können sie das Buch genießen.

Ich würde nicht sagen, dass es in Metro 2035 keine Monster gibt. Artjom trifft viele Monster – es sind nur keine Mutanten.

Genau! Also, er trifft durchaus auch ein paar Mutanten, aber das sind nicht die Monster. Aber wissen Sie, ich würde diese Unterscheidung in westliche und russische Leser nicht treffen. Sehr viele Europäer haben ein starkes politisches Bewusstsein. Und die Zahl der Menschen, die paranoid sind und eine Verschwörung in der Regierung sehen wollen, ist in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien ebenfalls sehr hoch. Nur der Blickwinkel, aus dem sich ihnen diese Verschwörung präsentiert, ist ein bisschen anders als bei den Russen. Dass die Banken, die Regierung und die Presse alle irgendwie an einer Verschwörung gegen das einfache Volk beteiligt sind – darauf gibt es in Europa nur versteckte Hinweise. In Russland ist das direkt, offensichtlich und deutlich. Die Kirche ist ein Teil der Firma, die das Land regiert, das Parlament ein anderer, ebenso wie das organisierte Verbrechen. Sie gehören alle einer Verschwörung an, und sie machen, was sie sollen, auch wenn ihnen niemand direkte Anweisungen gibt. Wenn man das erkennt, fühlt man sich hilflos. Andererseits: Hätte ich solche Geschichten vor zehn Jahren gehört, hätte ich sie als paranoid abgetan. Heute verstehe ich, dass die Welt tatsächlich nach diesem komplizierten Muster gestaltet ist, und dass ich erst gewisse Dinge lernen musste, um das zu sehen.

Macht Sie diese Erkenntnis wütend? Als ich Metro 2035 las, dachte ich: Oh, wow, da ist jemand sauer!

Ja, ich war ziemlich wütend. Und ich schrieb Metro 2035, um den Dampf abzulassen. (Lacht.) Ich bin kein Revolutionär. Die letzte Revolution in Russland ist nicht so gut ausgegangen. Als vor drei Jahren die Mittelklasse und die Intelligenzija auf die Straße gingen und protestierten, hatte ich den Eindruck, dass wir auf friedliche Weise eine Veränderung herbeiführen könnten. Aber diese Protestbewegung hat verloren. Offensichtlich kann die Intelligenzija keine Revolution auslösen. Und jene, die es könnten, würden das Land hunderte Jahre in die Vergangenheit zurückschleudern, in die Dunkelheit und die Barbarei des Mittelalters. Ich glaube nicht an einfache Lösungen. Ich bin gegen das Blutvergießen. Nur, weil ich aus einem Land komme, in dem schöne Vorstellungen von einer leuchtenden Zukunft die schrecklichen Massaker der Gegenwart und der Vergangenheit rechtfertigten, kann ich diese Mittel nicht gutheißen. Ich hoffe, dass wir damit durch sind. In dieser Hinsicht müssen wir als Zivilisation einen Schritt nach vorne machen.

Aber momentan sieht es nicht danach aus, als würde dieser Schritt in näherer Zukunft vollzogen werden, gerade, wenn man sich anschaut, was in der Ukraine passiert. Dort wird viel Blut vergossen.

Ja, das ist eine wirklich schlimme Sache. Und das Traurigste daran ist, dass der Zweck dieses von Russland inszenierten Bürgerkriegs ist, eine Fernsehsendung zu produzieren. Russland braucht keine Ländereien oder Gebiete. Bei der Krim war es ja sozusagen ein historischer Anspruch, sie hat einen symbolischen Wert und so weiter, bla bla bla. Was nicht heißen soll, dass die Annexion legitim war. Aber wenn man der Ukraine ihre Industrieregion nimmt, dann hat man wirklich das Image einer Besatzungsmacht. Das würden einem die europäischen Mächte niemals vergeben. Die Europäer sind bereit, die Sache mit der Krim zu ignorieren, um das Verhältnis zu einem Staat, der eine Diktatur zu werden droht, nicht zu verderben. Der Zweck des Bürgerkriegs in der Ostukraine ist also nicht die Annektierung dieser Region, sondern zum einen sollte ein lenkbarer Konflikt kreiert werden, wie Russland es beispielsweise auch in Georgien gemacht hat. So lenkt es die Loyalität der Regierungen dieser kleinen Länder Russland gegenüber. In der Ukraine wurde dasselbe gemacht, mit Hilfe der quasi-unabhängigen, pro-russischen Separatisten. Zum anderen wollte man dem russischen Publikum eine Fernsehsendung präsentieren, die zeigt und erklärt, was mit einem Land passiert, das seinen Anführern nicht mehr folgt: Chaos und Bürgerkrieg. Die Russen haben nur die Ukrainer, mit denen sie sich vergleichen können, und umgekehrt. Sie sind einander sehr ähnlich, haben sich aber für verschiedene Politikformen entschieden. Die einen haben mehr Freiheiten, aber etwas weniger Geld, die anderen haben – oder hatten – mehr Geld, aber weniger Freiheiten. Und die Leute sind sich nicht sicher, was besser ist. Es gab viele Ukrainer, die gedacht haben, dass Putin der bessere Anführer ist, und es gab Russen, die die Ukrainer bewundert haben, weil sie sich in dem Chaos etwas mehr Freiheit geschaffen hatten. Aber nach den Protesten 2012 auf dem Bolotnaja-Platz war Putin zutiefst erschüttert. Denn zum ersten Mal während seiner Herrschaft – überhaupt das erste Mal seit der Verfassungskrise unter Jelzin 1993 - gingen hunderttausende Menschen auf die Straßen und protestierten nicht etwa für mehr Lohn oder gegen Hunger, sondern wegen des Bedürfnisses, ihre Rechte respektiert zu sehen. Das war etwas sehr, sehr Neues für Russland. Und Putin wusste nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Er traute sich nicht, die Proteste gewaltsam aufzulösen, zumindest nicht die ersten Male. Als er sah, dass eine ähnliche Bewegung in der Ukraine diesen Machtkampf zu gewinnen drohte, war das erneut ein einschneidendes Erlebnis für ihn. Allein die Tatsache, dass eine politische Gruppe durch Proteste auf den Straßen an die Macht gebracht werden kann, hat Putin sehr verstört. Wissen Sie, die regierungstreuen Medien fragen immer: Wenn nicht Putin, wer dann? Diese Frage soll einen ratlos zurücklassen, denn wir haben in Russland keine andere politische Figur, die in der Lage sein könnte, Putin zu ersetzen, weil er und seine Anhänger das gesamte politische Feld gesäubert haben. Sie haben die konventionellen Politiker diskreditiert oder sie gezähmt, sie domestiziert, manche sind gestorben. Also wirkt es so, als gäbe es keine Alternative zu Putin. Und wenn die Protestbewegung gewinnt – was passiert als nächstes? Mehr als anderthalb Jahre lang bekamen die Russen im Fernsehen täglich vor Augen geführt, was passiert, wenn Putin nicht mehr an der Macht ist: der Bürgerkrieg in der Ukraine, die Tränen, das Leid, die ukrainischen „Nazis“, die natürlich von den deutschen Nazis inspiriert sind, das Blutvergießen, die Bomben und so weiter. Allein Putin, dieser Leuchtturm der Zivilisation, hindert Russland daran, ebenfalls auseinanderzubrechen. Heute, denke ich, wären Straßenproteste in Russland komplett diskreditiert. Die Leute hätten Angst davor, weil ihnen seit anderthalb Jahren gezeigt wird, was wäre, wenn.

Ist diese TV-Propaganda etwas, gegen das Sie in Metro 2035 angeschrieben haben? Wollten Sie den Lesern sagen: Das ist das, was ihr im Fernsehen seht, aber das hier ist die tatsächliche Wirklichkeit dahinter? So funktioniert das System, so funktioniert die Propaganda?

Genau. Ich wollte den Lesern zeigen, wie Propaganda funktioniert. Sie ist wie eine Art umgekehrte Therapie für das russische Volk, das immer noch Phantomschmerzen hat wegen seiner verlorenen Gebiete. Das Fernsehen simuliert das alles, indem es behauptet, dass die Supermacht Russland wiederkehrt. Wenn Russland zwanzig Flugzeuge nach Syrien schickt, wird das so verkauft, als käme Russland als globale Macht wieder, die dem gleichstarken Westen die Stirn bietet. Dass das eine begrenzte, kleine Operation ist, kümmert keinen, weil es das Hauptziel der Medien ist, für einen rein internen Markt ein Bild zu erzeugen. Dasselbe passiert mit dem Donbass. Man erzeugt den Eindruck, dass es sich nicht um einen lokal begrenzten, geschlossenen Konflikt handelt, sondern dass dort ein wirklicher, echter Bürgerkrieg im Gange ist, der die gesamte Ukraine verwüstet. Aber das stimmt nicht - in Kiew zum Beispiel ist alles friedlich. Doch das wird im russischen Fernsehen nie gezeigt. Dort sieht man nur Blut und Tränen in der Ukraine, weil sich die Ukraine entschieden hat, gegen den legitim gewählten Präsidenten zu protestieren - und das sind nun die Konsequenzen.

Sie haben ja über das Europa der Zukunft in Futu.re geschrieben. Aber gerade in diesem Roman habe ich Russland vermisst. Das Land war da gerade mal eine Fußnote. Wie sieht denn die russische Zukunft aus?

Die russische Zukunft liegt für mich im Nebel verborgen. Sie ist mir ein Rätsel, und sie hängt von so vielen Faktoren ab. Die postapokalyptischen Zukünfte, die ich für Russland vorhersage, sind nicht die, die ich für am wahrscheinlichsten halte. Sie sind eher eine Warnung an meine jungen Leser. Ich will ihnen mit diesen Visionen Angst machen, damit sie anfangen, über das nachzudenken, was als nächstes passiert. Die Leute, die unser Land regieren, tun so, als wären sie Patrioten. Aber in Wahrheit sind sie das gar nicht. Sie behandeln Russland, als wäre es ihre private Firma, haben aber keine langfristigen Pläne dafür. Sie wollen nur so viel Geld wie möglich aus ihr herausholen, bevor der Laden pleitegeht und sie ihn schließen müssen.

Sie halten sich ja nicht zurück mit Ihrer Meinung, weder hier noch in Russland, wo Sie Artikel und Kommentare für unabhängige Medien schreiben. Ist das nicht … nun, ich will nicht „gefährlich“ sagen, aber …

Ich denke nicht, dass es gefährlich ist, aber das werde ich nur so lange denken, bis etwas passiert. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich eines Tages zu etwas Folgenreichem provoziert werden könnte - das ist eine beliebte Methode in Russland. Auf der anderen Seite schreibe ich ja „nur“ Science-Fiction. Keiner hört auf mich. Ich wäre der letzte, den man hängen würde. Erst hängen sie die Politiker und Aktivisten.

Aber Sie sind ja nicht nur Science-Fiction-Autor, sondern auch Journalist. Und Ihre Kolumnen schreiben Sie ja nicht als SF-Autor.

Stimmt auch wieder. Ich denke, solange man seine Meinung irgendwie ausdrücken kann, muss man das auch tun. Man kann nicht einfach den Mund halten. Wenn niemand mehr etwas sagt, würde der Zug noch schneller fahren. Wir Journalisten halten ihn sozusagen mit den Zähnen fest, wie diese Typen im Guinness Buch der Rekorde, aber das können wir natürlich nicht ewig. Irgendwann verlieren wir unsere Zähne. Aber das Wenige, was ich tun kann, tue ich auch.

Können Sie denn in der Science-Fiction bestimmte Dinge offener formulieren als in Artikeln?

Ich würde sagen, dass meine Kolumnen noch gewagter sind als meine Dystopien. Die Dystopien handeln bestimmte Dinge metaphorisch ab, und diese Metaphern werden nicht von jedem verstanden. Es gibt jede Menge Leute, die meine Mutanten schlicht als Mutanten und die Monster als Monster lesen und nicht als Metapher für „das Andere“. Die Kolumnen hingegen können das direkter aussprechen. Wenn man ein Buch schreibt, sollte es nicht zu direkt, nicht zu sehr auf die jeweilige Zeit bezogen sein. Es muss in zehn, zwanzig oder in fünfzig Jahren auch noch lesbar sein, und dafür muss alles ein bisschen abstrakt bleiben. George Orwells 1984 (im Shop), das letztes Jahr auf Platz sieben der russischen Bestsellerliste stand, ist ein gutes Beispiel dafür. Beachtlich für so ein altes Buch, nicht? 1984 wurde in den Vierzigerjahren geschrieben und zeigt die professionellen Erkenntnisse des Journalisten Orwell darüber, wie es in der Sowjetunion tatsächlich zuging. Er hat ein paar Details über das Regime erfahren und sie dann projiziert und gesteigert. Daraus ist ein hervorragendes Buch geworden, die beste Dystopie überhaupt. Im Vergleich mit 1984 ist alles andere irgendwie blass. Aber Orwell hätte diesen Roman nicht schreiben können, wenn er seine Gegenwart nicht so genau beobachtet hätte. Ich habe das Glück, nicht in einem totalitären Land leben zu müssen, aber ich beobachte die Veränderung in den Menschen in einem Land, das sich auf die Diktatur zubewegt.

Wird deswegen in der Metro-Welt Moskau von einem Atomschlag getroffen? Dieses ganze Atomkriegsthema bringe ich sehr stark mit dem Kalten Krieg und der sowjetischen Diktatur in Verbindung. Ich war erstaunt, als ich es in Metro 2033, also in einem zeitgenössischen Buch, wiederkehren sah, und habe mich gefragt, ob wir das nicht schon längst hinter uns gelassen haben.

Nein. Fragen Sie doch einmal Kim Jong-il, ob wir das hinter uns gelassen haben. Oder fragen Sie Putin, der den präventiven Einsatz von taktischen Nuklearwaffen an der Grenze zur Ukraine erlaubt hat. Fragen Sie jemanden in den Vereinigten Staaten, die ihre Nuklearwaffen wieder aufstocken und modernisieren. Fragen Sie Indien und Pakistan, fragen Sie den Iran.

Denken Sie also, dass wir wieder auf eine Art Kalten Krieg zusteuern? Dass wir uns im Kreis drehen?

Es ist schon sehr verführerisch, eine ultimative Waffe zu besitzen, die dich vor jedem Versuch, etwas an deiner Diktatur verändern zu müssen, schützt. Das ist Nordkoreas Garantie, dass niemand von außen kommt und das probiert. Aber wenn man solche Waffen hat, und dein nächster Feind hat sie auch – wie in Indien und Pakistan zum Beispiel –, wird es kompliziert. Was passiert als nächstes? Geht es wirklich vorwärts, oder drehen wir uns im Kreis? Unglücklicherweise sieht es ganz so aus, als würde letzteres zutreffen.

Was können wir tun, um diesen Kreis zu durchbrechen? 

Ich kann da gar nichts tun. Ich habe dafür kein Rezept. Meine Mission ist lediglich, Sie um den Schlaf zu bringen.

Sie sprechen also über das Problem, aber Sie bieten keine Lösung an.

Ich bin zu jung, um dafür eine Lösung zu haben. Fragen Sie mich noch einmal, wenn ich achtzig bin. (Lacht.) Dann habe ich vielleicht eine. Außerdem glaube ich, wie gesagt, nicht an einfache Lösungen, weil die nie funktionieren. Einfache Lösungen enden oft in großem Blutvergießen.

Das sind auch Artjoms Erfahrungen in der Metro. Er besucht die vielen kleinen Mikrostaaten an den Stationen, und jeder hat angeblich die Lösung. Aber keine davon funktioniert wirklich.

Ja – weil einfache Lösungen eben nicht funktionieren. Ideologien funktionieren nicht. All die vereinfachenden Erklärungen der Ideologie für die Realität funktionieren nicht. Also nein, ich habe keine Lösung für Sie. Sie müssen selbst nach einer Lösung suchen. Ich kenne russische Schriftsteller, die Lösungen anbieten. Aber die rechtfertigen mit diesen Lösungen Gewalt, und ich denke nicht, dass Gewalt je zu rechtfertigen ist.

Ist diese Ausweglosigkeit sozusagen die eigentliche Dystopie? Dass man nicht weiß, wem man folgen oder was man tun soll? Dass alles, was man tun kann, ist, sich bestimmte Dinge, bestimmte Systeme anzusehen, sie zu analysieren, um dann zu sagen: Nein, das ist nichts für mich?

Ein Ausweg zeichnet sich da schon ab. Wenn man über Bildung verfügt, ist man nicht so leicht zu manipulieren. Man lässt die Manipulation, die Lügen und die einfachen Wahrheiten hinter sich, man wird vorsichtiger und wählerischer. Man blockiert seine Gefühle, denn die Politiker benutzen vor allem Emotionen, um einen zu manipulieren und gegen alles, was anders ist, aufzuhetzen. Ich glaube, dass es Bestandteil der Lösung ist, das Primitive in sich zu überwinden, und das geht nur, wenn man sich sein ganzes Leben lang weiterbildet. Wir Menschen werden schnell faul. Wenn wir dreißig werden, denken wir, dass wir alles wissen. Und wenn wir erst einmal vierzig sind, will niemand auf gar keinen Fall mehr seine Position ändern, weil er ja ganz genau weiß, wie es in der Welt zugeht.

Wir beide gehen ja auf die Vierzig zu. Werden Sie denn schon faul?

Das ist ja ein natürlicher Prozess. Es braucht viel Arbeit, um nicht faul zu werden. Man muss sich anstrengen, um weiter neue Dinge zu entdecken. Ich habe eine Art Maxime, dass man nach etwas streben, es aber nie erreichen sollte. Denn nur das Verlangen bewirkt, dass man sich bewegt, dass man sich verändert. Das ist auch etwas, das ich den Hardcore-Science-Fiction-Lesern wünsche: Lest mal etwas anderes! Ihr werdet feststellen, dass Dinge, die ihr früher langweilig gefunden habt oder von denen ihr dachtet, dass es ihnen an Spannung mangelt – wie die Amazon-Rezensionen zu Metro 2035 besagen -, interessant werden. Vergesst die Spannung! Es gibt andere Methoden, die einen dazu bringen können, etwas zu empfinden, und die sehr viel stärker sind als Spannung oder Monster. Die Welt ist so viel größer. Hört nicht auf, Neues zu entdecken! Bleibt nicht stehen! Wachst über euch hinaus! Erweitert kontinuierlich euren Horizont, und ihr werdet Freude daran haben! (Lacht.)

Was erforschen Sie denn gerade Neues?

Die letzten drei, vier Jahre habe ich das Glück kennengelernt, ein Vater zu sein. Das ist ein ganzer Haufen Emotionen, die ich im Roman Futu.re verarbeitet habe. Dort müssen sich die Europäer zwischen dem ewigen Leben oder der Elternschaft entscheiden. Solange man das nicht selbst erlebt hat, kann man nicht darüber schreiben, weil man es nicht wirklich nachempfinden kann. Ich schreibe immer über das, was ich fühle. In den letzten beiden Jahren habe ich mich kritisch mit meiner eigenen Gesellschaft auseinandergesetzt, verstanden, wie sie wirklich aufgebaut ist, was sich hinter den Lügen und den Manipulationen und den Drohungen verbirgt. Das waren die Jahre der Entdeckungen, der Wahrheit, würde ich sagen, und wie sich diese Wahrheit von dem allgemein verbreiteten Bild unterscheidet. Klar, wenn man eine konkurrierende, transparente Presse hat, hat man ein besseres Bild davon, wie die Gesellschaft aufgebaut ist. Andererseits ist es aber auch nicht aufregend, in einer transparenten Gesellschaft zu leben. Da ist alles viel zu fair! (Lacht.) Das ist dann die Frage: Willst du ein aufregendes Leben haben - oder ein ruhiges?

Apropos aufregendes Leben: Es gibt in Moskau eine Gruppe, die sich „Diggers of the Underground Planet“ nennt. Sie erforschen heimlich und illegal die unterirdischen Bereiche Moskaus, auch die Metro-Tunnel. Hatten Sie Kontakt zu dieser Gruppe, als Sie angefangen haben, über die Metro zu schreiben?

Ja, das war eine komische Sache. Als ich noch Radiomoderator in Moskau war, hatte ich ihren Anführer, Vadim Mikhailov, ein paar Mal zu Gast in meiner Sendung. Ich schrieb damals an Metro 2034 und erzählte ihm davon. Ich fragte ihn, ob er mir etwas vom Untergrund zeigen könne, und er sagte, er habe einen Freund, der das machen könne. Wir würden heimlich nachts einsteigen, und er könne mir Dinge zeigen, die ich noch nie gesehen hätte. Ich rief ihn mehrmals an, aber er vertröstete mich immer wieder. Irgendwann habe ich ihn dann gefragt, ob er wirklich da unten gewesen sei und ob er diese Leute wirklich kenne … Das war also ein Reinfall. Auf der anderen Seite war die Pressestelle der Moskauer Metro sehr nett und hilfsbereit. Sie führten mich herum und zeigten mir alles. Das klappte also sehr gut, obwohl ich davon überzeugt war, dass sie mir das niemals erlauben würden, weil ich ja schließlich die gesamte Metro in meinen Romanen zerstört habe.

Wenn Sie in der Metro-Zukunft leben müssten, an welcher Station würden Sie leben wollen?

Ich habe immer gedacht, dass ich an Artjoms Heimatstation, der WDNCh, leben wollen würde. Aber inzwischen würde ich eher in der Polis leben wollen. Ich werde wohl zu einem verweichlichten, verwöhnten Intellektuellen, der seine Bücher liebt und immer neue davon braucht.

Lesen Sie auch zeitgenössische russische Science-Fiction?

Eher nicht. Ich glaube nicht, dass sich da im Moment viel Interessantes tut. Ein guter Autor ist Leonid Kaganov, aber das war’s dann auch schon.

Sie sehen sich also nicht als Bestandteil der russischen Science-Fiction-Szene?

Ich habe da so meine Differenzen mit den russischen Science-Fiction-Schriftstellern, weil einige von ihnen angesichts dieser Donbass-Nationalismus-Sache ihrer Sehnsucht nach dem untergegangenen Imperium frönen. Sie sind voll und ganz zu Putin-Anhängern geworden – das ist schade. Aber, naja, soll der liebe Gott sie aussortieren.

Das ist doch ein fröhliches Schlusswort für dieses Interview. Vielen Dank für Ihre Zeit!

Ja, ein wirklich fröhliches Schlusswort! (Lacht.) Vielen Dank.


Hotelbar-Selfie (nach dem Kaffee)

 

Kommentare

Bild des Benutzers ThomasStark

Ein hervorragendes Interview! Wirklich! Glaube, mein Frühstück war selten in letzter Zeit so gut. Besonders seine Ansichten zur Literatur und Politik sind sehr interessant.

Habe selbst vor einiger Zeit Metro 2033 gelesen und genossen aber befürchtet, die Fortsetzung (damals ja nur 2034) wäre nur an schiere Wiederholung. Jetzt freu ich mich richtig darauf, 2034 und 2035 nachzuholen, danke!

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Vielen Dank! Ich bin gespannt auf Ihre Meinung zu "Metro 2035".

Bild des Benutzers Shrike

Äußerst interessant, die Fragen wie die Antworten.
Vielen Dank für dieses Interview.

Bild des Benutzers Elisabeth Bösl

Danke! :-)

Bild des Benutzers Thomodo

Gutes Interview! Lese nicht sehr oft SF, wenn, dann meist Klassiker wie Clarke oder Dick. Das Interview hat mich neugierig gemacht, werde mal mit 2033 beginnen....

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.