28. Dezember 2023 2 Likes

Die Zukunft ist (fast) schon da!

Eine Leseprobe aus Naomi Aldermans Meisterwerk „The Future“

Lesezeit: 8 min.

Ein packender Near-Future-Thriller, ein Klimaroman, eine witzig-bissige Gesellschaftssatire und eine Liebesgeschichte – Naomi Aldermans neuer Roman „The Future“ (im Shop) ist all das und noch viel mehr. Vor allem aber ist dieser Roman unglaublich klug und gleichzeitig hoch unterhaltsam. Das Time Magazine setzte ihn prompt auf seine populäre Liste „The 100 Must-Read Books of 2023“, die britische Bestsellerautorin hat mit ihrer Tour de Force durch die nahe Zukunft also ein Werk vorgelegt, dass das Zeug zu einem echten Klassiker hat.

Und darum geht es: Die Welt steht kurz davor unterzugehen, aber die, die dafür verantwortlich sind, die CEOs der großen Konzerne, wollen nicht mitmachen. Während der Rest der Welt auf den Abgrund zusteuert, haben sie vor, sich in ihre luxuriösen Survival-Bunker zurückzuziehen. Doch ihr Plan geht gewaltig schief …

Seit dem 15.11.2023 ist „The Future“ auf Deutsch erhältlich und für den ersten Eindruck stellen wir Ihnen hier die Leseprobe zur Verfügung.

 

DAS GRUNDLEGENDE PROBLEM

 

NORD-KALIFORNIEN, NOVEMBER

Action-Now !-Umweltschutzkonferenz

 

An dem Tag, an dem die Welt unterging, saß Lenk Sketlish – CEO und Gründer des sozialen Netzwerks Fantail – an einem für seine Naturschönheit berühmten Ort unter Mammutbäumen und bemühte sich, durch den Bauchnabel einzuatmen.

Die Berggipfel in der Ferne waren schneebedeckt, und ihre geschwungenen Silhouetten, in denen sich Felsspalten abzeichneten, befeuerten die Vorstellungskraft. Die Farben der Bäume in der Nähe changierten zwischen einem rötlichen Braun und Hellbraun, zwischen Graugrün und Salbeigrün. Die säulenartigen Stämme der Mammutbäume wiesen schnurartige Muster wie ineinander verschlungene Ranken auf. Weiches Moos und Gras wuchsen auf ihrer Rinde, und darin schwirrten winzige Insekten herum. Der Himmel zeigte das bleiche, ausgewaschene Blau des Spätherbstes, und durch das Geäst waren Wolkentupfen zu sehen. Und dennoch.

Die Nase der Meditationslehrerin pfiff.

Jedes Mal, wenn sie einen »Atemzug tief in den Bauch« tat, durchbrach dieses Pfeifen das sanfte Flüstern der Mammutbäume wie das Kreischen einer Kettensäge. Sie musste es doch hören.

Ja, sie hörte es mit Sicherheit. Sie schien es nicht zu hören. Die Mammutbäume erschauerten, in der Novemberkühle würden bald die Blätter von den Bäumen fallen, und alles war vergänglich, wie sie unaufhörlich betonte.

Doch das, was Lenk Sketlish am Herzen lag, würde nicht vergehen, solange er dabei ein Wörtchen mitzureden hatte.

»Lass deinen Bauch beim Einatmen ganz weich werden«, sagte die Lehrerin. Ihre Zunge verharrte auf dem letzten Konsonanten, als wäre sie Italienerin. Sie war keine Italienerin. Nach dem ersten Tag hatte Lenk seine Persönliche Assistentin Martha Einkorn gebeten, das zu überprüfen. Die Meditationslehrerin kam aus Wisconsin, dem Heimatstaat der Cheese Curds. Sie sagte ständig Bauch-e. Er solle das Licht in seinem Bauch-e halten, die Wärme in seinem Bauch-e fühlen, in seinen eigenen Bauch-e hineinkriechen und für immer in ihrem näselnden Quengelton und dem ins Endlose verlängerten ch verweilen. Was in Lenk Sketlishs Bauch heranwuchs, war ein beißender, brodelnder, siedender Zorn.

Die Mammutbäume. Zurück zu den Mammutbäumen. Die Majestät der Natur, einfache Schönheit. Der schmale Pfad den Berg hinauf, der herabstürzende Wildbach. Einatmen. Ausatmen.

Die Welt, wie man sie von Moment zu Moment erlebt, und er selbst ein Teil davon. Nicht abgelenkt, nicht voller Wut, nicht in Gedanken bei den Fantail-Expansionsplänen in Uruguay und Myanmar, obwohl da jemand in seiner Abwesenheit mit Sicherheit etwas vermasseln würde.

In der Gegenwart bleiben. Im Hier und Jetzt. Den Atem im Bauchnabel spüren, im Zentrum des eigenen Körpers, wie die Bauchdecke sich hebt und senkt, und … die Nase pfiff plötzlich in einer anderen Tonlage. Geringfügig tiefer als zuvor. War das Bariton ? Oder Alt ? Hörte sie das denn nicht ? Wieso putzte sie sich nicht die Nase, bevor sie in die Stunde kam ? Hatten denn weder Martha noch eines der Vorstandsmitglieder noch ein einziger von Marthas Lakaien herausgefunden, dass bei dieser großartigen, erstklassigen Meditationslehrerin die Nase pfiff ? Glaubten sie einfach alles, was ihnen aufgetischt wurde ?

»Atme mit dem ganzen Körper« – ihre Stimme war leise und melodisch – »diesen Moment bestimmst ganz allein du.«

Das war ganz offensichtlich falsch, denn der Vorstand hatte ihm vor einiger Zeit mitgeteilt, wenn er seine Wutanfälle nicht unter Kontrolle bekäme, würde das ernstlich die Frage aufwerfen, ob es für ihn bei Fantail noch eine Zukunft gebe. Das war ebenso absurd wie diese Frau mit dem Blasorchester in der Nase, die sich als Quelle der Ruhe ausgab. Er hatte mitgespielt; er hatte sich darauf eingelassen. Wenn sie glaubten, sie könnten mit ihm dasselbe machen wie Ellen Bywater mit Albert Dabrowski von Medlar und ihn aus seiner eigenen Firma werfen, nun, dann würde er sie eines Besseren belehren. Aber genau das würden sie tun – sie würden ihm sagen, dass sein Führungsstil nicht funktionierte, dass er nicht bereit war, an sich zu arbeiten; sie würden ihn erst sachte beiseitedrängen und dann rasch ausmanövrieren. So etwas hatte er mit eigenen Augen gesehen. Albert Dabrowskis Schicksal hatte ihn Vorsicht gelehrt. Inzwischen wurde Medlar von Ellen Bywater geführt. Und wo zum Teufel war Albert Dabrowski ? Nun, wen zum Teufel interessierte das schon ?

»Sei ganz in diesem Moment«, säuselten die Schleimhauttrompeten. »Gestatte dir, diesem Moment mit Vertrauen zu begegnen.«

Er war hier, um seine Bereitwilligkeit zu demonstrieren. Er war kein unreifes Kleinkind; er führte Fantail seit zwanzig Jahren erfolgreich, nachdem er es auf nichts als einer Idee gegründet hatte, auf dem Gefühl für eine Welle, die sich weit draußen im Ozean aufbaute. Inzwischen ging man in einhundertsiebenundzwanzig Ländern der Welt auf FantailStream, wenn man ein Massenpublikum ansprechen wollte; wenn man etwas verkaufen wollte, eröffnete man einen FantailStore; und wenn man über Ländergrenzen hinweg Handel treiben wollte, benutzte man FantailSeamless, um mit FantailCoin zu bezahlen. Wenn eine Nation zur anderen sprach, dann via Fantail.

Und die nächste Herausforderung würde Lenk ebenfalls meistern, sich bei der Öffentlichkeit anbiedern und einen auf nett machen. Die Antitrust-Anhörungen und diese idiotische Action-Now !-Umweltkonferenz mit Anvil und Medlar. Er würde cool bleiben und keine teuren Keramikskulpturen durch teure, mit Gravuren verzierte Glastrennwände schleudern, und nie wieder würde jemand mit einem Glassplitter im Auge ins Krankenhaus müssen. Das war ein Fehler gewesen. Er bereute ihn. Meditation war schmalzig, aber sie funktionierte – einfach durch den Bauchnabel atmen. Auf das Ein konzentrieren. Dann auf das Aus. In seiner Zeit in Harvard hatte er das gern praktiziert. Einer seiner Mitbewohner hatte ihm eine Playlist gegeben. Die halbe Nacht programmieren, dann zehn Minuten lang meditieren, und man schaffte den Übergang von vollkommener Erschöpfung zu einem erholsamen tiefen Schlaf problemlos. Die Sache hatte etwas für sich. Zimri Nommik von Anvil verbrachte jedes Jahr zehn Tage in der Wüste, um zu schweigen, zu fasten und Wasser durch die Nase hochzuziehen. Oder durch den Arsch. Eines von beidem. Zimri Nommik, der Lagerhallen errichtete und Logistiknetzwerke aufbaute und alles verfrachtete, was nicht niet- und nagelfest war, der mit AnvilChat und AnvilParty bereits gut aufgestellt war, aber trotzdem versuchte, mit seinem gefräßigen Rachen alles zu verschlingen …

»Solltest du feststellen, dass deine Gedanken abgeschweift sind« – die Lehrerin atmete mit einem akkordeonähnlichen Wimmern ein – »sei nicht überrascht. Kehre einfach sanft zu deinem Atem zurück. Dieser Moment ist alles, was du brauchst.« Aber das stimmte nicht, und das hatte nie gestimmt. Dieser Moment war vorbei, sobald man ihn bemerkte. Er bot keinen Lohn und keinen Besitz. Was Lenk brauchte, war das schwache Schimmern in der Ferne, das Winken der mächtigen Zeit, die Welle, die sich weit draußen im Ozean aufbaute.

»Atme tief in den Bauch ein. Vergiss nicht, unruhig macht uns nur das, was in der Zukunft geschehen könnte. Doch die Zukunft ist nicht hier. Die Zukunft ist Fantasie. All ihre Verheißungen und Ängste sind nur Fantasie. Wir dürfen in diesem Momentruhen«, sagte sie. »Was geschieht, ist in Ordnung.«

Doch wie oft war das, was geschah, nicht in Ordnung ? Es war eigentlich so gut wie nie in Ordnung. Ständig musste man antreiben und sich kümmern, reparieren und Druck machen. Ohne sein Eingreifen wäre der entscheidende Moment vertan, dann der nächste und wieder der nächste. Alle Wellen würden an ihm vorüber rollen, und er triebe weiter im kalten Meer, die Wärme wiche aus seinem Körper, und dann stiege der Tod auf und verschlänge ihn. Wenn man nicht auf das achtgab, was eventuell passieren könnte, konnte das ganze Leben dahinschwinden, und so erging es den meisten Menschen ja auch.

»Man kann unmöglich vorhersagen, was als Nächstes kommt«, sagte die Lehrerin.

Nun, dann war alles für den Arsch. Der nächste Moment konnte alles bringen. Es konnten sich neue Möglichkeiten auftun, jemand anderes konnte sich seine Ideen unter den Nagel reißen, ein Wettbewerber, der ihm sein Vermögen abjagen wollte. Ellen Bywater, die bereits eine Firma gestohlen hatte, konnte das allsehende Auge Medlars auf ihn richten. Die glänzende, elegante Hardware, die sie verkaufte, war die ehrgeizige Alternative zu Fantail, das auch für Hinz und Kunz erschwinglich war. Der MedlarTorque war ihr neuestes Ding: Alle Kommunikationsbedürfnisse, die man hatte, wurden von diesem schicken Gerät erfüllt. Derzeit schien sie Lenk immer einen Schritt voraus zu sein und lockte genau die Generation, die er brauchte, von ihm weg, stahl sie ihm, wie sie Medlar gestohlen hatte. Sie könnte neue Produkte auf den Markt werfen, aber es könnte natürlich auch ein Erdbeben geben, er selbst könnte einen Herzinfarkt erleiden, ein verrückter Diktator könnte aus der Ferne eine Rakete abschießen, oder es könnte eine neue Pandemie ausbrechen. Alles war möglich.

Lenk Sketlish war ein mächtiger Mann, der seine Karriere auf die Zukunft gegründet hatte, darauf, dass er sie erkannte, witterte und als gegenwärtiger wahrnahm als die Gegenwart. Die Zukunft war sein Zuhause und sein Trost; die Dringlichkeit des morgigen Tages, des nächsten Jahrzehnts und des nächsten Jahrhunderts trieb ihn an.

»Man kann unmöglich wissen, was auch nur in der nächsten Sekunde geschieht.«

Nein, dachte Lenk Sketlish, das bringt mir nichts.

Das Foliendisplay des Thinscreens an seinem Handgelenk gab einen leisen, aber eindringlichen Piepton von sich. Die Meditationslehrerin runzelte die Stirn, und ein befriedigender Gedanke schoss Lenk durch den Kopf: Na sieh mal einer an, man kann unmöglich wissen, was als Nächstes geschieht, nicht wahr? Er warf einen Blick auf den Thinscreen. Wahrscheinlich ein Notfall in Albanien oder Thailand, eine Entscheidung, die er treffen, ein Problem, das er lösen musste, und damit ein wunderbarer und aus finanziellen Gründen unbestreitbar gerechtfertigter Vorwand, die Stunde vorzeitig zu beenden. Doch so war es nicht. Seine Gesichtszüge spannten sich an; mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Nachricht. Es ging nicht um eine Lappalie. Sondern um den Weltuntergang.

 

Naomi Alderman: „The Future“ ∙ Roman ∙ Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Ostrop∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2023 ∙ 544 Seiten ∙ als Hardcover und E-Book erhältlich ∙ Preis des E-Books € 17,99 (im Shop)

 

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.