16. Mai 2025

Berlin, Fukushima und Weltraumkolonien

Phantastik-Comic-Neuheiten im Mai

Lesezeit: 6 min.

Laurent Galandon und Michaël Crouzat liefern in „Rückkehr nach Tomioka“ Bilder aus Fukushimas verseuchten Gebieten, Ingo Römling lässt in seiner zweiten französischen Comicserie „Metropolia“ im Berlin der Zukunft ermitteln, und Guillaume Singelin hat mit „Frontier“ den vielleicht besten SF-Comic des Jahres vorgelegt.

 

Guillaume Singelin: Frontier

Wofür Punk nicht alles instrumentalisiert wird. Im sogenannten Hope Punk soll ausgerechnet die einzige Subkultur, die die Schweinereien des Kapitalismus nicht aus dem Kopf tanzen wollte, nun als Botschafter dienen, dass mit der Menschheit noch mal alles gutgehen wird. Der Kapitalismus im Endstadium vor dem Eintritt in die Barbarei zeigt sich auch hierin, in Saussures Umkehrung: Die Zeichen erhalten ihren Sinn nicht mehr auf arbiträrem Wege, sondern sind schlichtweg völlig bedeutungslos geworden. Eine dergestalt verminte Gesellschaft der Zukunft hat Geoff Darrow in „Hardboiled“ mal sarkastisch ins Bild gesetzt: Menschen mit Friedenszeichen und aus jeder denkbaren Lebenswelt tranchieren sich als Gladiatorenkasper mit Kettensägen in TV-Arenen, und allen gefällt’s. Guillaume Singelins Meisterwerk „Frontier“ hütet sich zwar vor solcher Drastik. Aber ist es deswegen Hope Punk, wie es im französischen Fandom diskutiert wird?

Trotz bahnbrechender technologischer Fortschritte ist die Menschheit nur einen Schritt von der Apokalypse entfernt: Die Erde ist unbewohnbar, der Kapitalismus hat sich auf allerlei Planeten jenseits des Sonnensystems verlagert. Die Planeten sind Kolonien gigantischer konkurrierender Konzerne, der Weltraum ist eine lebensgefährliche Müllhalde, und die Menschen arbeiten sich auf beengtem Raum den Wolf. Drei Protagonisten – die desillusionierte Ingenieurin Ji-Soo, der pragmatische Arbeiter Alex und die schlagfertige Ex-Söldnerin Camina –, deren Wege sich zufällig kreuzen, werden mehr oder minder zum Ausbruch genötigt. Man soll sie durchaus und recht stereotyp als Klassenrepräsentanten lesen, impulsiv und naiv mal der eine, jovial und egozentrisch dann die andere suchen sie alle nach dem richtigen Modell für den Ausstieg. „Frontier“ plättet nicht mit Schockbildern, sondern skizziert die Verhältnisse beiläufig entweder über die Arbeiten selbst oder den Dialog.

Und damit geht der Band nicht haushälterisch um. Wenn beispielsweise die Söldnerin Camina auf eine Wohnwagenkarawane ehemaliger Arbeiter trifft und sich vom nomadischen Lebensentwurf fasziniert zeigt, funktioniert diese Szene als utopistischer Lichtschein nur unter Ausblendung der Psychologisierung Caminas als lebenslange Kämpferin, die gelernt hat, sich allen Bedingungen anzupassen. Bedroht ist die Gruppe trotzdem. Und so sind alle Ausbruchsversuche, guten Wendungen und Pläne in dieser Erzählung nur scheinbare, trügerische Refugien: so lange, bis die Unternehmen auch diese Orte als Ressource entdecken. Singelin gibt seinen Protagonisten nur etwas Zeit zum Durchatmen. Sollte das schon zur Hoffnung gereichen, taugt Hope Punk nicht mal zur Genre gewordenen Triggerwarnung.

Guillaume Singelin: FrontierSplitter Verlag, Bielefeld 2025 • Hardcover • 200 Seiten • 39, 80 Euro

 

Nino Cammarata: H. P. Lovecraft: Das Grab

„Das Grab“ gibt den Startschuss zu einer (bislang) dreibändigen italienischen Comic-Sammlung mit adaptierten Kurzgeschichten Lovecrafts aus der zweiten Reihe, zumindest was deren Popularität betrifft. 1917 von ihm geschrieben und erst 1922 veröffentlicht, geht es um die Obsessionen des Tagträumers Jervas Dudley, den es aus zunächst auch ihm unerklärlichen Gründen immer wieder zur alten Familiengruft zieht, vor deren verschlossenen Toren er dann einzuschlafen pflegt. Als er nachts darin ein Licht zu sehen glaubt, wird dieser Drang noch stärker, und die Anzeichen mehren sich, dass sein eigenes Schicksal stärker mit dem Mausoleum verbunden ist, als sein Verstand ertragen wird. Die Story ist ein Fingerspiel mit okkulten Elementen, ein abermaliger Probelauf für die Rationalität des Geistes. Der bleibt auch Zeichner Nino Cammarata auf der Spur, indem er auf Sprechblasen verzichtet und in den Textkästen einzig Lovcrafts Ich-Erzähler im O-Ton zu Wort kommen lässt. Wir sind also tief in Dudleys Psyche und müssen selbst entscheiden, wie viel Vertrauen wir in seine Beobachtungen setzen. Stilistisch ist dies von großer Erhabenheit, und Cammarata greift immer wieder auf ganzseitige atmosphärische Stimmungsbilder des Friedhofs zurück, die nicht nur schaurig, sondern mit jeder weiteren Seite, die Dudleys Isolation und geistigen Verfall zeigt, auch umso trauriger anmuten.

Nino Cammarata: H. P. Lovecraft: Das Grab • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 72 Seiten • Hardcover • 19,80 Euro

 

Karla Paloma: Ratten

Karla Paloma, eine in Berlin lebende dänische Comiczeichnerin, hat mit „Ratten“ den Süchtigmacher des Quartals vorgelegt. Drei Kurzgeschichten enthält der Band, ich hätte mir mindestens 30 gewünscht. Die Eckdaten – Berlin, prekäre Künstlerinnenexistenz, scheiß Flohmarkt-Job, desillusionierte Hauptfigur – mögen mittlerweile zu Vorurteilen einladen, aber das Ganze wird so herrlich abgefuckt aufbereitet, dass es eine Art hat. Die besten Zeiten des US-Underground kommen in den Sinn, ganz besonders Julie Doucets introspektiven Bravourstücke. Der raue Schwarzweiß-Stil ist ganz darauf ausgerichtet, die Figuren und ihre Dialoge glänzen zu lassen. Wie Paloma im Interview dem Rolling Stone verrät, entstehen die Storys aus dem Flow des Zeichnens und folgen keinem zuvor erarbeiteten Konzept. Das führt zu einem perfekt direkten, konfrontativen, in jederlei Hinsicht unbekümmerten Ton. Da bietet sich die neunjährige Tochter einer Freundin, die über Weihnachten zu Besuch kommt, der Karla-Figur erst mal zum Ladendiebstahl an und statt Bescherung gibt’s Wodka und Kippen am WG-Tisch oder das zur künstlichen Befruchtung vorgesehene gefrorene Sperma des Freundes im Kühlschrank wird mit dem des sprechenden Hundes Dexter (der nicht zufällig an den Bullterrier Baxter des gleichnamigen Horrorfilms und Ken-Greenhall-Romans erinnert), das an Züchter verkauft werden soll, verhängnisvoll verwechselt. Wie man vernimmt, soll daran auch die nächste Geschichte anknüpfen.

Karla Paloma: Ratten • Avant-Verlag, Berlin 2025 • 168 Seiten • Softcover • 25,00 Euro

 

Ingo Römling, Fred Duval: Metropolia Band 1: Berlin 2099

Der Werdegang des Berliner Comiczeichners Ingo Römling ist schwer beeindruckend, auch weil er sich in den Koordinaten des Genre-Comics vollzieht: 2013 startete seine erste Albenserie „Malcolm Max“ um den besagten Dämonenjäger und ist mittlerweile beim fünften Band angelangt, außerdem erschienen einige Kurzgeschichten für die Zombie-Anthologie „Die Toten“ und der entzückende Slasher-Parodie-Strip „Survivor Girl“. Als erster autorisierter deutscher Disney-Zeichner arbeitete Römling anschließend an „Star Wars Rebels“, und auch DC wurde für „Joker – The World“ mit einer von Torsten Sträter geschriebenen Story versorgt. 2020 der nächste Ritterschlag: die dreibändige Serie „Die Chroniken des Universums“ für das französische Verlagshaus Dargaud nach einem Szenario von Richard Marazano („Der Schimpansenkomplex“, „Die drei Geister von Tesla“), im Vorbeigehen gab es überdies noch einen Beitrag für das neugegründete legendäre SF-Magazin Métal Hurlant.

Und nun folgt, ebenfalls bei Dargaud und wie schon „Chroniken“ in deutscher Übersetzung beim Splitter Verlag, – mit „Metropolia – was für eine Bilanz! – die nächste französische SF-Serie, diesmal geschrieben von Fred Duval, dessen Invasionsstory der anderen Art „Reset“ noch in guter Erinnerung ist. Der 2099 in Berlin angesiedelte Neo-Noir-Cyberpunk-Krimi-Mix um ein außer Kontrolle geratenes KI-Hochhaus und ein gestohlenes Digitalkunstwerk, das der Privatermittler Sascha Jäger wiederbeschaffen soll, streift souverän die Krisen der Gegenwart und Zukunft: Klimawandel, Rohstoffknappheit, Wohnungsnot, Künstliche Intelligenz als Herrschaftsinstrument. Und was Römling aufs Papier aka den Bildschirm zaubert, ist die reinste Schau: eine perfekte, filmisch inspirierte Montage, ein penibler Blick für die mikroskopischsten Details – jedes Gesicht eine nuancierte Emotion, jede Körperhaltung eine mentale Verfassung – , ein vor keinem Setting zurückschreckender filigraner Strich und eine Bildkomposition, die trotz teils wimmelbildartiger Kleinteiligkeit immer für die Übersicht und den übergeordneten Lesefluss votiert. Dafür wurde der Buchdruck erfunden.

Ingo Römling, Fred Duval: Metropolia. Band 1: Berlin 2099 • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • 56/96 Seiten • Hardcover • 18/35 (VZA) Euro

 

Laurent Galandon, Michaël Crouzat: Rückkehr nach Tomioka

Ein Preisträger: „Rückkehr nach Tomioka“ wurde auf dem diesjährigen Comicfestival in Angoulême als bester Jugendcomic ausgezeichnet und ist in der Tat ein anrührendes Meisterstück. Thema ist das Trauma von Fukushima: Die Geschwister Osamu und Akiko haben die Katastrophe überlebt und befinden sich nun als Waisen in der Obhut ihrer Großmutter. Als auch die stirbt, wollen ihre Tante und ihr überaus widerwilliger Onkel die beiden Kinder aus der Provinz nach Tokio zu holen. Während sich Akiko notgedrungen den neuen Umständen fügt, plant ihr jüngerer Bruder – unter dem Zuspruch von Geistern, die nur er sehen kann – die Asche der Großmutter zum Familienschrein mitten in der verbotenen Zone zu bringen. Die Story ist leichtfüßig erzählt, steckt aber voller erschreckender Implikationen. Der Umgang der Stadtbewohner mit den Überlebenden des Katastrophengebiets erinnert frappierend an Keiji Nakazawas autobiographische Erzählung „Barfuß durch Hiroshima“: Wie Aussätzige behandelt, blickt man ängstlich und empathielos auf die Opfer herab, deren bloße Existenz die Erinnerung an die Ereignisse wachhält und darob stört. Auch den Kindern ist nur bedingt klar, in welche Gefahr sie sich mit dem Betreten des verseuchten Gebiets begeben. So verbindet der Plot die Odyssee der beiden stets mit dem Hintergrund einer verrohten Sozietät, und das ist so sensibel wie niederschmetternd, wenn auch in letzter Konsequenz jugendkonform dargestellt.

Laurent Galandon, Michaël Crouzat: Rückkehr nach Tomioka • Toonfish, Bielefeld 2025 • 104 Seiten • Hardcover • 22,95 Euro

Abb. ganz oben aus „Frontier“ von Guillaume Singelin, Splitter

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