19. September 2024

Joker in Wacken, Lovecraft im Mietshaus und Emojis im Handy

Phantastik-Comic-Neuheiten im September

Lesezeit: 4 min.

Eine internationale Anthologie liefert globale Bilder vom Joker, Jeff Lemire und Andrea Sorrentino entfachen kosmischen Horror in einem Hochhaus, und Karla-Jean von Wissel hat in einem Sachcomic die Geschichte der Emojis zusammengefasst.

 

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Das Mietshaus

Die bislang beste und weitaus umfangreichste Auskoppelung aus Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos „Bone Orchard Mythos“, einer Reihe lose miteinander verbundener Horror-Geschichten, die autonom, ohne Kenntnis der Vorgänger goutiert werden können. Was alle Storys vereint, ist das routinierte Spiel mit Genre-Versatzstücken, die Sorrentino in atemberaubender Optik aufbereitet. In „Das Mietshaus“ treffen dezent eingesetzte Hochhaus-Horror-Elemente – kleine Verbeugungen vor Cronenbergs „Shivers“ und Lamberto Bavas „Demoni 2“ sind in den Panels versteckt – auf kosmischen Horror, der nicht nur an Lovecraft, sondern an einigen Stellen auch an Lucio Fulcis Höllenbilder aus „Über dem Jenseits“ denken lässt, exklusive der surrealistischen Splatter-Ästhetik. Kündigte sich in den 1970ern, mehr noch in den 1980ern die Krise der gesellschaftlichen Mikroeinheit an – in den Filmen Joe Dantes oder Wes Cravens war die Familie als Schutzraum am Ende –, führen Lemire und Sorrentino diesen Weg zu seinem Ende, ganz im Einklang mit der Gegenwart des Genres: Der gesamte soziale Raum ist gefährdet, es hat nur noch niemand bemerkt.

Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Das Mietshaus • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 328 Seiten • Hardcover • € 39,80

 

Chuck Brown, David F. Walker, Sanford Greene: Bitter Root Band 3

Jordan Peeles „Get Out“ hat es losgetreten: Das US-Horror-Kino ist wieder ziemlich politisch und fokussiert immer öfter schwarze Perspektiven. „Bitter Root“ ist ein Comic-Pendant zu dieser Entwicklung. Erzählt wird vom Rassismus im Harlem der 1920er Jahre aus afroamerikanischer Perspektive, genauer gesagt der einer Familie von Monsterjägern, die Infizierte jagt, deren rassistischer Hass sie blutrünstigen Monstern mutieren lässt. Die Prämisse ist der ebenfalls im Splitter Verlag erschienenen US-Spukaus-Story „Infidel“ nicht unähnlich, in der die Absenz der Vernunft, das Ressentiment, buchstäblich Ungeheuer gebiert. Chuck Brown und David F. Walker verbinden die Action-Story, deren Bildsprache sich leider nicht von den Superhelden lösen will, mit einem regelrechten Folklore-Inferno, das in den massigen Anhängen von einer Kulturwissenschaftler*innen-Riege erschöpfend aufgedröselt wird. Der vorliegende dritte Band beendet die Serie.

Chuck Brown, David F. Walker, Sanford Greene: Bitter Root Band 3: Vermächtnis • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 128 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Ingo Römling, Torsten Sträter u. a.: Joker. The World

Eine Kurzgeschichtensammlung, die auf demselben Konzept wie vor drei Jahren „Batman. The World“ basiert: Ausgesuchte internationale Teams nehmen sich Batmans Widersacher an, deren Künstler (ein „innen“ kann man sich an dieser Stelle leider sparen) eher in Ausnahmefällen im DC-Superhelden-Kosmos aktiv sind. Das führt zu einem breiten Mix der Stile und Exegesen und ist vielen der zwölf Storys sehr vergnüglich zu lesen. Die deutschen Beiträger Torsten Sträter (ja, genau der) und „Malcolm Max“-Mastermind Ingo Römling etwa verpflanzen den Joker mit süffisantem Witz aufs Wacken-Festival. Auffällig oft wird eine politischere Lesart gewählt, um Rechtspopulismus, Korruption und fatale sozioökonomische Entwicklungen im eigenen Land zu kritisieren. Die Italiener Enrico Brizzi und Paolo Bacilieri verarbeiten den Fall des durch eine Polizeikugel getöteten Demonstranten Carlo Giuliani beim G8-Gipfel in Genua 2001, und das Madrid des „Black Hammer“-Zeichners David Rubin hat der Joker schnell über und schreibt darum Batman eine Karte: „Anständige Bürger werden hier verfolgt, während jene, die Chaos und Hass verbreiten, geschützt werden. Leute applaudieren bei Lügen, selbst wenn sie wissen, dass es Lügen sind, und wer besonders durchgeknallt und mittelmäßig ist, wird von einer überwältigenden Mehrheit der Menschen in wichtige Ämter gewählt. Völlig irre, oder? (…) Ich würde es hier nicht in die Nachrichten schaffen.“

Ingo Römling, Torsten Sträter u. a.: Joker. The World • Panini, Stuttgart 2024 • 168 Seiten • Softcover • € 20,00

 

Karla-Jean von Wissel: Face with Tears of Joy

Face with Tears of Joy war im Jahr 2015 das meist genutzte Emoji weltweit, und so lautet auch der Titel des Sachcomics von Karla-Jean von Wissel, in dem die Zeichnerin die Geschichte der Bildschriftzeichen unter semiotischen, technologischen, philosophischen und kommunikationstheoretischen Aspekten untersucht. Das ist oft sehr lustig und erkenntnisfördernd, weil ihr betörend reduktionistischer Zeichenstil dafür sorgt, dass die Themen niemals in der Theorie versanden und bloß im Wechsel von Textblöcken und talking heads vermittelt würden. Viele Sachcomics sind langweilig, nutzen die Zeichnungen zur Illustration des Inhalts und ordnen das Medium dem Sujet unter. Hier haben die Emojis die visuelle Ebene geradezu okkupiert, und dies trotz eines gewaltigen Recherchekorpus, den man dem Gegenstand auf den ersten Blick gar nicht zutrauen würde. Und so folgt man fasziniert den Gedanken der Autorin, wie sich an vermeintlich global normierten Zeichen ein stetig wandelnder, immer differenzierterer Interpretationsstrom anschließt, die sprachtheoretischen Überlegungen Saussures auf Charles Sanders Peirce treffen, ohne dabei die (nicht nur technologisch-)ökonomischen Zusammenhänge zu übersehen: Oder warum hat sich als Pommes-Emoji wohl ausgerechnet das von Mc Donald’s durchgesetzt?

Karla-Jean von Wissel: Face with Tears of Joy • Ankerwechsel Verlag, Hamburg 2024 • 160 Seiten • Softcover • € 32,00

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