13. Januar 2023

Marvel-Zombies, Richard Wagner und weitere Monster

Phantastik-Comic-Neuheiten im Januar

Lesezeit: 6 min.

Étienne Davodeau inspiziert Frankreichs Natur, Jacques Tardis Herz schlägt für Pulp und Lea Mazé mag Gruftis. Und wer statt Hanteln auch mal Comics stemmen will, dem sei die „Marvel Horror Classic Collection“ ans Herz gelegt, da wird der Sammler zum Gewichtheber.

 

Étienne Davodeau: Das Recht der Erde

Schon in „Lulu, die nackte Frau“ (2012) beschreibt Étienne Davodeau anhand der 40-jährigen Lulu, die sich dem omnipräsenten Rückzug in die Nestwärme der Familie widersetzt, ganz beiläufig, was der Kapitalismus aus Menschen macht, die seinen Produktivitätsgesetzen nicht folgen. Im Nachfolger „Die Ignoranten“ wiederum versucht er die Anziehungskraft des Comics und des Weines mit dokumentarischen Mitteln engzuführen. In „Das Recht der Erde“ nun besingt Davodeau die Schönheit der Natur, begibt sich sozusagen ins Feld und wandert 800 km von der Höhle Pech Merle im Süden bis nach Bure im Norden Frankreichs – von der Höhlenmalerei der frühen Sapiens zum Atommüllendlager ihrer heutigen Abkömmlinge. Unterwegs spricht er mit Wissenschaftler*innen und Expert*innen, um unserem Verhältnis zur Erde auf die Spur zu kommen und streift immer wieder die noch präapokalyptische Frage, warum viele Menschen für den kurzfristigen Erhalt des Gewohnten das Ende all ihrer Lebensgrundlagen in Kauf nehmen. Schon jetzt einer der interessantesten Titel des Jahres.

Étienne Davodeau: Das Recht der Erde • Carlsen, Hamburg 2023 • 216 Seiten • Hardcover • € 27,00

 

Jacques Tardi: Adele Blanc-Sec Sammelband 3

Normalerweise arbeitet sich Jacques Tardi entweder am Ersten Weltkrieg ab oder versteht sich auf Adaptionen großer kriminalliterarischer Werke. Seine 1976 gestartete „Adele“-Serie kombiniert beides: Die emanzipierte und jeder Autorität misstrauende titelgebende Hauptfigur ist Autorin von Schundromanen, kommt ins Paris der Belle Epoque und löst fortan haarsträubendste Fälle, die noch den absurdesten Vertretern der Weird Fiction die Schuhe ausziehen. Und doch zieht sich durch alles ein tief sitzendes Geflecht aus Korruption und Verschwörung, aus Militarisierung und Faschisierung. „Adele Blanc-Sec“ erzählt, so Georg Seeßlen, vom „verkorksten Beginn der Moderne in der bürgerlichen Gesellschaft“ und ist eines der echten Meisterwerke des Mediums. Bei Schreiber & Leser erscheint nun der Abschluss der bibliophil aufbereiteten Gesamtausgabe und der jüngst veröffentlichte letzte Band sogar zusätzlich für alle, die bereits die Einzelalben der Edition Moderne im Regal stehen haben.

Jacques Tardi: Adele Blanc-Sec Band 3 • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 39,80

 

P. Craig Russell: Der Ring des Nibelungen

Hierzulande kennt man P. Craig Russell vor allem durch seine Arbeiten mit Neil Gaiman: „Coraline“, „Nordische Mythen und Sagen“, „American Gods“ und natürlich „The Sandman“. Die erste bedeutende Phase seines Werks besteht allerdings aus einer Reihe Opernadaptionen, von denen bislang nur der „Zauberflöte“ 1991 eine deutsche Übersetzung in drei Alben vergönnt war. 32 Jahre später folgt Cross Cult mit dem ziegelsteindicken „Ring der Nibelungen“, für den Russell 2001 einen Eisner Award erhielt. Kompakt gesammelt ergibt das 450 Seiten Richard Wagner. Muss man aushalten können. Dabei hilft vielleicht der Gedanke, dass sich der glühende Antisemit angesichts eines schwulen Amerikaners, der aus seinem teutonischen Opus magnum eine Bildergeschichte macht, im Grabe umdrehen würde.

P. Craig Russell: Der Ring des Nibelungen • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 448 Seiten • Hardcover • € 49,99

 

Lea Mazé: Die Gruftis

Das Marketing hinter dem Begriff Graphic Novel hat uns jahrelang eingebläut, dass Comic und Anspruch keine Gegensätze sind. Weil Kindercomic-Imprints derzeit sehr en vogue sind (selbst bei Verlagshäusern, die sich eigentlich als Prosalieferanten verstehen), müssen wir jetzt wieder lernen, dass man gezeichnete Geschichten auch Kindern und Jugendlichen zumuten kann. Beim zwölfjährigen Splitter-Imprint Toonfish wird deshalb verstärkt von (Semi-)Funnies auf Kinder- und Jugenderzählungen umgesattelt. Der Genre-Fokus ist aber weiterhin spürbar. „Die Gruftis“ von der französischen Zeichnerin Lea Mazé ist eine charmante Kriminal-Story mit Mystery-Einschlag. Mit cartooneskem, luftig-elegantem Strich schickt sie ihre beiden jungen Protagonisten, das Geschwisterpaar Clara und Colin, in die Mobbinghölle Schule und auf den Friedhof, wo ihre dauergestressten Eltern ein Bestattungsunternehmen betreiben. Und weil den Erwachsenen in dem stringent komponierten Setting wahrlich nicht zu trauen ist, stoßen Clara und Colin allseits auf taube Ohren, nachdem sie in einer Friedhofskapelle statt eines erhofften Schatzes die Spuren eines Mordes entdecken. Was folgt, ist ein Gottesacker-Krimi mit einem großen Herz für Außenseiter.

Lea Mazé: Die Gruftis • Toonfish, Bielefeld 2022 • 240 Seiten • Hardcover • € 39,95

 

Erwan Courbier, Benoit Dahan: Psycho Investigator Band 2 Das Erbe des Hundertjährigen

Benoit Dahans „Im Kopf von Sherlock Holmes“, 2021 veröffentlicht, erwies sich als betörendes Formspiel des französischen Zeichners, das seinen Titel beim Wort nahm: In irrwitzigen, grandios überladenen Seitenkompositionen befanden wir uns mitten im Kopf des Doyle-Detektivs und verfolgten seine Gedankengänge beim Lösen eines Falls als freudianische Burleske. Nun schiebt der Splitter Verlag in zwei Bänden Dahans Debüt „Psycho Investigator“ hinterher, das auf allen ästhetischen Ebenen wie die Blaupause zu Sherlock anmutet. Diesmal folgen wir dem Psychoanalytiker Simon Radius, der ebenfalls allerlei Verdrängtes zutage fördert, indem er buchstäblich den Verstand seiner Patienten betritt. Dabei kann es sich auch mal um einen Kanarienvogel handeln, neben dessen Käfig ein Verbrechen stattfand. Stilistisch weitaus zurückhaltender als Sherlock, empfiehlt sich „Psycho Investigator“ für ungeübte Comicleser*innen als als Einstieg in Benoit Dahams Panelwelten.

Erwan Courbier, Benoit Dahan: Psycho Investigator Band 2 Das Erbe des Hundertjährigen • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 80 Seiten • Hardcover • € 25,00

 

Brian K. Vaughan, Fiona Staples: Saga Band 10

Brian K. Vaughan ist das Vorzeigegesicht der US-amerikanischen Creator-Owned-Comics. Als sein gemeinsam mit Zeichnerin Fiona Staples realisiertes Zentralwerk „Saga“ mit Branchenpreisen überhäuft wurde – darunter Eisner-, Harvey- sowie Hugo- und British-Fantasy-Awards –, war er bereits gestandener Drehbuchautor für die Fernsehserien „Lost“ und „Under the Dome“. Kürzlich folgten TV-Verfilmungen der von ihm geschriebenen Comics „Y: The Last Man“ und „Paper Girls“. Offensichtlich hat er den idealen Kompass, sich zwischen Comic und Film zu navigieren, gefunden. 2018, nach 54 „Saga“-Heften bzw. neun -Sammelbänden samt einer Cliffhanger-Option, stellten Vaughan und Staples eine mindestens einjährige kreative Pause von ihrer Space Opera in Aussicht. Daraus wurden letztlich rund vier Jahre, nun setzt Cross Cult mit dem zehnten Sammelband die Image-Serie fort.

Brian K. Vaughan, Fiona Staples: Saga Band 10 • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 168 Seiten • Hardcover • € 22,00

 

Marvel Horror Classic Collection

In den 70ern hatten die US-amerikanischen Horrorcomicmagazine Creepy und Eerie aus dem Hause Warren Publishing bewiesen, dass die Ära des restriktiven Comics Code nur noch auf dem Müllhaufen der Geschichte eine Zukunft haben würde. Und wenn die Kleinen etwas erfolgreich vormachen, finden schon bald die Großen den Weg an den Tisch, und so brachte Marvel ebenfalls eine Flut an Horrortiteln auf den Markt. Gewürm und Verwestes tummelte sich in Reihen wie Astonishing Tales, Strange Tales, Supernatural Thrillers, Dead of Night und Bizarre Adventures oder bekam, wie die Universal-Horrorpioniere Dracula, Frankenstein und der Werwolf, sogar eigene Serien spendiert, wo sich ihre Wege gelegentlich mit Marvel-Superhelden kreuzten. Auf über 1300 Seiten wird in der Anthologie „Monster Horror Classic Collection“ ein Querschnitt aus dieser wilden Phase geboten, das Gros sogar als deutsche Erstveröffentlichung. Ein monströses Stück Comicgeschichte, dessen Edition noch vor zehn Jahren völlig undenkbar gewesen wäre.

Chris Claremont, John Buscema, Stan Lee u. a.: Marvel Horror Classic Collection • Panini, Stuttgart 2022 • 1332 Seiten • Hardcover • € 125,00

 

Jérôme Le Gris, Benoit Dellac, Didier Poli: Hawkmoon Band 1 Das schwarze Juwel

Bei Cross Cult erscheint mit „Corum“ eine US-amerikanische Reihe älteren Datums, die Moorcocks Werk in den Comic überträgt, beim Splitter Verlag findet sich mit „Elric“ eine zeitgenössische Adaption französischer Provenienz. Dasselbe Kreativ-Team startet nun den ersten vierbändigen Zyklus um Hawkmoon, einen der weiteren „Ewigen Helden“ Moorcocks. Wie schon bei „Elric“ ist das durchaus ein Fest für die Augen, ebenso aber auch eine um alle Ambivalenzen der literarischen Vorlage bereinigte Schlachtplatte, die, jedenfalls bislang, Hawkmoon zur standardisierten Genre-Rächerfigur komprimiert. Warum Moorcock einst zu den Initiatoren der britischen New Wave zählte, wird sich anhand dieses Serienauftakts jedenfalls nicht erschließen lassen. Bester Satz für den Titel eine Punkplatte: „Sei verflucht, Embryo der Finsternis!“

Jérôme Le Gris, Benoit Dellac, Didier Poli: Hawkmoon Band 1 Das schwarze Juwel • Splitter Verlag, Bielefeld 2022 • 56 Seiten • Hardcover • € 16,00

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