27. Mai 2015 1 Likes

Im Reich des Unwirklichen

Die Albtraum-Welten des Chicagoer Künstlers Henry Darger werden in Paris ausgestellt

Lesezeit: 3 min.

Haben Sie von Henry Darger gehört? Vielleicht nicht: Der eigenbrötlerische Hilfshausmeister eines Chicagoer Krankenhauses verstarb am 13. April 1973 im Altenheim der Little Sisters of the Poor, in dem bereits sein Vater 68 Jahre zuvor gestorben war. Vielleicht aber auch doch: Denn Henry Darger wurde nach seinem Tod berühmt. Seine Vermieter, der Bauhaus-Künstler Nathan Lerner und dessen Frau Kiyoko, beauftragten 1972, nachdem Darger ins Altenheim gekommen war, die Nachbarn mit dem Ausräumen der Wohnung, in der Darger 32 Jahre lang alleine gelebt hatte. Zuvor hatte Darger eingewilligt, dass alles, was man in seiner Wohnung fand, weggeworfen werden dürfe. Die Nachbarn entdeckten und beseitigten ganze Sammlungen: Bindfäden, aus den Mülltonnen geklaubt, zusammengeknotet und zu Knäuel aufgerollt; Pepto-Bismol-Fläschen (ein Magenmittel, das es in den Geschmacksrichtungen „Original“ und „Kirsche“ zu kaufen gab), kaputte Brillen, Devotionalien, Spielzeuge, Schuhe, Ziegelsteine unter dem Bett und vor allem Druckerzeugnisse, Berge von Katalogen, Comics, Büchern, Zeitungen. Dazwischen stießen sie auf Dargers eigenes Werk – und riefen den kunstverständigen Vermieter.

Henry Darger erschuf sich eine Fantasiewelt, die ihren Ursprung vermutlich in seiner Kindheit hat: Seine Mutter starb bei der Geburt ihres zweiten Kindes, einem Mädchen, das zur Adoption freigegeben wurde und das Darger nie kennenlernte. Er war gut in der Schule, machte aber durch seltsame Geräusche in Kehle und Nase auf sich aufmerksam, sodass er in das Lincoln-Asyl für schwachsinnige Kinder in Illinois eingewiesen wurde. Der Gesundheitszustand seines Vaters war so schlecht geworden, dass er sich nicht mehr um seinen Sohn kümmern konnte. Die Zeit dort handelt er in seiner 1968 begonnenen Autobiografie The History of my Life nur sehr kurz ab, aber die wenigen Zeilen lassen erahnen, dass körperlicher Missbrauch jedweder Form dort weit verbreitet waren (im Übrigen befasst Darger sich in diesem Buch nur gut 200 Seiten lang mit seinem eigenen Leben und schwenkt dann um auf die Beschreibung eines Tornados namens „Sweetie Pie“, die 4.672 Seiten lang weitergeht).

Was die Aufmerksamkeit des Ehepaares Lerner zuerst auf sich zog waren die riesigen Aquarellbilder, mit denen Darger sein Hauptwerk, das 15.145 Seiten umfassende (tief einatmen!) The Story of the Vivian Girls, in What is Known as The Realms of the Unreal, of the Glandeco-Angelinnian War Storm, as caused by the Child Slave Rebellion. Während nicht einmal die glühendsten Darger-Exegeten dieses monumentale Manifest je ganz gelesen haben, erzielen seine Bilder heute Höchstpreise auf dem Kunstmarkt und haben es in die großen Museen dieser Welt geschafft. Sie illustrieren die brutale Geschichte des Krieges im Reich des Unwirklichen, auf Planeten, zu denen auch die Erde gehört, die allesamt einen gigantischen dunklen Stern umkreisen, der namenlos bleibt. Die Glandelianer, die uniformiert sind wie die Soldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, kämpfen gegen die angelinnianischen Nationen. Die Glandelianer versklaven, foltern, vergewaltigen und töten Kinder auf bestialische Weise – insgesamt 56.789 von ihnen. Irgendwann erheben sich die Kindersklaven gegen ihre Unterdrücker, angeführt von den sieben Vivian-Schwestern, katholischen Prinzessinnen, die meistens spärlich bekleidet oder ganz nackt in den Kampf ziehen. Auf den Bildern ist zu sehen, dass jede der Schwestern auch einen Penis hat – sie sind also körperlich gesehen auch Brüder.

Dargers Illustrationen sind kolorierte Collagen. Er pauste Bilder aus eben jenen Magazinen, Zeitschriften, Büchern und Comics ab, die er sammelte, vergrößerte sie fotomechanisch, stellte seine Bilder zusammen und kolorierte sie dann. Sie zeigen, neben den Grausamkeiten der Soldaten den Kindern gegenüber, auch überlebensgroße Blumen, bunte Fantasielandschaften, geflügelte Monster, Chimären und natürlich seine sieben Heldinnen, die auch in der Fortsetzung, Crazy House: Further Adventures in Chicago, wieder auftreten.

Ausgangspunkt für The Story of the Vivian Girls war das Verschwinden des Mädchens Elsie Paroubek, das später erwürgt in einem Abwassergraben aufgefunden wurde. Darger schnitt einen Zeitungsartikel über den Fall aus der Cicago Daily News aus, den er jedoch 1912 verlor. Er stellte Gott schriftlich ein Ultimatum, dass er ihm das Bild wiederbeschaffen möge, sonst werde er die Glandelianischen Streitkräften den Krieg gewinnen lassen. Gott blieb unbeeindruckt, und Dargers Schreibwut nahm seinen Lauf (neben den bereits erwähnten Büchern, die er selbst band, führte Darger auch Tagebuch und machte detaillierte Wetteraufzeichnungen).

45 seiner Aquarelle gelangten jetzt ans Pariser Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, wo sie vom 19.5. bis zum 11.10.2015 ausgestellt werden.

Weitere Informationen finden Sie auf der Homepage des Musée d’Art Moderne.

 

Bilder: Spiegel.de

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