3. Mai 2017 1 Likes

Abstinenz ist Hochverrat

Eine erste Leseprobe von Matthias Odens genialem Debütroman „Junktown“

Lesezeit: 15 min.

So sieht unsere Zukunft also aus: Langeweile ist verpönt, Konsum wird gefördert und der Rausch ist staatlich kontrollierte Bürgerpflicht. Die Welt, die Matthias Oden in seinem Debütroman „Junktown“ (im Shop) entwirft, klingt erst mal nach einer riesigen Dauerparty, doch diese scheinbar so perfekte Utopie hat auch ihre Schattenseiten. Ziemlich gefährliche Schattenseiten sogar, wie Solomon Cain, seines Zeichens Inspektor bei der Geheimen Maschinenpolizei, schon bald herausfindet. Eigentlich soll er nur in einem ganz gewöhnlichen Mordfall ermitteln, doch dann stößt er auf ein vertracktes Netz aus Lügen, Intrigen und Machtspielchen, das es zu entwirren gilt – im Drogenrausch selbstverständlich.

Für alle, die schon einmal in den Roman, der am 09. Mai. 2017 erscheint, hineinschnuppern wollen, gibt es hier eine erste Leseprobe. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre und sagen: „Herzlich Willkommen in Junktown!“

 

 

1

Die Sonne hievte sich über den Horizont und schien nieder auf ein Junktown, das den Morgen so teilnahmslos über sich ergehen ließ wie eine Cracknutte den letzten Freier nach einer viel zu geschäftigen Nacht. Dunkel ging über in Hell, ohne dass sich die Leblosigkeit der einen Tageshälfte von jener der anderen unterschieden hätte. In der Nördlichen Industriebrache bretterte Solomon Cain auf seinem Adrenalinchopper durch eines der vielen Gewerbegebiete der Stadt, die bereits vor Jahren den Tod konjunktureller Unterkühlung gestorben waren und nun tagein, tagaus unter einem gleichmütigen Himmel vor sich hinrotteten. Von Sandstürmen angenagte Schlote reckten sich windschief ins fahle Firmament, die rotbraun oxidierten Tanks und Förderbänder zu ihren Füßen wirkten wie ein Stillleben, das ein manisch-depressiver Künstler arrangiert hatte. Ein gutes Dutzend Morphin-Silos lag, zusammengebrochen unter der Wucht der Jahre, wirr durcheinandergetürmt wie gigantische Kegel, die niemand mehr aufstellen würde, und über einer zerplatzten Bitumenauffahrt schwappte an quietschenden Ketten ein ausgeblichenes KRAFT DURCH KONSUM-Banner in der Morgenbrise hin und her.

Cain war froh, das Elend nur undeutlich wahrzunehmen.

Die drei Zäpfchen, die er sich vor Dienstantritt in den Mastdarm geschoben hatte, fingen an, ihre Wirkung zu tun: 900 Milligramm Tramadol schwemmten seine Blutgefäße. An den Rändern zerlief seine Sicht wie die Farben auf der Palette eines Malers, und er musste die Augen zusammenkneifen, um mit seinem schummrigen Tunnel-blick die Schlaglöcher rechtzeitig zu erkennen. So konnte er sich wenigstens auf die Stöße vorbereiten, denn an Ausweichen war nicht zu denken: Cain wusste aus leid-voller Erfahrung, dass er unter Tramadoleinfluss seiner Auge-Hand-Koordination so viel Vertrauen schenken sollte wie einem verschuldeten Meth-Dealer. Wenn er erst mal damit anfing, um die Schlaglöcher herumzulenken, würde seine Fahrt sehr schnell in einer der Fabrikmauern enden, von denen er wusste, dass sie sich hinter den graubraunen Schlieren zur Linken und Rechten seines Blickfelds verbargen.

Aus dem Limbus seiner Wahrnehmung erschien ein weiteres Schlagloch, raste ihm entgegen, eine Monstrosität des Asphalts, deren unheilvolle Annäherung er ebenso schicksalsergeben wie angespannt zur Kenntnis nahm. Das Weiß seiner Knöchel wurde noch ein bisschen weißer, als er den Griff um den Lenker verstärkte. Der dunkel gähnende Schlund kam näher, kam näher und – Kazang! – war er hindurch und darüber hinweg.

Schweiß legte sich wie ein eiskalter Quecksilberpanzer um seine Schultern, rann das Rückgrat hinab, durchnässte seine Dederon-Unterhose und versickerte zwischen seinen Arschbacken. Abwärtsspirale, dachte er, das Leben ist eine beschissene Abwärtsspirale. Hätte er sich nicht die Zäpfchen reingedrückt, hätte er den Schlaglöchern ausweichen können, würde sein Steiß nicht schmerzen, würde sein Schließmuskel nicht im körpereigenen Kondenswasser schwimmen. Hätte, hätte, würde, würde – die Poesie der Fatalisten, dachte Cain, und er war einer ihrer Meister, ein ganz Großer, ein lamentierender Dichterfürst mit einer nassen Rosette.

Kazang.

Die Leiche wartete direkt hinter den stillgelegten Heroin-fabriken auf ihn.

Cain fuhr durch das Geländetor auf sie zu, ihr massiger Leib zeichnete sich dunkel gegen den Himmel ab. Lang und hoch wie ein Häuserblock war sie, ganz brauner Stahl, die Signalleuchten an ihrer Flanke erloschen. Oben auf der Gangway des ersten Stocks tauchte aus den Farbschlieren ein fettiger Klecks auf, eilte die Steigleiter hinab und auf Cain zu.

Es war Wachtmeister Zachäus Brom, und er walzte durch den Morgen wie eine Dampframme. Cain stellte sein Krad ab und seufzte.

»Ah, die Gemapo!« Broms Stimme war der tonale Zwillingsbruder seiner Erscheinung: ungeschlacht und schwer zu ignorieren. »Immer wieder eine Freude, die Kollegen zu sehen! Vor allem am Wochenende, fleißig, fleißig.« Er steckte die Daumen in den Gürtel, wippte auf den Absätzen und musterte Cain mit impertinenter Amüsiertheit.

»Was ist hier los?« Cain wedelte mit der linken Hand in Richtung Brutmutter, ohne Brom eines Blickes zu würdigen. Der Wachtmeister der Bedarfspolizei war ein Kotz-brocken in Uniform, fantasielos bis zum Abwinken, selbst wenn man ihn bis zu den Augäpfeln mit Dope vollpumpen würde. Es passte ins Bild, dass er hässlich war wie die Nacht. Unter einem pomadisierten Haarkissen kämpften ein schiefes Augenpaar, eine mitesserzerpolkte Nase und die grobschlächtigen Lippen verbissen um den Titel des missratensten Körperteils – nur um von der fassförmigen Leibesmitte klar auf die Plätze verwiesen zu werden. Zwei viel zu kleine Füße rundeten alles auf eine zwar lächerliche, aber durchaus konsequente Art ab.

Cain kannte die Akte von Brom. Ein mies gelauntes Schicksal wollte es, dass er immer wieder mit ihm zusammenarbeiten musste, und irgendwann hatte er sie sich kommen lassen, nur um zu wissen, wer ihm da regelmäßig den letzten Nerv raubte. Brom war, so hieß es in den Unterlagen, maximal für den mittleren Dienst geeignetes Genmaterial mit teilweise deutlich ausgeprägten Defiziten im Humankontakt. Von Verwendung in eigen-verantwortlichen Arbeitsprozessen ist abzusehen. Selten hatte sich Cain einer Dienststelle so verbunden gefühlt wie beim Lesen dieser Zeilen. Das eigentliche Problem war nur: Brom hatte von seiner Unzulänglichkeit keine Ahnung. Und aus irgendeinem Cain schleierhaften Grund neigte Brom dazu, jede ihrer Begegnungen mit der Theatralik eines gönnerhaften Vorgesetzten zu beginnen.

»Der gute alte Adrenalinchopper!«, startete Brom einen zweiten Versuch, Herablassung mit Small Talk zu verbinden, und tätschelte Cains Krad. »Immer noch nicht befördert worden, was? Hab gehört, die Gemapo hat jetzt für Hauptinspektoren welche mit Amphetaminmotor. Die gehen ab wie Zäpfchen.«

Zäpfchen. Cains Unterhose klebte plötzlich noch ein bisschen klammer an den Backen, aber er schluckte seine Antwort hinunter. Heute Morgen hatte er sich selbst im Spiegel seines Bads gesehen: ein Mittfünfziger mit ergrauten Haaren und jener Art von Falten, die zu wenig Schlaf und zu viel Drogen gruben. Und jetzt gerade fühlte er sich noch fertiger, als er aussah. Aber so weit, dass er sich von Brom würde provozieren lassen, so weit war er dann doch noch nicht. Unsicheren Schritts wankte er in Richtung Brutmutter und steckte die Hände in die Taschen seines stahlgrauen Uniformmantels. »Also, was ist hier los?«, wiederholte er seine Frage.

Brom, der sich nach zwei gescheiterten Gesprächsversuchen schließlich doch seines niedrigeren Dienstrangs besann, zuckte mit den Schultern. »Bislang ungeklärter Maschinenexitus. Meldung kam gegen halb sechs Uhr morgens. Bin gleich los, und als ich gesehen habe, dass die Leiche ein HMW ist, hab ich bei euch Jungs durchgerufen.«

Natürlich hast du das, dachte Cain. Dienstvorschrift ist Dienstvorschrift, und ein Höheres Maschinenwesen, das ist so weit über deiner Zuständigkeit, dass du dein Hirn sofort wieder in den Dämmermodus zurückgeschaltet hast. Andererseits: Was hätte ein mitdenkender Brom schon für einen Beitrag leisten können?

Cains Blick zitterte von der toten Brutmutter hinaus aufs Gelände. Ein hoher, engmaschiger Drahtzaun umgab das Areal, darauf dichte Wolken Stacheldraht als Übersteigschutz. Ein gedrungenes Gebäude, ein Transformator- oder Wartungsschuppen vielleicht, in der vorderen linken Ecke. Auf der anderen Seite glaubte er, eine Pumpstation ausmachen zu können. Er ging ein paar Schritte, bis er an der Brutmutter vorbeischauen konnte. Vierhundert Meter bis zum Zaun, schätzte er, und da, am anderen Ende, da reckten sich noch eine Handvoll weiterer Maschinenkörper in den Himmel.

»Sind das auch Brutmütter?«, fragte er, während er die Augen gegen die Morgensonne abschirmte und vergeblich versuchte, die Kolosse näher zu bestimmen.

Brom, der ihm gefolgt war, grunzte zustimmend. »Sechs an der Zahl. Und ein Brutpfleger.«

»Sind die etwa auch …?«

»Schlafen.«

»Wenigstens etwas.« Cain nahm die Hand wieder runter und wandte sich um. »Was ist das hier überhaupt? Eine illegale Brutstätte? Ich hab kein Firmenschild am Eingang gesehen.«

»Gehört alles Pregnantam. Nutzen die als Reserve, wenn die Gebärhöfe überfüllt sind. Ist hier zwar verkackt hässlich, aber die Grundstückspreise sind kaum zu unterbieten – wer will schon in die Nördliche Industriebrache? Und mit den Brutmüttern können sie’s ja machen.«

»Hm. Pregnantam weiß Bescheid?«

»Sind auf dem Weg.«

»Und der Mechapathologe?«

»Müsste jeden Moment hier sein.«

Pregnantam. Cain kramte in seinem Hirn nach dem, was er über den Laden wusste. Viel war es nicht. Ein Gebärkonzern mittlerer Größe, Hauptsitz hier in Junk-town. Eines der Unternehmen, die Generation um Gene-ration neuer Staatsbürger ins Land pressten, Junkies für die Partei, maßgeschneidert und nach den Vorgaben des Fünfjahresplans. Bislang hatte er nicht mit Pregnantam zu tun gehabt, aber – der Tunnelblick inspizierte den stählernen Leib vor ihm – das würde sich nun ganz sicher ändern. »Verdammt jung«, sagte er.

»Was?« Brom betrachtete abwesend Cains Chopper.

»Holen Sie das Absperrband und sperren Sie die Umgebung ab, weiträumig. Jetzt ist es« – Cain bemühte sich, die Zeigerstellung auf seiner hervorgeholten Taschenuhr zu erkennen – »sieben. In spätestens einer halben Stunde werden die ersten Brutmütter ihre morgendlichen Krämpfe bekommen und aufwachen, und bis dahin sollte der Tatort gesichert sein. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind ein paar Gebärmaschinen, die hier in heller Aufregung rumwalzen, weil ihre Kollegin hops gegangen ist.«

»Tatort?« Brom fuhr herum, sein Gesicht zwei glotzende Augen.

»Was glauben Sie denn, Mann? Die Brutmutter hier hat noch keine drei Jahre auf dem Buckel, an Altersschwäche wird sie kaum gestorben sein. Und wenn hier nicht der sehr unwahrscheinliche Fall eines letalen technischen Versagens vorliegt, dann muss wohl jemand nachgeholfen haben, oder? Brom, wachen Sie auf, Sie sind mittendrin in einer Mordermittlung.«

Die Mischung aus Sensationslust, plötzlich aufflammendem Diensteifer und Sorge vor unbekannten Arbeitsabläufen, die über Broms grobporiges Gesicht flackerte, amüsierte Cain beinahe. Dann entschied er, dass er dafür keine Zeit hatte, eilte mit unsicheren Schritten auf die Brutmutter zu, zog sich das Geländer der Gangway hoch und verschwand, den völlig überforderten Brom sich selbst überlassend, in der Einstiegsluke.

Stille empfing ihn.

Tote Maschinen waren nichts Ungewohntes für Cain, sie waren Teil seines Berufs, aber die Atmosphäre, die ein HMW nach dem Ableben in seinem Innern hinterließ, war jedes Mal aufs Neue überwältigend. Nichts regte sich. Kein rhythmisches Stampfen von Pleuel- und Kolbenstangen, kein Belfern der Kessel mehr, das von den Wänden wieder und wieder zurückgeworfen wurde, kein Stakkatorattern der Lochkartenstanzer – vollkommene, totale Geräuschlosigkeit.

Cain legte eine Hand auf das Geländer des Laufgitters, auf dem er stand. Nichts. Der Motor, der sonst jede Strebe und jede Schraube dieses Körpers leicht vibrieren ließ, war nicht mehr. Zum ersten Mal seit ihrer Fertigung war die gigantische Maschine zur Ruhe gekommen. Verstummt für immer.

Wir, dachte Cain, wir sterben, und unser Körper bekommt Flecken, fängt an zu stinken und wird von Bakterien zersetzt. Und irgendwann sind wir weg. Ein Höheres Maschinenwesen aber wandelte sich nach seinem Tod zu etwas Ehrfurchtgebietendem, zu einem Mausoleum der Ingenieurskunst, ein stilles Sinnbild des strebsamen Schaffensprozesses, für den es einst vom Band gelaufen war; erhaben, edel, ewig.

Wieder fiel ihm auf, wie jung die Brutmutter war. Nirgends entdeckte er Rost, das Laufgitter war blank und das Geländer noch nicht abgewetzt. Die Luft roch nach kaltem Stahl und nicht nach dem Mief aus Östrogen, Schmieröl und Babypuder, der für ältere Brutmütter so charakteristisch war. Die Menopause setzte bei ihnen mit etwa fünfundzwanzig Jahren ein; die meisten ließen sich dann umrüsten und nahmen eine Stelle als Drogenküche an oder als Geldwäscherei, bis irgendwann die ersten Verschleißerscheinungen auftraten, ihr Innenleben immer störanfälliger wurde und sie schließlich den natürlichen Tod der Materialermüdung starben. Aber selbst die Billigmodelle unter ihnen konnten das Aussetzen ihres Zyklus um gut zwei Jahrzehnte überleben, und die hier hatte noch nicht mal die erste Hälfte ihres ersten beendet.

Er trat ein paar Schritte vor, weiter hinein in die Tote. Der Klang seiner genagelten Stiefelsohlen auf dem Laufgitter hallte metallen nach, und jedes Echo kam ihm beinahe vor wie ein Sakrileg. Ein paar Notleuchten, die beim Tod der Brutmutter automatisch eingesprungen waren und die Standardbeleuchtung ersetzt hatten, glommen im Dunkeln. In ein paar Stunden, wenn ihre Batterien erschöpft waren, würden auch sie erlöschen.

Cain legte den Kopf in den Nacken und sah bis ganz nach oben. Sein Sichtfeld franste an den Rändern immer noch aus, aber das änderte nichts an dem Anblick, der auf ihn niederstürzte. Es war ein Übereinander von Ebenen und Halbebenen, mit Steigleitern verbunden, halb verschluckt von der Dunkelheit und acht Stockwerke hoch bis hinauf zur Hirnkammer. Metall türmte sich auf Metall: Röhren, Kessel, Laufgitter – ein Industriepark, der in die Höhe gewachsen war.

Von hier sah jede Ebene mehr oder weniger gleich aus, aber Cain kannte die Anatomie einer Brutmutter besser als seine eigene. Erster und zweiter Stock: Brutkammern, fing er stumm an, die Stockwerke abzuzählen, und seine Lippen formten die Silben mit wie die Worte eines Gebets. Dritter Stock: Gebärstation. Vierter Stock: Eichstation. Fünfter Stock: Aufzucht und Pädiatrie. Sechster Stock: Kindergarten. Siebter Stock: Kontrollstation und Lebenserhaltung. Achter Stock: Nervensystem und Hirnkammer. Unter ihm das nach oben offene, zwei Stockwerke hohe Erdgeschoss: Maschinendeck, Motor und Kettenlaufwerke. Brutmütter bewegten sich nicht oft. Taten sie es aber doch einmal, dann war es, als würde ein Berg beseelt. Cain ließ den Kopf nach vorne klappen und schaute hinunter. Im Halbdunkel erspähte er einen der gigantischen Gleiskettenantriebe hinter den Motorblöcken.

Und irgendwo zwischen all dem Stahl wartete er auf ihn: der Grund, warum diese Gebärfabrik ihr Leben hatte lassen müssen. Cain spürte, wie sich bei diesem Gedanken die Atmosphäre wandelte, so wie sie es immer tat. Die andächtige Stille wurde zur Sprachlosigkeit des Opfers, das Mausoleum verschwand, und was es zurück-ließ, war ein Rätsel aus totem Metall, eine Leiche, aus der er die Antworten, die er brauchte, herausklauben würde, ein Mittel zum Zweck, um am Ende eine Akte mit einem Stempel versehen und vergessen zu können.

Barnabas Stukk kam gerade rechtzeitig.

Die spillerige Gestalt des Mechapathologen schlüpfte durch die Einstiegsluke.

»Sol.«

»Bas.«

»Siehst scheiße aus.«

»Tramadol.«

»600?«

»900.«

»Oha. Bluttest?«

»Morgen.«

»Klar. Dass Solomon Cain die Mindestwerte auch mal ohne Endspurt erreicht, werde ich wohl nicht mehr erleben.«

»Du mich auch.«

»Ist doch so. Alle ABS sofort am Monatsanfang verbrauchen, dann Prokrastinieren bis ultimo, und zum Schluss alles auf einmal. Quasi auf den letzten Drücker.« Stukk kicherte über sein Wortspiel, und seine spitze Nase zitterte dabei, als schnupperte sie dem Witz nach.

Stukk, ging es Cain durch den Kopf, fehlten nur noch die Schnurrhaare, und man könnte ihn überhaupt nicht mehr von einem Maulwurf unterscheiden. Von einem ölverschmierten Maulwurf. Keine zwei Stunden nach Schichtbeginn sah sein Partner aus, als hätte er in einer Werkstatt übernachtet. Wahrscheinlich hatte er das sogar. Aber leider war er gar nicht so im Unrecht: Cain verbrauchte seine Abstinenzberechtigungsscheine in aller Regel, sobald er sie bekam. Und wenn er keine offenen Fälle bearbeitete, konnte er auch keine weiteren beantragen. Das würde sich jetzt zwar ändern, trotzdem bildete Stucks Spott sein Konsumverhalten zwar überzogen, aber doch recht wahrheitsgetreu ab.

»Sehr witzig«, knurrte Cain. »Aber dir wird das Lachen schon vergehen. Hier wartet eine Menge Arbeit auf dich.«

Bei Untersuchungen von Todesfällen setzte die Gemapo Inspektoren und Mechapathologen immer als Gespann ein. Der eine war für die eigentliche Ermittlung zuständig, der andere für die Arbeit am und im Opfer. Es war eine erprobte Zweiteilung, die aber in Fällen wie diesem die Lastenverteilung etwas ungleich erschienen ließ: Die vollständige Obduktion würde Cains Partner Ewigkeiten beschäftigen.

Stukks Knopfaugenblick wanderte durch die Brutmutter. »Mach dir um mich keine Sorgen, aber du siehst aus, als ob du was gebrauchen könntest.« Er griff in eine Tasche seines grauen Uniformblaumanns und zog zwei Spritzampullen heraus. »Na, wären diese Babys hier was für dich? 0,8 Milligramm Naloxon. Ich mache dir einen guten Preis.« Er kicherte wieder.

Cains Hemd klebte am Rücken, die Unterhose war feuchter Stoff zwischen seinen Beinen. Sein Atem ging schwer, und die Welt sah immer noch aus wie ein Fensterbild. Der Opioidantagonist in Stukks Hand war so verlockend wie ein Glas Wasser in der Hölle.

»Geht schon, danke.«

»Wie du meinst.« Stukk zuckte mit den Schultern und steckte die Ampullen wieder ein. »Also, was ist hier passiert?«

»Das, mein lieber Barnabas, würde ich gern von dir wissen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, noch nicht.«

»Aber eine Vermutung.«

»Dann sperrt Brom also das Gelände ab?«

»Wie ein Besengter. Ich habe ihn selten so dienstbeflissen gesehen.«

Cain schnaubte.

»Du glaubst, dass das hier ein Tatort ist?«

»Ich habe noch nie eine so junge und so tote Brutmutter gesehen. Du etwa?«

Stukk schürzte die Lippen. »Damals auf der Akademie, da hatten wir einmal diese Brutmutter, eine Uteri 911, flottes Teil. Die war in einen Kinderhandelring verwickelt gewesen oder so. Irgendwas in der Art. Wir haben sie nach der Giftspritze direkt in die Sezierhalle bekommen. Als Anschauungsobjekt. Das war was, sage ich dir, Jungejunge! Fünfzehn Monate war die erst in Betrieb gewesen, so was Frisches hast du noch nicht gesehen. Und die hier dürfte etwa doppelt so alt sein. Insofern …«

»Bas.«

»Schon gut, schon gut, ja, hast recht, das Mütterchen hier wird kaum eines natürlichen Todes gestorben sein?«

»So. Und was hältst du dann davon, wenn du jetzt deinen Arsch nach da unten oder nach da oben schwingst oder wohin auch immer du willst, und mit der Arbeit anfängst?«

»So gute Ideen bin ich von dir gar nicht gewohnt.« Stukk grinste ihn an. »Ich nehme mir als Erstes die Lebenserhaltung vor, vielleicht finde ich ja da schon was. Aber weißt du, was du inzwischen machen kannst?«

»Ermitteln vielleicht?«

»Wenn du willst, nur zu. Aber erst mal darfst du dem Tross von Pregnantam-Anzügen, die ich auf dem Weg hierher überholt habe, erklären, warum du ihren netten kleinen Brutpark dichtmachst.«

Cain stöhnte auf. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Eine maschinenpolizeiliche Ermittlung in einem Kapitalverbrechen stellte die Betriebsstätte automatisch und für ihre gesamte Dauer unter die Leitung der Gemapo, die erst mal die Produktion stoppte, um Ruhe zu haben. Standardvorgehensweise. Dass er den Brutpark von Brom nun unwiderruflich und offiziell als Tatort ab-sperren ließ, bedeutete für Pregnantam vor allem eines: Verdienstausfall. Sieben Brutmütter, die unnütz rumstanden und das Gebären auf unbestimmte Zeit einstellten – das würde teuer werden.

Sechs, korrigierte sich Cain, nur noch sechs. Aber er wusste, dass das nichts änderte und dass der Konzern alles tun würde, um die Freigabe des Brutparks so schnell wie möglich zu erreichen.

Die Gruppe, von der Stukk gesprochen hatte, bestand mit Sicherheit zur Hälfte aus Anwälten, und sie würden seine Entscheidung anfechten, weil es das war, was Anwälte eben machten. Kübel voll notarieller Scheiße würden sie über ihm auskippen.

»Du brauchst nicht zufällig Hilfe da oben?«, fragte er resigniert und wusste schon, wie die Antwort ausfallen würde.

»Nicht um alles in der Welt.« Stukks Grinsen wurde noch breiter. Der Mechapathologe ergriff die nächste Steigleiter und fing an, an ihr emporzuklettern. »Ich wünsche dir viel Spaß.«

Cains Antwort ging in ohrenbetäubendem Tröten unter. Er schloss die Augen und stöhnte abermals. Die restlichen Brutmütter waren aufgewacht, und ihre Signalhörner gaben ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sich gleich zu erbosten Anwälten auch noch aufgebrachte HMWs gesellen würden. Mit einem Mal tat er sich selbst sehr leid.

Von oben regnete Stukks Kichern auf ihn herab.

»Bas?«

»Sol?«

»Steht dein Angebot noch?«

Die Naloxon-Ampullen kamen angeflogen. »Aber nicht gleich alles auf einmal, alte Naschkatze!«

Cain fing die beiden Fläschchen mehr mit Glück als Geschick. Seine Hände schlossen sich um das kühle Glas. Er hatte noch nie auf Stukks Ratschläge gehört.

Heute würde er bestimmt nicht damit anfangen.

 

Wer vor dem Erscheinungstermin von „Junktown“ nächste Woche noch ein bisschen weiterschmökern möchte, findet eine etwas ausführlichere Leseprobe auf unserer Shopseite.

Matthias Oden: „Junktown“ ∙ Roman ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 400 Seiten ∙ Preis des E-Books € 9,99 (im Shop)

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