Letzte Chance Vergangenheit
Eine erste Leseprobe aus Wesley Chus gefeiertem Roman „Zeitkurier“
Zeitreisen sind kompliziert und gefährlich, keine Frage. Nicht nur, dass sich der Zeitreisende von einer Sekunde auf die andere in einer völlig fremden – potenziell feindlichen – Umgebung wiederfindet, nein, er muss auch noch höllisch aufpassen, dass er keine Anachronismen verursacht oder durch sein Verhalten eine blühende Zukunft in eine düstere Diktatur verwandelt. Regeln, mit denen James Griffin-Mars, der Held aus Wesley Chus Roman „Zeitkurier“ (im Shop) eigentlich bestens vertraut ist, denn seine Aufgabe ist es, als Kurier wichtige Ressourcen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren. Doch dann kommt es, wie es kommen muss: Er begegnet einer Frau – und macht einen fatalen Fehler …
Wer sich zunächst noch einen Einblick in die Geschichte verschaffen möchte, findet hier eine erste Leseprobe des Romans, der ab dem 14. August 2017 im Handel erhältlich ist.
01
ENDZEIT
Ein Lichtbalken bohrte sich durch das Nichts und schoss zum Zentrum der taktischen Karte. Auf der Brücke hielten die Besatzungsmitglieder gleichzeitig den Atem an und verfolgten den Weg des Lichtstreifens durch das All. Im Raum herrschte Totenstille, wenn man von der monotonen Stimme absah, die die Sekunden bis zum Einschlag herunterzählte. Dann entstand eine Explosionswolke in der Größe eines Daumennagels, blähte sich auf, bis sie die Hälfte des Displays einnahm, und verblasste wieder.
Auf der Brücke brachen Jubelrufe aus, als das Flaggschiff der Neptune Divinity von der holografischen Anzeige verschwand. Der Jubel war jedoch nur von kurzer Dauer. Kapitän Dustinius Monk übertönte die Rufe.
»Stationsstatus!«, befahl er, und die unangenehmen Meldungen über den Zustand des Raumschiffs kamen herein.
»Schilde zusammengebrochen«, meldete ein Adjutant auf der Brücke.
»Manövrierdüsen offline«, fügte ein anderer hinzu.
»Hüllenbruch im Heck.«
Die Liste der Schäden wurde länger, je mehr verhängnisvolle Meldungen von den Stationen eingingen. Es war ein Wunder und ein Beweis für die Fähigkeiten der Mannschaft, dass die High Marker, das Flaggschiff der Technology Isolationists, überhaupt noch flog.
Grace Priestly gähnte gelangweilt. Sie war eigentlich immer gelangweilt, wenn sie sich mit den quälend langsamen Denkprozessen der Durchschnittsmenschen konfrontiert sah. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie lange sie warten musste, bis endlich einmal jemand etwas Interessantes sagte.
Monks Stellvertreter schien der Panik nahe, als er Bericht erstattete. »Kapitän, die Schockwelle der Explosion ist noch nicht vorbei!« Das Geplapper erstarb, und wieder breitete sich Totenstille aus.
»Können wir nicht wenigstens einen Schild aktivieren?«, fragte Monk.
»Nicht ohne umfangreiche Außenreparaturen.«
»Flickt mir einen verdammten Schild, damit ich die Druckwelle ablenken kann!«, brüllte Kapitän Monk in die angespannte Atmosphäre. Der Rest der Brückenbesatzung war vor Angst erstarrt. »Was ist mit dem Antrieb? Seitliche Schubdüsen? Können wir das Schiff bewegen? Gebt mir irgendetwas, verdammt!«
»Wir schweben antriebslos im Raum, Kapitän.« Der Adjutant, der neben ihm stand, schüttelte den Kopf. »Kraftwerksleistung ist auf sechs Prozent gefallen. Anscheinend wurde auch die Titanquelle beschädigt.«
»Leiten Sie sofort die Energie um.«
Der Adjutant erbleichte. »Kapitän, die Systemadjutantin berichtet, dass der Umsetzer zerstört wurde.«
»Zerstört? Wie ist das möglich?«
»Das weiß sie nicht, Kapitän.«
Monk öffnete ein Display und starrte die Druckwelle an, die vom Flaggschiff der Neptune Divinity ausging. Auf einem zweiten Bildschirm überprüfte er die Daten. Schließlich zuckte er zusammen und wurde kreidebleich.
Er blickte zu Grace, die kalt und gleichgültig zurückstarrte. Dann erteilte er rasch zahlreiche Befehle und tat alles, was er konnte, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Alle Besatzungsmitglieder arbeiteten hektisch, während die Schiffsuhr die Zeit bis zum Aufprall der heranrasenden Druckwelle runterzählte.
Grace war klar, dass das alles nichts mehr nützte. Seit dem Moment, als die Fusionsrakete das feindliche Schiff getroffen hatte, waren sie dem Untergang geweiht. Hauptantrieb und Steuerdüsen waren außer Betrieb, alle drei Schilde waren inaktiv. Die High Marker war völlig wehrlos. Die Druckwelle würde sie aus dem Sonnensystem in Richtung der Heliopause schleudern. Von dort war noch nie ein Schiff zurückgekehrt.
Beiden, Grace wie auch Monk, war völlig klar, dass es höchstwahrscheinlich genau darauf hinauslaufen würde. Nachdem der Antrieb der High Marker ausgefallen war, hatte er sie um die ausdrückliche Genehmigung bitten müssen, trotz der geringen Entfernung eine planetenbrechende Rakete einsetzen zu dürfen. Obwohl alles dagegen sprach, hatte sie die Erlaubnis erteilt. Wenn sie schon sterben mussten, wollten sie wenigstens den Feind mitnehmen.
Der Kapitän und seine Crew kämpften, um die High Marker zu retten, doch soweit es Grace betraf, hätten sie ebenso gut versuchen können, die Toten zu erwecken. Davon gab es auf dem Schiff ohnehin schon genug.
Trotzdem amüsierte sie sich darüber, dass Monk sich so sehr bemühte, das Unausweichliche abzuwenden. Der Kapitän war ein kluger Mann und hatte seine achtzig Lebensjahre ausschließlich im Weltraum verbracht. Hätte Grace es nicht besser gewusst, dann hätte sie tatsächlich glauben können, dass der gute Kapitän sich die allergrößte Mühe gab, das Schiff zu retten. Natürlich durchschaute sie ihn. Wenn die Oberin der Technology Isolationists auf seinem Schiff starb, würde seine ganze Familie ewig in Schande leben.
Vielleicht verstellte sich Kapitän Monk auch gar nicht, sondern machte sich etwas vor und glaubte, er könnte wirklich ein Wunder vollbringen. Grace hoffte allerdings, dass dies nicht zutraf. Es wäre unerfreulich, wenn sie einsehen müsste, dass sie einen Schwachsinnigen zum Kommandanten des Flaggschiffs ernannt hatte. Nein, es gab keine Wunder, und Grace hatte keine Lust mehr, die sinnlose Übung zu beobachten. Die High Marker war dem Untergang geweiht.
Die Druckwelle erfasste das Schiff, es ruckte, und wer stand, wurde von den Beinen gerissen. Ein halbes Dutzend weitere Alarmmeldungen flackerten auf dem taktischen Display. Grace saß im Schwerkraftsessel und sah der Mannschaft zu, die sich beeilte, die neuen Gefahren zu bekämpfen, während die High Marker von der Welle mitgerissen wurde.
Grace stand auf und sah ihren Knecht an. »Komm mit, Swails. Wenn der gute Kapitän bereit ist, Bericht zu erstatten, kann er mich in meiner Kabine aufsuchen.«
Der Knecht stand auf und schritt neben ihr her. Mit ihren runzligen Händen streichelte sie sein makelloses Gesicht. Der arme Idiot war unfähig zu begreifen, was gerade geschah. Wahrscheinlich war in seinem schönen Kopf noch nie ein eigenständiger Gedanke entstanden, aber genau so mochte sie ihre Knechte. Die Brückenbesatzung unterbrach die Arbeit und hielt respektvoll inne, als sie vorbeiging.
»Oh, versucht nur weiter, das Schiff zu retten«, sagte sie, als sie hinausschwebte. Die Trottel würden sich bei diesem sinnlosen Spiel zu Tode schuften. Was für eine Verschwendung. Eigentlich hätte Grace doch gedacht, dass sie die Technology Isolationists zu größerer Klugheit angeleitet hatte.
»Komm schon, Knecht«, sagte sie und winkte Swails, als sie den mit Trümmern übersäten Gang hinunterlief. Die High Marker war das modernste Schiff, das die Menschheit je gebaut hatte. Was es den Technology Isolationists an Personal und Ressourcen mangelte, machten sie durch Fortschritte in der Energieerzeugung und andere technische Errungenschaften mehr als wett. Andererseits konnte ein zahlenmäßig überlegener und mit besseren Ressourcen gesegneter Gegner diese Macht bezwingen, und genau das hatte die Neptune Divinity getan. Ohne ausreichende Ressourcen konnte sich keine Fraktion lange halten.
Die High Marker war kurz nach dem Rendezvous mit dem Stützpunkt auf Eris in den Hinterhalt geraten. Das Flaggschiff, zwei Begleitschiffe und rund ein Dutzend Verstärkungseinheiten vom Planeten hatten die mehr als sechzig Einheiten der Neptune Divinity bekämpft und gesiegt. Ein Pyrrhussieg mochte kein echter Triumph sein, doch er war immer noch besser als die Alternative.
Auf beiden Seiten waren in der gewaltigen Schlacht so gut wie alle Schiffe vernichtet worden. Die einzige nennenswerte Ausnahme war die High Marker, die jetzt aus dem Sonnensystem geschleudert wurde. Sofern sie nicht den Antrieb reparieren konnten, was bisher allerdings noch keinem Raumschiff außerhalb des Docks gelungen war, würden sie entweder im kalten Weltraum sterben oder beim Zusammenprall mit irgendeinem Objekt untergehen. Grace hoffte, die High Marker werde wenigstens auf etwas Interessantes wie eine Plasmawolke oder ein schwarzes Loch treffen. Natürlich aus rein wissenschaftlicher Neugierde.
Sie beschloss, die restliche Lebenszeit sinnvoll zu nutzen und sich von ihrem Knecht besinnungslos vögeln zu lassen. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie dabei wenigstens glücklich sein.
Sie erreichten einen besonders stark beschädigten Bereich des Schiffs. Eine Metallstrebe und mehrere große Trümmerstücke blockierten den Gang. Aus dem Schutt ragte ein verkohlter Beinstumpf. Grace wich vorsichtig aus, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen.
»Knecht, hilf mir«, sagte sie.
Er gehorchte willig und hielt sanft ihre Hand, als sie langsam über die Strebe stieg. Für eine Dreiundneunzigjährige bewegte sie sich sehr gewandt. Hinter ihr sprang Swails über das Hindernis und lief neben ihr weiter. Irgendetwas an ihm entsprach nicht dem Bild, das sie von ihm hatte. Sie hatte es gleich bemerkt, als sie an Bord gekommen war. Swails war heute anders als sonst.
Lediglich im Detail unterschieden sich die Klugen von den Brillanten, und Grace war nicht nur die brillanteste Denkerin ihrer Generation, sondern auch einer der klügsten Menschen, die je gelebt hatten. Bald spielte das keine Rolle mehr. Sie starrte Swails’ gentechnisch verändertes Gesicht an. Es war vollkommen. Dieser Mann sah aus wie ihr Knecht und bewegte sich wie Swails, doch hinter seinen Augen ging irgendetwas vor. Sie waren nicht so leer, wie es die Augen ihres Knechts eigentlich sein sollten.
Er war ein Hochstapler, was sich in vielen kleinen Details zeigte, die den meisten Menschen völlig entgangen wären. Sie war jedoch anders als die meisten Menschen. Vielleicht war er nur krank und litt unter einem Anfall eigener Gedanken. So etwas kam von Zeit zu Zeit vor, auch wenn die Züchter sich große Mühe gaben, diese Neigung auszumerzen. Nun, es war egal. Es gab sowieso nur eine Sache, für die sie ihn brauchte.
Das Licht im Schiff flackerte und wurde um genau 18 Prozent gedämpft. Zweifellos wollte der gute Kapitän Monk Energie sparen, um das Schiff länger am Leben zu halten, weil er die abwegige Hoffnung hegte, sie könnten doch noch gerettet werden. Grace gestattete sich ein kleines Lächeln. Der dumme Mann verlängerte nur ihre Qualen. Wenn er wirklich etwas Sinnvolles tun wollte, dann sollte er alle Luftschleusen öffnen und auf der Stelle alle Menschen an Bord töten. Das hätte sie jedenfalls getan. Andererseits war sie für ihren Verstand und ihre sexuellen Gelüste bekannt, und nicht für ihr übergroßes Mitgefühl.
Grace fragte sich, warum die Energie auf der High Marker so stark abgefallen war. Wie bei jedem anderen modernen Raumschiff befanden sich auch hier die Energiequellen mitten im Rumpf. Es war fast unmöglich, den Kern zu beschädigen, ohne gleichzeitig das Schiff zu zerstören, und es war undenkbar, dass ein vierundneunzigprozentiger Ausfall des Kerns ohne ein katastrophales Ereignis auftrat. In weniger düsteren Zeiten hätte sie darauf gebrannt, das kleine Rätsel zu lösen. Jetzt hatte sie viel fundamentalere Bedürfnisse.
»Komm, Knecht.« Sie winkte ihn weiter. »Wir ziehen uns in mein Quartier zurück.«
Wieder bemerkte sie eine leichte Veränderung in seinem Gang. Seine Schritte waren etwas länger als üblich. Er hielt sich etwas aufrechter, der Druck seiner Hand auf ihrer Haut war nicht ganz so sanft wie sonst. Nein, er war nicht ganz er selbst, aber soweit sie es sagen konnte, gab es derzeit keine Technologie, um das Äußere eines anderen Menschen perfekt zu imitieren und so jemanden als Spion einzuschleusen. Und wenn so etwas existierte, dann wäre sie diejenige gewesen, die es erfunden hätte. Um ganz sicherzugehen, streckte sie noch einmal die Hand aus, streichelte sein Gesicht und vergewisserte sich, dass es kein Hologramm und keine Illusionsüberlagerung war. Ja, das vollkommene Gesicht war nach wie vor sein eigenes.
Sie betraten den Vorraum ihrer Gemächer. Zwei stumme Diener mit Augenbinden standen in einer Ecke. Diese Kriegerknechte waren ganz anders als der Sexknecht. Sie waren gewalttätig und ihr bedingungslos ergeben, gerieten schnell in Rage und waren schwer zu kontrollieren. Die Lichter und der Lärm im havarierten Schiff konnten sie leicht in die Tobsucht treiben. Es war das Beste, sie hier im Vorraum zu lassen. Allerdings fand sie es auch beruhigend, die beiden jetzt wieder in Rufweite zu haben.
»Einen Becher warmes Wasser, Knecht«, befahl sie. »Und hole mir meinen Umhang. Wenn wir heute Nacht schon sterben müssen, dann soll es wenigstens in aller Bequemlichkeit geschehen.« Swails brachte ihr das Wasser, während sie sich auszog.
Grace blickte durch die Bullaugen in den Weltraum. Der Winkel, in dem die Sterne am Fenster vorbeizogen, verriet ihr, dass das Schiff mittlerweile noch stärker taumelte. Sie musste wohl damit rechnen, dass jeden Augenblick auch die Schwerkraft abgestellt wurde, um Energie zu sparen. Monk war schrecklich berechenbar.
Sie riss sich von den Bullaugen los und winkte Swails, sich um sie zu kümmern. Gut möglich, dass es ihr letzter Fick wurde, also wollte sie ihn genießen. Ihr Knecht war der Schönste aus seinem Wurf, sie würde seine zärtlichen Berührungen vermissen. Den heutigen Abend hatte sie aber noch.
Sie legte sich auf das Bett und wartete darauf, dass Swails seinen Pflichten nachkam. Gehorsam zog er sich aus und sprach das Sklavengebet, mit dem er um Erlaubnis bat und sich für die Ehre bedankte, das Bett der Herrin teilen zu dürfen.
Grace beobachtete Swails’ Bewegungen. Sie hatte schon hundertmal zugesehen, wie er das Ritual vollzog. Die Gesten waren korrekt, doch ihm fehlte die gewohnte Anmut. Als er das Gebet beendet hatte, sank er an der Bettkante auf die Knie, breitete die Arme aus und blickte zur Decke empor.
Statt ihm die Erlaubnis zu erteilen, kroch Grace mit verführerischen Bewegungen zu ihm und legte ihm die Hand auf den festen, wohlgeformten Oberkörper. Mit den Fingern fuhr sie bis zum Bauch hinunter und spürte die vertrauten Dellen und Schwellungen seiner Muskeln. Dann wanderten ihre Finger zu seinem Herzen hinauf. Sie schloss die Augen und lauschte. Die Herzschläge waren unglaublich schnell für einen Klon. Mit der anderen Hand fasste sie ihn am Kinn und zog sein Gesicht zu sich.
»Wer bist du, Fremder?«, fragte sie.
Swails zögerte einen Moment. »Dann weißt du es?«
»Ich ahne es seit heute Morgen. Du bist schon den ganzen Tag nicht der Swails, den ich kenne.«
Jetzt lächelte er. »Grace Priestly, du bist eine außergewöhnliche Frau. Es ist mir eine Ehre.« Er rückte von ihrem Bett ab, ging zu ihrem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes und kramte in ihren persönlichen Habseligkeiten herum.
Erschrocken stand sie auf und zog sich in die andere Ecke des Raumes zurück. »Was tust du da?«
Swails hörte nicht auf sie, sondern holte Papiere, Scans und Datenchips heraus. Mehrere seltene Bücher warf er weg, dann ging er ihre persönlichen Akten durch und brachte alles in Unordnung. Grace hasste Unordnung. Schließlich holte er die erst kürzlich formulierte Zeitcharta hervor und ließ den Finger über die Zeilen gleiten, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Das Gesetz war Höhepunkt und moralische Grundlage ihrer zehnjährigen Forschungsarbeiten. Die Technologie war bereit. Die Menschheit musste nur noch einen Weg finden, um ihre neue Entdeckung sinnvoll einzusetzen. Wenn ihre neue Behörde Erfolg hatte, würde man Grace Priestly dafür rühmen, dass sie nicht nur die Menschheit gerettet, sondern auch die Technology Isolationists zu neuen Höhen geführt hatte. Das in Allorium gravierte Werk, das er jetzt in Händen hielt, schrieb die Leitlinien der neuen Behörde fest. Das Chronologieamt sollte der Menschheit den Weg aus ihrer selbst verursachten Hungersnot weisen.
»Leg das wieder weg!«, rief sie. »Kau, Trau! Zu mir!«
Die beiden Kampfknechte stürmten herein, die Augenbinden hatten sie bereits abgenommen, sodass die kybernetisch rot glühenden Augen zum Vorschein kamen. Es war ihr zuwider, dass sie so kurz vor ihrem Tod eine Gewalttat anordnen musste. Grace war nicht der Typ, der voreilig zu solchen Mitteln griff, aber dieses Ding war nicht ihr geschätzter Knecht. Sie war sogar sicher, dass er Swails getötet hatte. Sie wollte Antworten hören.
»Fangen. Nicht töten. Nicht töten.« Sorgfältig sprach sie die Befehle aus. Die Kampfknechte besaßen nur eine niedrige Intelligenz, und jeder Befehl, der sich nicht ums Töten drehte, musste präzise formuliert werden.
Trau legte los, ein Dutzend kleine Klingen klappten aus den Armen und Beinen heraus. Er griff den Hochstapler an und schlug zu, während Kau zwischen ihr und Swails, ebenfalls mit ausgefahrenen Klingen, eine Verteidigungsposition einnahm.
»Lebendig!«, rief Grace.
Anscheinend hatte sie mit dem Falschen gesprochen, denn Trau erreichte Swails schneller, als es für einen gewöhnlichen Menschen möglich gewesen wäre, und zog dem Schwindler die Klingen mit einer Wucht, die jeden unverstärkten Menschen zweigeteilt hätte, quer über die Brust. Doch auf einmal erschien ein gelber, funkensprühender Schutzschild, der Swails umgab. Das elektrische Feld lenkte Traus Klingen zur Seite ab.
Nun setzte der Hochstapler zur Gegenwehr an und bewegte sich so schnell, dass man mit bloßem Auge kaum folgen konnte. Die beiden Kämpfer wirbelten in einem tödlichen Tanz umeinander, Traus Klingen und die seltsamen gelben Funken blitzten in der Luft. So rasch, wie das Handgemenge begonnen hatte, war es auch schon wieder vorbei.
In einem Moment stand der Schwindler neben Trau, im nächsten war er schon hinter dem Kampfknecht. Der Fremde machte eine rasche Bewegung aus dem Handgelenk, und Trau flog quer durch den Raum und prallte so heftig gegen die Wand, dass sich die Unterdruckblenden vor die Bullaugen schoben. Traus mit Stahl verstärktes Rückgrat brach mit einem lauten Knacken, als es mit einer der Streben kollidierte, die aus der Wand ragten. Sein Körper erschlaffte, er fiel auf den Boden, und das rote Glühen der Augen erstarb.
Grace starrte den besiegten Kampfknecht an. Das war unmöglich. Es handelte sich um Cyborgs der Klasse sechs! Sie waren fähig, eine ganze Abteilung gepanzerter Raumsoldaten zu besiegen. Panisch blickte sie zu Swails, oder vielmehr zu dem Ding, das so aussah wie ihr Sexknecht.
Kau verharrte zwischen ihr und dem Schwindler. Er würde erst auf ihren Befehl hin angreifen und vermutlich ebenso schnell sterben. Swails beäugte Kau ohne große Sorge, als wartete er darauf, dass der Kampf endlich vorbei war, damit er sich wieder um das kümmern konnte, was er eigentlich hier wollte. Wenn sie genau hinschaute, sah sie ein durchsichtiges gelbes Flimmern direkt über der Haut. Dann fiel ihr Blick auf die Alloriumcharta, die der Hochstapler während des Kampfes auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte.
Auf einmal begriff sie es.
»Kau.« Sie deutete zur Tür. »Verlasse den Raum. Sorge dafür, dass ich nicht gestört werde.«
Der Kampfknecht sah sie zögernd an. Die Cyborgs waren schließlich nicht völlig dumm. Sie waren durchaus in der Lage, einen eigenartigen Befehl zu erkennen.
»Geh!«, wiederholte sie.
Kau beäugte Swails misstrauisch, stieg aber schließlich über den toten Trau hinweg und schlurfte hinaus. Der Schwindler ignorierte den tödlichen Kampfknecht und gab sich völlig ungerührt. An der Tür hielt Kau noch einmal inne, betrachtete den Eindringling und zog sich mit einem Grunzen zurück. Grace entging das Zögern keineswegs. Anscheinend hatten die Sechser immer noch ein paar Macken, die ausgebügelt werden mussten.
»Schließ die Tür«, befahl Grace.
Der Hochstapler zog eine Augenbraue hoch. Sicher überraschte es ihn, dass sie bereit war, mit ihm unter vier Augen zu reden, oder er staunte, weil sie ihn immer noch herumkommandierte. Auf jeden Fall gehorchte er. Und erst jetzt sah Grace so etwas wie echte Gefühle in Swails’ Augen: Ehrfurcht, Trauer, Bedauern, Schmerz. All die Empfindungen, die der echte Swails niemals hätte haben dürfen.
»Wie weit aus der Zukunft?«, fragte sie schließlich.
Swails lächelte. Das Flimmern des seltsamen gelben Körperschilds verblasste, und nun verschwand sein Gesicht Zeile um Zeile, als würde die Aufnahme eines Zeichners, der ein Gesicht malte, rückwärts abgespielt. Sie sah zu, bis nichts mehr außer einer leeren Hautfläche zu sehen war. Dann verschwand der ganze Kopf und wich einem anderen mit hellerer Haut und einem unvorteilhaften Bart.
»Sechsundzwanzigstes Jahrhundert, Oberin.« Er verneigte sich so tief, dass die Nase fast die Knie berührte. Einen Moment lang hoffte sie, die Technology Isolationists hätten sich gut entwickelt, da man immer noch so ehrerbietig mit ihr umging. »Wie haben Sie es herausgefunden?«, fragte er.
Grace schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Ihre Verkleidung täuscht nur einige Sinne, nicht alle.«
Wieder verneigte er sich, wenngleich nicht mehr so tief. »Die legendäre Grace Priestly. Sie sind genau so, wie man Sie im ehrenvollen Gedenken beschreibt.«
Grace musterte ihn genauer. Für ihren Geschmack war er eine Spur zu dünn. Sie bevorzugte Männer, die ein wenig kräftiger waren als der Durchschnitt. Er hatte ein hübsches oder wenigstens ebenmäßiges Gesicht, dessen Züge schätzungsweise siebzig Prozent des Ideals erreichten. Das Antlitz war lang und schmal, die Wangen eingefallen, und es gab noch weitere Unvollkommenheiten, die auf ein anstrengendes Leben hinwiesen. Binnen Sekunden sagten ihr die braunen Augen, die leicht gekrümmte Nase und das markante Kinn alles, was sie über seine Herkunft wissen musste.
»Wie ergeht es der Menschheit in dreihundert Jahren?«, fragte sie und beobachtete sein Gesicht genau.
Seine Haut wirkte im Licht ihrer Kabine beinahe wie Pergament. War dieser Mann jemals direktem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen? Er sah aus, als wäre er im Weltraum geboren worden: blass, groß und schlaksig, wie es für all jene typisch war, die ihr ganzes Leben zwischen den Planeten verbracht hatten. Die braunen Haare lagen unordentlich auf seinem Kopf, sodass ein etwas schmuddeliger, zerzauster Eindruck entstand. Seltsam. Sie hätte angenommen, dass jemand aus der Zukunft besser frisiert wäre. Nach den Maßstäben der Technology Isolationists war dies kein Mann, den man in die Gemeinschaft aufnahm, ganz zu schweigen von ihrem Schiff.
»Wenn ich Ihnen doch nur gute Nachrichten übermitteln könnte«, entgegnete er.
»Natürlich können Sie mir nichts verraten, weil sich dadurch der Lauf der Ereignisse verändern würde.«
Er schüttelte den Kopf. »In diesem Fall würden die Neuigkeiten aus der Zukunft keine Rolle spielen. Das zweite Gesetz der Charta …«
»›Reisen in die Vergangenheit sind auf abgeschnittene Zeitlinien beschränkt und müssen so kurz sein, dass sich der Chronostrom im Falle von Verwerfungen wieder glätten kann‹«, zitierte sie.
»Ja. Sie erinnern sich daran.«
»Ich habe es gestern Abend aufgeschrieben.«
»Das ist das zweitwichtigste Zeitgesetz.«
Die Erkenntnis, was seine Worte wirklich bedeuteten, traf sie wie ein körperlicher Hieb. »Die High Marker wird also mein Grab werden.«
Nun tat sie etwas Untypisches und knirschte mit den Zähnen. Eine Gewohnheit aus der Kindheit, die sie als Jugendliche abgelegt hatte. Jetzt war es, als wollte sie all die verlorenen Jahre auf einmal wettmachen und die Zähne bis auf die Wurzeln abschleifen. »Ich wusste, dass wir dem Untergang geweiht waren. Die Überlebensaussichten waren schlecht, aber es fühlt sich trotzdem ganz anders an, wenn jeder Zweifel ausgeräumt wird.«
Nun brachen alle Gefühle heraus, die sie hinter der kalten Fassade verborgen hatte. Grace setzte sich auf das Bett. Sie war nicht sicher, ob sie eher wütend oder traurig war, und zitterte unter dem Widerstreit der Emotionen. Sie wollte lachen, schreien und in Tränen ausbrechen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie schloss die Augen und bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Sie war die Oberin! Man würde sie auch Jahrhunderte später noch verehren! Das war doch etwas wert, oder? Im Augenblick fühlte sich das alles jedoch nur noch hohl an.
Sie sah ihn an. »Warum sind Sie hergekommen? Oh, natürlich. Sie haben die Energiequelle der High Marker geleert und gestohlen.«
Er nickte. »Und die Charta. Das ist ein sehr begehrtes Relikt.«
»Dann existiert das Zeitreiseamt, das ich mir vorgestellt habe? Es wächst und gedeiht?« Stolz erfüllte sie.
Er zögerte und lächelte halbherzig. »Das Amt wird verehrt und geliebt. Es ist das Einzige, was den Zusammenbruch der Menschheit aufhält, Oberin.«
Eine Lüge oder zumindest eine Wahrheit, die er selbst nicht glaubte. Das spielte keine große Rolle. Da ihr Tod unmittelbar bevorstand, war Grace nicht nach Haarspaltereien zumute. »Verstehe. Nun gut, Sie können die Charta haben.«
Wieder verneigte er sich. Anscheinend war es im sechsundzwanzigsten Jahrhundert üblich, ständig zu dienern. In der Gegenwart tat es niemand. Grace mochte es. Sie sah ihm zu, als er zum Schreibtisch schlenderte, die Charta an sich nahm und mit einer Hand wog. Dafür, dass es sich angeblich um ein begehrtes Relikt handelte, ging der Zeitreisende nicht gerade besonders ehrerbietig damit um.
Auf einmal machte er mit der anderen Hand eine Geste, und vor ihm in der Luft entstand ein schwarzer Kreis. Fasziniert sah sie zu, wie er die Charta in das Loch warf. Dann verschwand der Kreis wieder.
»Wie haben Sie …«, setzte sie an.
»Anwendung der Kompressionstheorie«, antwortete er.
»Alan Guth?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich wende es nur an, weiß aber nicht, wie es funktioniert.«
»Verstehe.« Grace blickte aus dem Fenster. »Wenigstens hat die Wissenschaft große Fortschritte gemacht. Das macht mir Mut.«
»Leider nicht. Ich möchte Sie nicht anlügen, Oberin.«
Sie stand auf und ging zu ihm. »Und was jetzt? Das Schiff ist dem Untergang geweiht, wie Sie sagen. Sie haben die Charta an sich genommen und die Energiequelle abgesaugt. Verlassen Sie jetzt diese Zeitlinie?«
»Wie es Ihren Anweisungen entspricht.« Er schien fast traurig, dass er sie ihrem Schicksal überlassen musste.
Grace ergriff die Gelegenheit, die sich zu bieten schien. »Nehmen Sie mich mit«, platzte sie heraus und fasste ihn an den Handgelenken. Der Zeitreisende schien zu schwanken, ihm war anzusehen, wie er mit sich rang. »Auch in der Zukunft kann es nicht viele wie mich geben.«
»Niemanden mit Ihrem Verstand.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das Erste Zeitgesetz schreibt vor …«
»Zum Teufel mit den Zeitgesetzen!«, sagte sie. »Ich habe die verdammten Regeln aufgeschrieben und mich betrunken, während ich diese intellektuelle Masturbation betrieben habe. Sie bedeuten rein gar nichts. Nehmen Sie mich mit.«
Jetzt bettelte Grace, aber das war ihr egal. Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert übermannten sie ihre Gefühle. Es fühlte sich schrecklich an, aber ihre Arbeit war noch nicht vollendet. Sie hatte der Menschheit immer noch viel zu geben. Sie musste sich um die ganze Fraktion der Technology Isolationists kümmern. Noch schlimmer, da sich jetzt zeigte, dass ihre Forschungen zur Zeitreise offensichtlich greifbare Ergebnisse nach sich zogen, gab es unendlich viele Möglichkeiten zu erkunden. Sie wollte daran teilnehmen. Bei der Vorstellung, an den Utopien des einundzwanzigsten Jahrhunderts mitzuwirken, schlug ihr Herz schneller.
»Nehmen Sie mich mit.« Sie schluchzte und schlang die Arme um ihn.
Der Zeitreisende wich ihrem Blick aus. »Ich … das kann ich nicht, Oberin.«
Er hielt die Umarmung einige Sekunden lang, obwohl ihm sichtlich unwohl war. Schließlich schob er sie weg. Sie bemerkte, dass er für einen Moment abwesend ins Leere blickte.
»Ich muss gehen«, sagte er. »Ich bin schon viel zu lange hier.«
Widerstrebend ließ sie ihn los, riss sich zusammen und fasste sich. Sie erinnerte sich, wer sie war. »Wie viel Zeit habe ich noch?«, fragte sie.
»Das weiß ich nicht, Oberin. Die historischen Aufzeichnungen besagen, dass die High Marker letztmalig hundertachtundvierzig Astronomische Einheiten jenseits von Eris gesichtet wurde. Danach verschwand das Schiff.«
Sie wischte sich die Tränen ab. »Nennen Sie mich Grace.«
Der Zeitreisende sah sie ein letztes Mal an und verneigte sich zum Abschied. »Es war mir eine Ehre, Grace. Ich … es tut mir leid.«
Ein heller gelber Blitz erschien, dann verschwand der Zeitreisende, der Swails’ Gesicht getragen hatte.
Wesley Chu: „Zeitkurier“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2017 ∙ 496 Seiten ∙ Preis des E-Books € 13,99 (im Shop)
Kommentare