17. August 2017 1 Likes

Die Kunst der Selbstreflexion

Marc-Antoine Mathieus philosophischer neuer Comic „Otto“

Lesezeit: 2 min.

Der französische Künstler Marc-Antoine Mathieu steht für außergewöhnliche Comics, in denen er die erzählerischen und gestalterischen Grenzen des Mediums überwindet. Was er aus seiner exakten, geometrisch orientierten Formensprache herausholt, ist jedes Mal erstaunlich, wenn nicht sogar begeisternd, während seine Geschichten zwischen „Hier“, „Gott höchstselbst“, „Julius Corentin Acquefaques, Gefangener der Träume“, „Tote Erinnerung“ und „3 Sekunden“ zur Science-Fiction, zum Experimentellen, zum Surrealen, zum Grotesken, zum Übernatürlichen, zum Metaphysischen und zum Kafkaesken neigen. Selbst der reguläre Kunstbetrieb hat die Comics des 1959 geborenen Franzosen mit der Vorliebe für das Moebiusband inzwischen für sich entdeckt: Im Frankfurter Museum Angewandte Kunst läuft noch bis Mitte Oktober die huldigende Ausstellung „Kartografie der Träume. Die Kunst des Marc-Antoine Mathieu“. Unter diesem Titel erschien parallel zur Ausstellung im comic-sekundärliterarisch äußerst aktiven Christian A. Bachmann Verlag außerdem ein begleitendes Sachbuch. Bei Reprodukt kam mit „Otto“ dagegen gerade Monsieur Mathieus neuester Comic auf Deutsch heraus.

Das querformative, einmal mehr in kontrastreichen Graustufen angelegte Album widmet sich dem titelgebenden Performance-Künstler Otto, dessen gefeierte Inszenierungen von Spiegeln gekennzeichnet sind, die er zum Abschluss seiner Vorstellung auch schon mal nackt auf den Museumsboden schmettert – Beifallsstürme garantiert. Als er ungeachtet seines Ruhms einen moralischen Tiefpunkt erreicht, sterben Ottos Eltern und hinterlassen ihm ein altes Haus und eine Truhe mit ganz besonderen Erinnerungen. Für ein Projekt mit dem Internationalen Forschungsinstitut für die Psychologie des Selbst haben Ottos Eltern nämlich die ersten sieben Lebensjahre ihres Sohnes genauestens protokolliert und z. B. viele Stunden auf Video festgehalten. Otto, der keinerlei Erinnerungen an seine Kindheit besitzt, flieht aus seinem alten Leben, schließt sich für mehrere Jahre an einem weit entfernten Ort ein und erlebt seine Kindheit in der Isolation quasi noch einmal in Echtzeit. Anhand dieser intensiven Selbstreflexion, die er unter anderem plastisch darstellt und nachvollzieht, leitet er zum einen viele spätere Neigungen und Entwicklungen in seinem Erwachsenenleben ab, und bekommt zum anderen ein tieferes Verständnis für das menschliche Bewusstsein und die kosmische Unendlichkeit.

Zeichnerisch bietet „Otto“ genau die makellose Brillanz, die man von Mathieu gewohnt ist, wobei er besonders zu Beginn des breiten, schmalen Bandes hübsch mit dem Thema – dem Motiv – der Reflexion spielt. Inhaltlich präsentiert sich die gehaltvolle Bildergeschichte zuweilen allerdings dermaßen philosophisch, dass sie in der zweiten Hälfte bei aller gestalterischen Genialität und erzählerischen Intensität fast schon etwas zu anstrengend wird. Wer bisher noch nie mit dem beeindruckend präzisen Comic-Schaffen von Marc-Antoine Mathieu in Berührung kam, greift vielleicht lieber erst einmal zum textlosen, ungemein faszinierenden Band „Richtung“, um ein Gespür für die Richtung zu bekommen, in die es bei diesem Kartografen des Unterbewusstseins geht – eingeschworene Bewunderer des formalen Panel-Perfektionisten und -Grenzgängers der neunten Kunst freuen sich über einen weiteren stark gemachten, hervorragend konstruierten Selbstfindungs-Trip.

Marc-Antoine Mathieu: Otto • Reprodukt, Berlin 2017 • 88 Seiten • Hardcover im Schuber: 20,00 Euro

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