Wie der Griff in eine Steckdose
„Twin Peaks“ - Die dritte Staffel, ein Fazit unter erschwerten Bedingungen
„Eine Entität. Eine extrem negative Kraft, altertümlich oft ‚jiaodai’ genannt. Mit der Zeit wurde daraus ‚Judy’.“ (E317)
„Wir werden erst gar nicht über Judy reden.“ (O-Ton: „We’re not gonna talk about Judy at all.“) („Fire Walk With Me“/E314)
Chinesisch 交代 oder phonetisch jiāodài: Etwas „erklären“, „deutlich machen“ oder gar umgangssprachlich „zu Ende bringen“. Oh, David Lynch, du verdammter Fuchs.
Hat jemand wirklich erwartet, dass die dritte Staffel „Twin Peaks“ die Antworten auf dem Silbertablett servieren wird, ein durch und durch befriedigendes Ende? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Autoren David Lynch und Mark Frost ursprünglich nicht einmal aufklären wollten, wer der Mörder der jungen Laura Palmer war – und taten dies letztlich nur auf Drängen des Studios. Aber ich greife voraus.
Über ein viertel Jahrhundert dauerte es, bis wir so manche Auflösung zu Cliffhangern bekamen, mit denen die zweite Staffel der Kult gewordenen Serie „Twin Peaks“ zu einem abrupten Ende kam. Dass diese neue Staffel zwar in die Fußstapfen der vorangegangenen treten wird, das sagt uns bereits der Name. Dass die Erwartungen aber ebenso nach über zwei Jahrzehnten bis ins Unermessliche steigen werden, war gegeben. Somit blieb Lynch und Frost nur noch die Möglichkeit einen drastisch anderen Weg einzuschlagen, der gnadenlos, bis zum bitteren Ende verfolgt wurde.
Wir werden Zeuge von einer Schnitzeljagd nach dem eigenen Ich, die den Ausdruck von Folter bei weitem übersteigt, herzerwärmendem Wiedersehen, blühender Liebe, schockierender Gewalt und werden auf dem Weg dahin mit so manch zerrütteter Persönlichkeit konfrontiert. Und dann gibt es da noch das tiefst mythologische und unbeschreibliche Arthaus-Konzept das Episode 8 darstellt. Und genau in dieser Persiflage des alten „Twin Peaks“ liegt der große Reiz der dritten Staffel. David Lynch ist sich den Erwartungen und Wünschen der Fans durchaus bewusst, spielt jedoch alles völlig entgegen dieser ab. Wie in der Review zur ersten Doppelfolge erwähnt, hat sich auch Lynchs Erzählduktus verändert und weiterentwickelt. Was im „Twin Peaks“-Film „Fire Walk With Me“ begann, findet hier letztlich seine herrlich überzogene und makabere Perfektion. Hat es wirklich unzählige Einstellungen von fegenden Hausmeistern und endlosen Gesprächen gebraucht? Geschweige denn, dass wir unseren ersten richtigen Dale Cooper-Moment erst in der fabelhaften 16. Folge hatten. Da werden sich die Geister scheiden. Mit der dritten Staffel hat „Twin Peaks“ auf jeden Fall erneut TV-Geschichte geschrieben. Es ist wie in eine Steckdose zu fassen. Elektrisierend, gar fesselnd, aber schmerzhaft – und zugleich ein Erlebnis, was die meisten wohl nur ein einziges Mal erleben werden.
Die Breakout-Stars dieses neuen „Twin Peaks“ sind sicherlich die herzlichen Mafiabrüder Bradley und Rodney Mitchum (gemimt von Jim Belushi und Robert Knapper), neben Freddie „Gummihandschuh“ Sykes (Jake Wardle) und Tim Roths und Jennifer Jason Leighs Gary und Chantal Hutchens, die sich alle ohne Widerworte in die Riege klassischer Figuren einordnen lassen. Und selbst das Fehlen alterwürdiger Schauspieler, wie Frank Silva, Don S. Davis und David Bowie wurde gekonnt kaschiert und umgangen. Umso süßer war dann jeder Moment in dem alte Aufnahmen der Figuren genutzt wurden. Lediglich das Fehlen des pensionierten Harry S. Truman-Darstellers Michael Ontkean hätte eleganter gelöst werden können und wirkt gar befremdlich. Mit einem cleveren Augenzwinkern castete man jedoch den legendären Robert Foster als dessen Bruder Frank Truman, der ursprünglich die Rolle des Harry einnehmen sollte, aber aufgrund von Zeitproblemen ablehnen musste. Zu den weiteren Höhepunkten gehören die Darstellungen der Figuren der fantastischen Diane (Laura Dern!), die endlich nicht nur ein Name auf Tonbändern blieb, sowie Bobby Briggs und James Hurley. Gerade im Falle des einstigen Rowdies Bobby war der verantwortungsvolle Fokus als Deputy eine immense Bereicherung der Figur. Und unbedingt zu erwähnen ist die respektvolle und herzzerreißende Darbietung der Log-Lady Margaret Lanterman (Catherine E. Coulson), welche kurz nach den Dreharbeiten ihrem Kampf mit dem Krebs erlag.
Allen voran steht aber wohl der Star der Serie selbst, Kyle MacLachlan, der diesmal nicht bloß eine Rolle, sondern gleich vier übernahm. Besagte sind die des bösen Zwillings Mr. C, des kurz-erhaschten und verpufften Douglas Jones und dann den Löwenanteil der Serie als zweisilbiger Dougie. Zu guter Letzt aber natürlich die Rolle des Dale Coopers, die kürzer und prägnanter nicht hätte sein können. Haben sich die endlosen Minuten bis zum Wiedersehen gelohnt? „Ich bin das FBI“, strahlt er über beide Ohren, nach knapp 16 schwermütigen Folgen. Und wie sich das Warten gelohnt hat! Alles ist sofort vergeben und vergessen. Wer hätte nach all den Jahren noch erwartet, dass die Figur des Dale Cooper so sitzt und passt – und so eine Wirkung ausstrahlt. Allein MacLachlan ist es zu verdanken, dass aus dieser völlig absurden Idee trotz ihres inhärenten Klamauks eine ernstzunehmende Darstellung wurde, der selbst die anstrengend-komödiantischen Dougie-Szenen – in traumhafter Chemie mit Naomi Watts – mit Bravour meisterte.
Dem gigantischen und ausuferndem Werk der dritten „Twin Peaks“ Staffel wird es ungemein schwer in dem gebotenen Platz habhaft zu werden. Die Serie gibt zunächst häppchenweise ein verstörendes Mosaik preis, das mit zunehmender Episodenzahl zu einem großen Ganzen verwoben wird, nur um in der letzten Episode besagten Flickenteppich unter den Füßen zu entziehen. Neben Episode 17, die einem Serienfinale wohl am nächsten kommt, ist das wohl heiß umstrittene Highlight die bereits angesprochene Episode 8, in der der mythologische Faden Twin Peaks’ komplett abgewickelt und bloß gelegt wird, getarnt in einer gefühlt wahllosen aneinander Reihung von wirren Szenen – und einer über acht Minuten andauernden, gespenstischen Atomexplosion. Wir sehen die Geburt des Bösen, eine weitere Welt hinter der Welt, Laura Palmer als Erlöserin und schwarze Halb-Dämonen, die nur schwerlich Sinn ergeben, wenn man nicht über den Rand der Episoden hinaus schaut (hier sei ein kurzer Blick Richtung Mark Frosts „Die geheime Geschichte von Twin Peaks“ angedeutet). Nie war David Lynch verworrener und niemals bot er Antworten so sehr auf einem Silbertablett serviert an, wie in jener Episode. Für Lynch-Laien in erster Hinsicht nur äußerst schwer ersichtlich. Die achte Folge stellt jedoch Lynchs Kompromiss von „Antwort“ und „Erklärung“ dar. Viele der Figuren begeben sich auf die Suche nach „Judy“. Direkter wird es nie werden, denn alles weitere sind nur Trug und Schein. Siehe den kleinen, bitteren Kurs in Chinesisch zu Beginn. Und hier kommen wir auch nun zum doppelstündigen Finale.
Folge 17 läuft ab, wie ein erwünschtes Serienfinale: Das freudige Wiedersehen, das geplagt unter Zeitdruck und der endgültigen Konfrontation zu scheitern droht – eine jede Figur hat seinen heroischen Moment, und gar Lynchs eigener Gordon Cole serviert offensichtliche Antworten, wie eine herrliche Suppe auf feiner Garnitur. Jedoch fühlt sich alles zu sauber und erwartet an. So funktioniert Lynch nicht, und Folge 17 stellt letztlich die Versöhnung für den geneigten „Casual Viewer“ dar. Hier und nicht weiter, ähnlich wie Stephen King in seinem vorletzten Kapitel des Dunklen Turms. Denn mit Episode 18 wird nicht nur der Teppich unter den Füßen fortgerissen, sondern gleich der Boden zertrümmert. Rein strukturell und konzeptionell funktionieren die letzten zwei „Twin Peaks“-Folgen wie die letzten Folgen der ebenfalls dieses Jahr zu Ende gegangenen atemberaubenden Serie „The Leftovers“: dem großen Knall folgt die düstere Introspektive, die alles auf den Kopf stellt.
War alles nur ein Hirngespinst? „Wir leben in einem Traum,“ wird häufig im Revival erwähnt. Und dass Lynch äußerst häufig wortwörtlich genommen sein will, trotz blumiger Sprache, das zeigen die über 45 Episoden der Serie, wenn man nur an den „Arm“-Zwerg und das „Leben über dem Supermarkt“ denkt. Auch die Log-Lady Intros der Ursprungsserie greifen die Thematik auf, welche nun erbarmungslos einleuchtender wirken. „Laura ist die Eine“, die Träumende, die durch einen lauten Schrei erwacht, nachdem Cooper den Lauf der Zeit vermutlich änderte.
Oder stellt das ganze doch ein Konstrukt dar, das die gebrochene Psyche einer jungen, familiär vergewaltigen Frau widerspiegelt, die von der Welt ignoriert wird, völlig allein und verloren, während das Monster von Mutter nur tatenlos zusieht, ohne einzugreifen? Oder sind es doch alles Paralleluniversen, die von dunklen Giganten bewohnt werden, die sich an unserem Leid ergötzen?
Alle diese Antworten sind begründbar und vertretbar. Und das Wunder ist, dass sie sich gegenseitig nicht einmal bedingt ausgrenzen oder auslöschen, was letztlich David Lynchs großes Meisterwerk ergibt. Denn alles davon kann auf eigenen Beinen stehen. Alles ist begründbar und trotzdem nicht exklusiv, wie Philipp Jeffries’ schwebende 8, die zeitgleich eine Antwort auf Dale Coopers Frage zu sein scheint und den Zuschauer auf Episode 8 lenkt, wenn man denn Antworten will.
Nichtsdestotrotz wird wohl der Großteil der Zuschauer – völlig berechtigt und begründbar! – wütend über die hängen gelassene Auflösung sein. Nur sollte hier nicht vergessen werden, dass David Lynch nie Werke verfasste für diese Art von Zuschauer. Das sollte seit „Eraserhead“ ersichtlich sein. Und das hat er nach über 25 Jahren des Grübelns auch nicht mehr nötig, wenn wir ehrlich sind.
Kommentare
Beste Serie aller Zeiten, großartige dritte Staffel (die nochmals alles getoppt hat) und ein durchaus lesenswerter Artikel. Auch wenn ich behaupten würde, dass Kyle MacLachlan hier sogar 5 Rollen spielt, denn in der letzten Folge bekommen wir ja auch noch Richard zu sehen (der eben augenscheinlich nicht Cooper ist).
Hoffe auch dass das "Final Dossier" von Mark Frost noch in Deutschland veröffentlicht wird. Ich bin hier zwar beim falschen Verlag, aber habt ihr da zufällig irgendwelche Infos?