12. Februar 2018 5 Likes

Frauenbewegung unter Strom

„Die Gabe“ von Naomi Alderman ist verstörend, aufrüttelnd und jetzt schon ein Klassiker

Lesezeit: 4 min.

Vor einigen Wochen saß ich am frühen Abend, es war schon dunkel, an der Trambahnhaltestelle, als mich ein Mann ansprach – weiß, Mitte 40, angetrunken. Er fragte, wie er von hier aus zum Hauptbahnhof käme. Ich erklärte ihm, wo er umsteigen müsse, und wandte mich wieder meinem Buch zu. Doch für den Mann war das Gespräch noch nicht vorbei. Er erkundigte sich, ob ich aus München sei (Ja), ob ich wisse, wie die Sechziger gespielt hätten (Nein), und hach, ich sei ja so nett, komm, wir gehen einen trinken, nur nen Kurzen, „aber denk jetzt nicht, es geht um Sex, nein, so einer bin ich nicht. Ich bin verheiratet. Aber gefallen tust mir ja schon!“ Zwischendrin rief ihn noch ein Kumpel an, dem er erklärte, er käme später, weil er „so ne Schnitte“ kennengelernt hätte, und warum stehe ich da eigentlich rum, „komm jetzt, setz‘ dich doch, hier neben mir ist noch ein Platz frei. Traust du dich nicht? Du bist ja feige!“. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten, und etwa ab der Hälfte kreisten meine Gedanken nur noch um ein Thema: was mache ich, wenn ich den Typen nicht los werde? Denn die Station, an der er umsteigen musste, war zugleich die Station, an der ich aussteigen musste.

Wäre ich ein Mann, ich wäre nie in eine Situation gekommen, in der ich im Geiste verschiedene Flucht- und Rettungsszenarien hätte durchspielen müssen. Wäre ich eine Figur aus Naomi Aldermans „Die Gabe“ (im Shop), auch nicht. Dann hätte ich einen Strang, ein neues Organ, das plötzlich überall auf der Welt in jungen Frauen aktiv wird. Sie können damit Stromstöße abgeben, die stark genug sind, einen Menschen zu töten. Diese Vorstellung weckt in mir ein regelrechtes Verlangen nach einem Strang, nach dieser Art von Macht – aber würde ich sie zum Wohle der Menschheit einsetzen? Oder Sexsklavinnen in Moldawien? Oder Politikerinnen? Wer Macht hat, wird korrumpiert, das gilt auch für physische Macht. Deswegen wird in „Die Gabe“ am Ende keine bessere, friedlichere, harmonischere Welt erschaffen, sondern es droht der Zusammenbruch, die ultimative Katastrophe. Wie es dazu kommt, schildert Alderman anhand vier Protagonisten: Roxy, die Tochter eines Londoner Unterweltbosses, übernimmt das Familienunternehmen, nachdem sie die Mörder ihrer Mutter getötet hat, und verkauft spezielle Drogen, die den Strang noch stärker machen. Allie, eine Waise, die von ihrem Pflegevater missbraucht wird und Stimmen hört, erfindet sich als „Mother Eve“ als Begründerin einer neuen Religion neu – und lernt schnell, ihre Gegenüber zu manipulieren. In den USA arbeitet eine kluge Senatorin daran, militärisch geführte Trainingszentren einzurichten, um den Mädchen den Umgang mit der Gabe beizubringen. Überall auf der Welt berichtet Journalist Tunde, der einzige männliche Protagonist, von den Entwicklungen, bis ihm eine Frau seine Arbeit stiehlt und ihm einen Knebel verpasst.

Die vom Strang ausgelöste Katastrophe sorgte dafür, dass in der Zukunft tatsächlich die Frauen unumstritten als das starke Geschlecht gelten, während die Männer eher Heim und Herd hüten. Nicht alle Männer: „Die Gabe“, das erfahren wir durch einen Briefwechsel vor und nach dem Roman, stammt eigentlich aus der Feder eines Historikers, der Tausende Jahre nach der Katastrophe lebt. Neil Adam Armon ist ein Mann, der sich, ganz unerhört, künstlerisch betätigt. Er schickt Naomi, einer toleranten Frau, die ihn fördert, sein Manuskript, warnt aber vor unkonventionellen Inhalten wie bewaffneten Männerbanden, die Frauen unter ihrer Kontrolle haben. Verrückt, findet Naomi, aber auch irgendwie sexy. Ob er darüber nachgedacht hätte, unter einem weiblichen Pseudonym zu schreiben? Es sind genau diese Details, die im Gedächtnis bleiben: das Fernsehmoderatorenduo, bestehend aus einer kompetenten Frau und einem hübschen, aber etwas doofen Kerl. Die neue Männermode, die vor allem die Beule im Schritt betont. Männer, die gegen ihren Willen Sex mit Frauen haben. Klingt abstoßend? Wären die Rollen vertauscht, wir würden einfach darüber hinweglesen. So „normal“ erscheint uns das.

Den Betrunkenen in der Straßenbahn wurde ich übrigens los, indem ich eine letzte Einladung auf einen Schnaps höflich ausschlug und bei Rot über die Ampel lief, in der Hoffnung, dass der Feierabendverkehr auf einer vierspurigen Straße ihn davon abhalten würde, mir nachzulaufen. Als ich mich auf der anderen Seite umdrehte, war er verschwunden. Das wirklich Schlimme an dieser Geschichte ist aber, dass ich sie bisher niemandem erzählt habe. Ich hielt es einfach nicht für bemerkenswert genug – ist ja eigentlich nichts passiert. Ist mir auch nicht zum ersten Mal passiert. Oder zum letzten Mal. Das muss sich ändern, und Bücher wie „Die Gabe“ können eine solche Veränderung mit anstoßen. Time’s up.

Naomi Alderman: Die Gabe • Roman • Aus dem Englischen von Sabine Thiele • Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 • 464 Seiten • Preis des E-Books: € 13,99 • im ShopLeseprobe

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