2. Juli 2018 1 Likes

Das wehrhafte Narrativ

Wie ich versuche, mit „Walkaway“ eine Geschichte zu erzählen, um die Geschichte zu verändern

Lesezeit: 5 min.

„Halte nach den Helfern Ausschau“, sagte meine Mutter stets, wenn ich als Kind schlimme Nachrichten im Fernsehen sah. „Es ist immer jemand da, der helfen will.“ Diesen Ratschlag beherzige ich bis zum heutigen Tag. Insbesondere bei sogenannten Katastrophen finde ich es tröstlich, dass es so viele Helfer gibt – so viele, die sich um ihre Mitmenschen kümmern.
– Mr. Rogers

2013 schrieb ich für das Magazin Locus einen Artikel über das erstaunliche Jahrzehnt, das seit dem Erscheinen meines ersten Romans „Backup“ vergangen war, und stellte einige Spekulationen über das Buch an, das ich als nächstes schreiben wollte. „Es ist nicht schwierig“, schrieb ich, „in einem Buch, in dem die Protagonisten allesamt gute Menschen sind und sich keinen existentiellen Herausforderungen stellen müssen, optimistisch zu bleiben. Allerdings sind Geschichten, in denen die Menschen anständig bleiben, auch wenn Gefahr für Leib und Leben droht, um einiges interessanter: Jemand teilt seine Vorräte mit seinem Nachbarn, obwohl er dadurch riskiert, selbst zu verhungern. Ein anderer nimmt ein Waisenkind auf, obwohl er seine eigenen Kinder kaum ernähren kann. Kurz gesagt: Die optimistischsten Geschichten sind die, in denen sich Menschen auch in Krisensituationen gegenseitig helfen.“

Dieses Buch – „Walkaway“ – ist nun auf Deutsch erschienen. Viele meiner persönlichen Vorbilder wie Edward Snowden, William Gibson, Neal Stephenson, Kim Stanley Robinson und Yochai Benkler (der Harvardprofessor, der mit „Wealth of Networks“ die bisher beste Studie über die Möglichkeiten und Gefahren verfasst hat, die das Ende der Knappheit mit sich bringt) haben es bereits gelesen und für gut befunden.

„Walkaway“ ist eine Katastrophenutopie über Menschen, die sich trotz widrigster Bedingungen gegenseitig helfen, und ein bewusster Gegenentwurf zu den klassischen Science-Fiction-Geschichten, in denen die Gesellschaft in Gewalt und Chaos versinkt, sobald die moderne Technologie nicht mehr funktioniert (auch ich habe des Öfteren aus Faulheit auf dieses Motiv zurückgegriffen). Diese Geschichten gehen davon aus, dass ein großer Teil der Bevölkerung aus Drecksäcken besteht, die einem ohne zu zögern das Fell über die Ohren ziehen würden, wenn man sie nur ließe.

Was für eine bizarre Vorstellung! Immerhin kann man mit vielen Verbrechen auch heute schon ungestraft davonkommen – beispielsweise muss man sich nur zehn Minuten lang im Internet über die Kunst des Schlossknackens kundig machen, und man erfährt dabei nicht nur, dass die Leute, die Schlösser herstellen, allesamt Betrüger sind, sondern man lernt auch, wie man in das Nachbarhaus einsteigen kann, wenn gerade niemand da ist. Das einzige, das einen davon abhält, im Haus seines Nachbarn teure Ferngespräche zu führen, die Unterwäsche des Besitzers zu tragen und den Kühlschrank leer zu futtern, ist der Glaube an die Geschichte von Normalität, Verhältnismäßigkeit und Moral, die man sich selbst erzählt. Auch wenn man seinen Nachbarn nicht leiden kann oder ihn sogar hasst, wird man nicht durch die Hintertür in sein Haus einbrechen und Schokoladenpudding in seine Schuhe kippen. Das gehört sich einfach nicht.

Als Ferngläser und Teleskope für jedermann erschwinglich wurden, war es bereits gesellschaftlicher Konsens, nicht in anderer Leute Fenster zu gucken. Dass dies auch illegal ist, schreckt eher theoretisch ab; in der Praxis kann ein Spanner wohl so viel spannen, wie er will, ohne erwischt zu werden. Dass es Gesetze gegen Voyeurismus gibt, ist ein Resultat dieses gesellschaftlichen Narrativs, nicht seine Ursache.

Zwischen diesen beiden Elementen gibt es eine Wechselbeziehung: Gesetze, die mit dem Narrativ übereinstimmen, bestätigen es (und umgekehrt). Gesetze, die dem Narrativ widersprechen, schwächen es (und umgekehrt). Wie es Lenny Bruce so treffend ausgedrückt hat: Sex mit Hühnern ist nur deshalb gesetzlich verboten, weil es irgendjemand irgendwann einmal versucht hat. Dieses Gesetz bekräftigt das Narrativ, dass wir unser Geflügel in Ruhe lassen sollen, und im Gegenzug hat das Narrativ dafür gesorgt, dass das Gesetz in Kraft getreten ist. Andere Gesetze dagegen, die die Sexualität zwischen einvernehmlich handelnden Erwachsenen regeln, sind nicht nur ungerecht, sie legitimieren auch die angebliche Unmoral dieser Handlungen. Das Gegennarrativ, das nichts Sittenwidriges oder Anstößiges darin findet, dass sich liebende Menschen gegenseitig eine Freude machen, trägt dazu bei, diese Gesetze abzuschaffen. Und eine Abschaffung der Gesetze wiederum stärkt das Narrativ.

Die Zukunft ist das Reich der umkämpften Narrative. Wer sich mit einer Kamera an die Straßenecke stellt und seine Nachbarn im Vorbeigehen filmt, wird sich ein paar böse Blicke, wenn nicht gar eine Ohrfeige, einhandeln. Einer Überwachungskamera dagegen schenkt man schon gar keine Beachtung mehr. Bezüglich der urbanen Privatsphäre lautet das Narrativ, dass die Aufzeichnung einer fest installierten Kamera etwas völlig anderes darstellt als die Aufnahme mit einem tragbaren Privatgerät. Dieses durchsichtige und verdammenswert bequeme Narrativ hat unsere Städte völlig verwandelt, ohne dass wir es groß mitbekommen haben.

Die amerikanische Präsidentschaftswahl des Jahres 2016 war ein Krieg der Narrative, und das Narrativ, das den Sieg davontrug, behauptete, dass der Mensch von Natur aus schlecht ist, eng gekoppelt mit der Klischeevorstellung einer chaotischen Menschenmasse, die bald den Aufstand proben wird. Dieses Narrativ basiert darauf, ganze Bevölkerungsgruppen, Städte, Nationen und Landstriche zu verteufeln – immer mit dem Hinweis darauf, dass diese beständig an der Unterminierung der sozialen Ordnung arbeiten.

Fremdenfeindlichkeit ist ein altes Narrativ, das aus Krisen Tragödien macht. Der Welt stehen in der Zukunft viele Katastrophen bevor: Klimawandel, Krankheitserreger, Kriege, Sicherheits- und technische Probleme mit unserem schlecht geplanten, aber global verbreiteten Internet der Dinge und massenweise andere Herausforderungen, denen wir nur gemeinsam begegnen können. Keine Nation kann auf eigene Faust den Klimawandel aufhalten – selbst den Nepalesen hilft es nicht, sich auf ihre Berge zurückzuziehen, wenn der Meeresspiegel steigt, solange sie die Atmosphäre und Mikroben mit uns teilen. Der Syrienkonflikt hat uns gelehrt, dass ein Krieg nicht nur die Konfliktparteien, sondern viele Nationen betrifft. Wenn eine Stadt in Not gerät, erfordert die Situation gut ausgebildete und hilfsbereite Menschen – Ingenieure, Ärzte, Erzieher, Handwerker und so weiter. Und wenn in dieser Stadt solche Menschen wohnen, dann ist es doch die beste und unbürokratischste Lösung, sie einfach anpacken zu lassen.

Cory Doctorow: WalkawayOder etwa nicht? Ist es nicht so, dass der gewöhnliche pessimistische Katastrophenroman, in dem sich die zu Kannibalen verkommene Unterschicht erhebt, sobald das Licht ausgeht, von uns eigentlich erwartet, dass wir uns mit den guten Menschen identifizieren? Mit denjenigen, die sich aus den Trümmern erheben und einen Neuanfang wagen. Den Helfern. Sie sind die Sympathieträger. Die Helfer sind immer zur Stelle, und wenn das Licht ausgeht, kramen sie ihre Taschenlampen heraus, leeren den Eisschrank und schmeißen ein Grillfest für die Nachbarschaft.

Und deshalb geht in einem optimistischen Katastrophenroman die größte Gefahr nicht von schlechten Menschen aus, sondern vom Glauben daran, dass die Menschheit schlecht ist.

„Walkaway“ ist ein wehrhaftes Gegennarrativ, ein Plädoyer für bessere Narrative und bessere Geschichten. Ich wünsche Ihnen viel Spaß damit.
 

Cory Doctorow ist Schriftsteller, Journalist und Internet-Ikone. Mit seinem Blog auf boingboing.net und seinem Kampf für ein faires Copyright hat er weltweit Berühmtheit erlangt. Sein Roman „Little Brother“ wurde ein internationaler Bestseller. Doctorow lebt mit seiner Familie in Los Angeles. Sein gerade erschienenes Buch „Walkaway“ ist im Shop erhältlich.

Foto © Bart Nagel

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