17. Juli 2018 2 Likes

Heute noch Mensch, morgen schon KI

Eine erste Leseprobe aus Dennis E. Taylors genialem Space-Abenteuer „Ich bin viele“

Lesezeit: 15 min.

Das Leben ist ungerecht. Das erfährt Bob Johansson, der Held aus Dennis E. Taylors Roman „Ich bin viele“ (im Shop) am eigenen Leibe. Kaum hat der smarte Bob, der immer einen passenden Spruch auf den Lippen hat, einen Vertrag über das Einfrieren seines Körpers nach dem Tod geschlossen, als ihn derselbe auch schon in Form eines zu schnell fahrenden Pkws ereilt. Wie Bob sich fühlt, als er als KI wieder aufwacht, erfahren Sie in unserer Leseprobe.

 

Bob Version 2.0

Ruckartig kam ich wieder zu Bewusstsein. Die normale Übergangsphase, mit der ich vertraut war, wenn ich aufwachte, blieb aus. Ich erinnerte mich an das Auto, das auf mich zugefahren war. Wie seltsam. Eigentlich hätte ich diese letzten paar Sekunden doch vergessen müssen, da sie nicht genug Zeit hatten, sich in mein Langzeitgedächtnis einzuprägen. Andererseits waren das ja vielleicht gar nicht die letzten paar Sekunden gewesen.

Während ich reglos und mit geschlossenen Augen dalag, führte ich eine vorsichtige Bestandsaufnahme durch. Ich hatte keine Schmerzen. Genau genommen konnte ich meine Arme, die Beine und den ganzen restlichen Körper überhaupt nicht spüren. Es fehlten alle propriozeptiven Eindrücke, die mir normalerweise verraten hätten, ob ich bequem lag oder … was auch immer. Das war nicht gerade ein gutes Zeichen, und ich hielt es für wahrscheinlich, dass ich komplett gelähmt war.

Einen Moment lang befiel mich Panik, die jedoch gleich darauf von einer Art verwirrter Überraschung abgelöst wurde. Denn meine Panik schien sich allein auf geistiger Ebene abzuspielen. Ich hatte weder das Gefühl, beschleunigt zu atmen, noch dass mein Herz raste, und ich spürte auch keine Muskelanspannung, mit der sich mein Körper auf einen Kampf-oder-Flucht-Impuls vorbereitet hätte. Nichts von alledem. Zwar war ich generell eher ein verkopfter Mensch, aber das hier schien sogar für mich eine sehr vulkanische Reaktion zu sein.

Wow. Bin ich von der Stirn abwärts gelähmt? Vielleicht befinde ich mich ja in einem künstlichen Koma. Aber wenn das stimmt, ist es kein sehr tiefes.

Entschlossen öffnete ich die Augen.

Oder versuchte es wenigstens. Nichts passierte. Dieses Mal geriet ich tatsächlich in Panik. Die Vorstellung, blind zu sein, war für mich ein Albtraum. Ein paar Sekunden lang geriet mein Verstand außer Kontrolle. Ich dachte an Filme, die ich niemals sehen würde. Bücher, die ich nun nicht mehr lesen konnte.

Aber auch diesmal wurde mein Angstzustand nicht körperlich verstärkt. Ich spürte keinen Adrenalinrausch und auch keine anderen Symptome. Mir fielen keine Beschwerden ein, die sich so äußerten. Vielleicht stand ich unter Drogen. Dann musste das aber ziemlich starkes Zeug sein.

Allmählich nahm meine Panik erste Züge von Wahnsinn an, und ich beschloss erst einmal bei der Theorie mit den Drogen zu bleiben.

Da es mir wirklich wichtig war, die Lage in den Griff zu bekommen, versuchte ich noch einmal, die Augen aufzuschlagen. Ich malte es mir in Gedanken aus. Die Muskelbewegungen, das Gefühl, wie sich die Lider öffneten …

Und dann konnte ich sehen! Ganz plötzlich und erneut ohne jeden Übergang. Es lässt sich kaum beschreiben, wie erleichtert ich über diesen kleinen Erfolg war.

Es schien, als würde ich sitzen, da ich nicht die Decke, sondern eine Wand ansah. Der Raum schien ein Krankenzimmer, ein Labor oder ein unscheinbares Behördenbüro zu sein. Die Wände hatten diesen typischen Erstanstrich aller neuen Gebäude, einen speziellen grauweißen Farbton. In der weiter entfernten Wand war ein großes Fenster eingelassen, das im Moment von irgendetwas Weißem verdeckt war. Zuerst hielt ich es für eine Jalousie, aber sie schien direkt auf das Glas aufgedruckt zu sein.

Ich rechnete eigentlich damit, direkt vor mir einen Teil meines Körpers zu sehen, vielleicht unter einer einfachen Krankenhausbettdecke. Stattdessen blickte ich jedoch auf eine flache Ebene. Möglicherweise eine Tischplatte.

Gleich hinter dieser Fläche saß ein Mann und studierte einen Tablet-Computer. Er sah ganz ohne Witz genau so aus, wie sich die meisten Leute Sigmund Freud vorstellen würden, bis hin zu seinem weißen Laborkittel. Er kann nicht wirklich ein Psychiater sein. Das wäre doch zu viel des Guten. Ist er etwa gekommen, um mit mir über meine Verletzungen zu sprechen? Es muss ziemlich schlecht um mich stehen, wenn beim Aufwachen ein Therapeut auf mich wartet.

Aber irgendetwas an dem Mann war seltsam. Das Hemd, das er trug, sah beinahe wie das eines Priesters aus. Und seine Armbanduhr …

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich ein Problem mit der Perspektive hatte. Der Raum kam mir tief und eng vor, und es sah aus, als würde Freud vom Hinterkopf bis zur Nasenspitze zwei Meter messen. Tatsächlich schien seine Nase, als er den Kopf drehte, ungefähr dreißig Zentimeter weit aus seinem Gesicht herauszuragen.

Noch während ich versuchte, mir auf diesen eigenartigen optischen Effekt einen Reim zu machen, hatte ich das Gefühl, als würde sich etwas verschieben. Ein surrendes Geräusch ertönte, und plötzlich stimmte die Perspektive. Doch bevor ich mich näher mit diesem Gefühl und dem Geräusch befassen konnte, sah Freud zu mir auf und lächelte. »Gut. Sie sind wach.«

Ich versuchte zu antworten, aber alles, was ich herausbrachte, war eine Mischung aus Husten und statischem Rauschen. Um Himmels willen, ich klinge wie ein Sprachgenerator mit Kurzschluss.

Freud legte das Tablet weg und beugte sich vor. Dabei stützte er die Arme auf den Schreibtisch oder was immer das für ein Möbelstück war. »Versuchen Sie es bitte weiter. Manchmal sind mehrere Anläufe nötig, bis sich das GUPPI- Interface verbindet.«

Während ich darüber nachdachte, was er gerade gesagt hatte, schossen mir sofort drei Dinge durch den Kopf. Erstens, ich war nicht tot. Naja, ich denke, also bin ich, bla bla. Diesen Punkt konnte ich also abhaken. Zweitens, ich war keineswegs so gut wie neu …

Tatsächlich schien es so, als spräche ich durch einen Stimmengenerator. Und zwar per Gedankensteuerung, was mich zu Punkt drei brachte – es musste große technische Fortschritte gegeben haben, seit ich von dem Auto überfahren worden war. Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Und was zum Teufel war ein Guppy-Interface?

Ich versuchte es noch einmal und konzentrierte mich darauf, die Wörter zu bilden. »Xzjjzzjjj … Möchte mir mal zhixxxjx erklären, was hier los ist?«

Freud klatschte in die Hände. »Ganz exzellent. Ich heiße Dr. Landers, Bob. Ich werde Ihnen alle Fragen beantworten und Ihnen helfen, sich auf Ihr neues Leben vorzubereiten.«

Neues Leben …? Was hat denn mit meinem alten nicht gestimmt? Mir gefällt überhaupt nicht, wo das alles hinzuführen scheint.

Dr. Landers zog das Tablet zu sich heran, bis es direkt vor ihm lag. »Also, Bob, was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern?«

»An ein Auto, das auf mich zugefahren ist. Ich habe fest damit gerechnet, dass es mich rammen würde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es das auch getan hat.«

»Ganz richtig, Bob. Als Sie im Krankenhaus ankamen, befanden Sie sich in einem äußerst kritischen Zustand. Wegen des Vertrags, den Sie mit CryoEterna geschlossen hatten, standen bereits ein paar Angestellte der Firma mit einem Kryo-Behälter parat, als Ihr Tod festgestellt wurde.«

»Ach, gut zu wissen, dass ich mein Geld nicht zum Fenster rausgeworfen habe. Aber sagen Sie, welches Jahr haben wir?«

Dr. Landers lachte. »Es ist schön, mit einem Subjekt zu sprechen, das so schnell begreift. Heute ist der 24. Juni 2133, und wir befinden uns in New Handeltown, das zu Ihrer Zeit Portland hieß.«

Das überraschte mich. Dann sind es also … [117] Jahre. Moment mal, wo kam das denn her? Ich war schon immer gut im Kopfrechnen gewesen, aber normalerweise musste ich wenigstens die einzelnen Rechenschritte vollziehen. Diese Antwort war jedoch so plötzlich aufgetaucht, als hätte sie mir jemand ins Ohr gesagt. Schräg, aber damit beschäftige ich mich später. Das kommt auf meine To-do-Liste.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Doktor. Sein komisches Hemd ergab jetzt ein wenig mehr Sinn. Natürlich hatte sich die Mode nach mehr als hundert Jahren ein wenig verändert. Die Uhr wollte ich mir trotzdem genauer ansehen. »Wer ist Handel?«, fragte ich.

»Ach, Bob, eins nach dem anderen. Wenn ich Kandidaten auf den aktuellen Stand bringe, folge ich einem genauen Protokoll, und die Geschichtsstunde hat noch nicht begonnen.«

»Dann sagen Sie mir wenigstens, was mit Old Handeltown passiert ist.«

Dr. Landers lächelte und schüttelte den Kopf.

Ich seufzte und nickte. Oder besser gesagt, ich versuchte zu nicken. Mein Gesichtsfeld bewegte sich nicht. Also konnte ich zwar meine Augen kontrollieren, aber nicht den Kopf. Allmählich kam mir der Verdacht, dass ich an einer Art Locked-in-Syndrom litt. »Na gut«, schnaubte ich. »Können wir dann darüber sprechen, wie viel an mir noch menschlich ist? Diese künstliche Stimme sagt mir, dass sie mich nicht völlig wiederhergestellt haben. Zu wie viel Prozent bin ich ein Borg? Sollte ich Sie um einen Spiegel bitten, oder wäre das eine schlechte Idee?«

»Äh …« Dr. Landers blickte auf sein Tablet hinunter und zögerte. Dann sah er wieder mich an. »Der Vergleich mit einem Borg ist nicht ganz korrekt. Wenn ich mich richtig an Star Trek erinnere, sind die Borgs zumindest zum Teil menschlich. Ich glaube, Mr. Data trifft es eher.«

Ich starrte ihn eine gefühlte Ewigkeit an. Mein Verstand war völlig leer. Es schien mir unmöglich, einen Gedanken zu fassen. Schließlich fand ich meine Stimme wieder. »Zhzzjjjz … Wie bitte?« Beiläufig fiel mir auf, dass ich immer noch keine Panikattacke erlitten hatte. Und zum ersten Mal glaubte ich zu wissen, wieso.

»Bob, Sie sind, was die meisten Leute als Künstliche Intelligenz bezeichnen würden. Obwohl das auch nicht ganz richtig ist. Sie sind eine Kopie des Verstandes von Robert Johansson, abgeleitet aus einem subzellulären Scan seines kryogen gefrorenen Gehirns. Die dabei gewonnenen Daten wurden in eine Computersimulation umgewandelt. Im Grunde genommen sind Sie ein Computerprogramm, das glaubt, es sei Robert Johansson. Ein Replikant.«

»Bedeutet das, dass ich unsterblich bin?«

Einen Moment lang sah Dr. Landers erstaunt aus, dann warf er den Kopf in den Nacken und lachte. »Das ist nun wirklich nicht die Reaktion, die ich normalerweise erlebe. Offenbar haben wir die Verleugnungsphase komplett übersprungen. Ich habe immer mehr das Gefühl, dass es eine gute Idee war, Sie zu replizieren.«

»Also, äh … Danke. Dann bin ich … Das ist … Ist Bob noch am Leben? Oder noch tot? Ich meine, noch in Kryo?«

»Ich fürchte, nein.« Dr. Landers rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. »Die Aufzeichnung ist ein zerstörerischer Prozess. Wir müssen das Gehirn zunächst ausreichend auftauen, um ohne Eiskristalle die synaptischen Potenziale zu messen. Dabei kommen Chemikalien zum Einsatz, die das Gehirn abtöten. Es erneut einzufrieren, wäre sinnlos.«

Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, fast als hätte ich ein stromführendes Kabel berührt. Ich weiß nicht, warum es mir so viel ausmachte, dass der ursprüngliche Bob tot war. Ich war doch ohnehin nur ein Computerprogramm. Trotzdem bestürzte mich die Vorstellung, das Einzige zu sein, was von Bob übriggeblieben war. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand ein Messer in den Rücken gerammt. Man hatte mich – also Bob – weggeworfen.

»Aber … aber das bedeutet ja, Sie haben mich umgebracht

Der Doktor seufzte. »Und damit kommen wir zur Geschichtsstunde.«

Er machte es sich auf seinem Stuhl bequem, und sein Blick verlor sich in der Ferne. »Im Jahr 2036 wurde ein unfassbar dreister Fundamentalist namens Andrew Handel zum Präsidenten der USA gewählt. Ja genau, dieser Handel. Während seiner Amtszeit bemühte er sich nach Kräften, Nichtchristen für alle Zeiten aus politischen Ämtern zu verdrängen. Er versuchte auch, die in der Verfassung festgeschriebene Trennung zwischen Kirche und Staat aufzuheben. Da er aufgrund seiner religiösen Überzeugungen nominiert, unterstützt und schließlich gewählt worden war, nicht wegen seiner politischen oder wirtschaftlichen Kompetenzen, besetzte er naturgemäß so viele Posten wie möglich mit Personen, die ähnlich dachten wie er. In einigen Fällen ignorierte er dabei ganz unverfroren alle Gesetze und Gepflogenheiten. Er und seine Helfershelfer drückten zahllose rechtsextreme Positionen durch, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. Und wenn ihm jemand die Folgen seiner Handlungen vor Augen führte, berief er sich darauf, dass Gott seine gerechte Sache schon nicht scheitern lassen würde. Letzten Endes zwang er die USA in die Knie und führte sie in einen wirtschaftlichen Kollaps, neben dem sich die Rezession von 2008 wie ein Picknick im Park ausmachte.« Dr. Landers tippte geistesabwesend auf dem Tablet herum. Es war offensichtlich, dass er diesen Sermon auswendig herunterbetete. »Bei der nächsten Wahl stimmte die Öffentlichkeit für Desmond Ahearn, den ersten – und einzigen – offen atheistisch auftretenden Präsidenten der USA. Seine Berufung war vor allem eine Reaktion auf die bizarre Amtszeit von Handel. Wie Sie sich vorstellen können, geriet die religiöse Rechte darüber komplett aus dem Häuschen. Im Jahr 2041 führten sie einen erfolgreichen Putsch durch, und daraus entstand die Free American Independent Theocratic Hegemony.«

Ich brauchte nur ungefähr eine Millisekunde, um zu erkennen, zu welchem Akronym sich das abkürzen ließ. FAITH. Glaube. Ich stöhnte. »Wie lange haben die wohl an diesem Namen herumgetüftelt?«

Dr. Landers runzelte die Stirn. »In der offiziellen Geschichtsschreibung werden weder Ahearn noch der Putsch erwähnt. Und Handel, so heißt es in den historischen Aufzeichnungen, wurde gewählt, um eine Theokratie zu errichten. Nur damit Sie es wissen, Bob, Kritik an der Regierung ist ein Kapitalverbrechen und wird mit, äh, Umerziehung bestraft. Das sollte man tunlichst vermeiden. Da Sie eine Maschine sind, würde man Sie allerdings nur deaktivieren. Ein Teil meiner Aufgabe besteht darin, Ihnen die rechte Denkart beizubringen, damit Sie ein guter Diener des Staates werden.«

»Bekommen Sie denn keinen Ärger?«, erkundigte ich mich. »Ein paar von Ihren Kommentaren scheinen, wie soll ich sagen, nicht gerade von großem Respekt zu zeugen.«

»Das Wahrheitsministerium, in dessen Ressort diese Unternehmung fällt, ist erstaunlich pragmatisch. Die Leute dort interessieren sich nur für die Resultate und haben uns garantiert, dass sie sich nicht einmischen, solange sie bekommen, wofür sie bezahlen.« Der Doktor verzog das Gesicht. »Ein paar der anderen Ministerien sehen das vielleicht anders. Daher sind wir immer vorsichtig, wenn uns Ministerialbeamte besuchen.«

»Verstehe. Also werde ich als guter Diener des Staates meine Tage damit verbringen, einen Müllwagen oder irgendetwas in der Art zu betreiben, richtig?«

»Ah ja, da Sie schon davon sprechen … Sehen Sie, eine der ersten Amtshandlungen der neuen Theokratie bestand darin, sämtliche kryonischen Einrichtungen für blasphemisch und sämtliche Eingefrorenen für wirklich tot zu erklären. Sie konfiszierten die Vermögenswerte der Klienten – all diese Fonds, die Sie und andere eingerichtet haben, um für Ihre langfristige Lagerung aufzukommen. Und zuletzt haben sie noch sämtliche Aktivposten der Kryo-Unternehmen versteigert, darunter auch ein paar tiefgefrorene Klienten ohne genauen gesetzlichen Status.«

»Sie haben uns versteigert? Wäre es aus christlicher Sicht nicht das Richtige gewesen, uns zu beerdigen? Nicht dass ich mich dafür im Moment wirklich starkmachen möchte. Aber Sie verstehen, was ich meine …«

Dr. Landers sah einen Moment lang fast wütend aus. »Haben sich die Gläubigen zu Ihrer Zeit stets logisch und vorhersehbar verhalten?«

»Der Punkt geht an Sie.« Ich versuchte zu verstehen, was der Doktor mir erklärt hatte. »Ich gehöre also jemandem?«

»Der Firma, für die ich arbeite, um genau zu sein. Applied Synergetics Inc. beliefert die Gesellschaft mit Robodienern. Und zwar in Konkurrenz zu einer Firma namens Total Cyber Systems. Wir verfolgen den Ansatz, Replikanten in Maschinen zu integrieren, während TCS rein Künstliche Maschinenintelligenzen, sogenannte KMIs, konstruiert.«

Ich kicherte. Oder versuchte es wenigstens. Was aus dem Sprachgenerator kam, war jedoch weit von dem Geräusch entfernt, das ich beabsichtigt hatte.

Dr. Landers verzog das Gesicht. »Darin werden Sie noch besser. Keine Sorge. Am Ende dieser Sitzung wird Ihre Stimme nicht mehr von der eines Menschen zu unterscheiden sein. Und um die unausgesprochene, aber naheliegende Frage zu beantworten: KMIs sind derzeit nur für sehr, sehr einfache Aufgaben mit geringem Risiko oder unter genauester Überwachung zugelassen. Vor ein paar Jahren erlitt eine KMI-Schädlingsbekämpfungseinheit in einem Einkaufszentrum einen psychotischen Zusammenbruch und beschloss, dass Menschen ebenfalls Ungeziefer seien. Dutzende von Besuchern wurden verletzt und einige getötet, bevor sie die Geräte schließlich abschalten konnten.«

Ich kicherte erneut. Diesmal klang es nicht mehr ganz so sehr nach einem Drucker mit Papierstau.

»Andererseits«, fuhr Dr. Landers fort, »sind Replikanten auch nicht besser im Multitasking als lebendige Menschen. Deswegen fügen wir ein GUPPI-Interface hinzu, um Aufgaben auszulagern. Ungefähr vier von fünf Replikanten werden verrückt, wenn sie herausfinden, was man mit ihnen angestellt hat.« Er sah mich mit einem schiefen Lächeln an. »Ganz zu schweigen davon, dass die meisten Kryo-Subjekte vor dem Tod wohlhabend waren und es gar nicht gut aufnehmen, dass sie ihr nächstes Leben in Knechtschaft verbringen werden.«

Die Vorstellung, wie irgendein ehemaliger CEO mitgeteilt bekam, dass er von nun an einen Müllwagen fahren würde, ließ mich laut auflachen.

»Daher haben wir manchmal Schwierigkeiten, den richtigen Replikanten für eine Aufgabe zu finden. Und ein gewisser Prozentsatz wird nach einer Weile ohnehin wahnsinnig.«

Das war ein ernüchternder Gedanke. Mich beschlich das ungute Gefühl, dass ich vielleicht auch noch in diesen Abgrund blicken würde. Im Moment kam es mir allerdings noch so vor, als würde all das jemand anderem passieren. An den Rändern meines Bewusstseins zupften Fragen nach der Einzigartigkeit eines jeden Menschen und der Existenz von so etwas wie einer Seele. Ich schob sie jedoch beiseite und beschloss, mich stattdessen auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

»Achtzig Prozent Ausfallrate sind ziemlich übel, Doc. Wie können Sie sich im Geschäft halten?«

»Ein erfolgreiches Subjekt kann in vielen Einheiten installiert werden, Bob. Die meisten derzeit eingesetzten Bergbaugeräte werden von einem gewissen Rudolf Kazini gesteuert, der bereits zu Lebzeiten in einer Mine gearbeitet hat. Wichtig ist vor allem, dass die jeweilige Aufgabe zum Temperament des Subjekts passt.« Der Doktor zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr. »Und natürlich entwickeln wir mehrere Kandidaten.«

Ich versuchte, meine nicht vorhandenen Augenbrauen zu heben, und ärgerte mich, als nichts passierte. »Heißt das etwa, ich habe Konkurrenten?«

»Nun, ja und nein. Für dieses Projekt haben wir fünf Kandidaten aktiviert. Statistisch gesehen, werden vier von Ihnen den Verstand verlieren und abgeschaltet werden. Wenn nach der Trainingsphase mehr als einer von Ihnen bei klarem Verstand ist, dann ja. In diesem Fall werden wir uns entscheiden müssen, denn bei diesem Projekt benötigen wir nur einen einzigen Replikanten.«

»Und der Unterlegene?«

Dr. Landers zuckte mit den Schultern. »Müllwagen. Oder er wird so lange eingelagert, bis sich eine neue Gelegenheit für ihn ergibt.«

Nicht gut. Gar nicht gut. Die Aussicht, verrückt zu werden, stand nicht gerade ganz oben auf meiner Wunschliste, aber die Vorstellung, dass ich dem Tod – mehr oder weniger – von der Schippe gesprungen war, nur um dann Sklavenarbeiten zu verrichten, war echt niederschmetternd. Aber abgeschaltet wollte ich auf keinen Fall werden. Offenbar befand ich mich in einem Wettbewerb, in dem es für mich um alles ging.

Ich würde diese Angelegenheit also sehr ernst nehmen müssen. Und davon ausgehen, dass die anderen Kandidaten ebenso geeignet für die Aufgabe bei diesem Projekt waren wie ich. Worum auch immer es sich dabei handelte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als der Beste zu sein. Und dafür musste ich vor allen Dingen gut informiert sein. »Na gut, was ist das für ein Job?«

»In dieser Phase ist es wirklich nicht sinnvoll, bereits über solche Einzelheiten zu sprechen. Das wäre nur eine unnötige Ablenkung.«

Na, das war wohl nichts. »Können Sie mir dann wenigstens etwas über meine Konkurrenten erzählen?«

»Nein, Bob, dazu besteht kein Grund. Sie werden ihnen nie begegnen. Am besten fangen Sie gar nicht damit an, Menschen in ihnen zu sehen.«

Das ergab durchaus Sinn, wenn auch auf eine sehr kalte, klinische Weise. Damit hatte ich bislang allerdings noch nicht sehr viele Informationen gesammelt. »Okay. Nächste Frage. Warum gerate ich bei alldem nicht in Panik? Die Situation ist völlig bizarr. Ich bin tot. Ich meine, mein ursprüngliches Ich ist tot. Ich bin ein Computerprogramm. Ich bin ein Eigentumsobjekt. Warum rase ich nicht in der Gegend herum und wedele wie irre mit den Händen? Mal abgesehen vom offensichtlichen Grund.«

Dr. Landers grinste, schien aber nicht wirklich amüsiert. »Wir können nicht Ihre Persönlichkeit modifizieren, Bob. Sie ist eine Eigenschaft, die sich im permanenten Fluss befindet. Alle bisherigen Versuche, etwas an ihr zu verändern, haben zu, äh, unbrauchbaren Subjekten geführt. Also heißt es alles oder nichts. Allerdings können wir Ihre endokrinen Simulationen kontrollieren. Panik entwickelt sich in einer Feedbackschleife, bei der unter anderem Adrenalin eine Rolle spielt. Also schränken wir die Ausschüttung dieses Hormons einfach ein. So können Sie weder in Panik geraten noch wütend werden oder Angst bekommen. Sie können, wenn man so will, im äußersten Fall ernsthaft besorgt sein.«

»Und dennoch verzeichnen Sie eine Ausfallrate von achtzig Prozent?« Ich versuchte, eine Geste zu vollführen. Da ich jemand war, der immer viel mit den Händen geredet hatte, frustrierte es mich, dass auch das nicht funktionierte. »Sagen Sie, werde ich irgendwann Gliedmaßen bekommen? Diese Körperlosigkeit geht mir auf die Nerven … oder die Schaltkreise. Was auch immer.«

Dr. Landers nickte. »Ich finde, dass wir für einen Tag sehr große Fortschritte gemacht haben. Sie haben sich als sehr vernünftig erwiesen und sind besser mit dieser Situation umgegangen, als ich mir erhoffen durfte. Wir machen morgen weiter, und dann schauen wir mal, ob ich Ihnen ein paar Peripheriegeräte beschaffen kann.«

Dr. Landers hob sein Tablet an und tippte mit dem Finger auf das Display.

»Warten Sie. Nein, ich …«

 

Dennis E. Taylor: „Ich bin viele“ ∙ Roman ∙ Aus dem Amerikanischen von Urban Hofstetter ∙ Wilhelm Heyne Verlag, München 2018 ∙ 464 Seiten ∙ Preis des E-Books € 11,99 (im Shop)

 

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