13. August 2018 2 Likes

Münchens Uncanny Valley

Margit Ruile erzählt in „God's Kitchen“ von dem Lernprozess eines Robotermädchens

Lesezeit: 3 min.

Vergangenes Jahr befasste sich Margit Ruile in „Dark Noise“ mit den Möglichkeiten der Manipulation von digitalen Bildern in Film- und Fernsehen. Dabei befand sich die Absolventin der Münchener Filmhochschule voll in ihrem Element und vermischte filmisches mit literarischem Erzählen. Auch in ihrem neuen Jugendroman „God‘s Kitchen“ befasst sie sich wieder mit einem hochaktuellen Thema: die Erschaffung künstlicher Intelligenz.

Die Vollwaise Celine studiert Psychologie in München. Nach dem Tod ihrer Eltern und des kleinen Bruders verbrachte sie viel Zeit in Heimen und bei unterschiedlichen Pflegefamilien. Wenn es mal wieder nicht gut lief, rannte sie einfach davon. Ein Grund für diese Verhalten: Celine kann in die Zukunft sehen. Es sind immer nur Bilder, kurze Szenen, ohne Orts- und Zeitangaben, die sie von jetzt auf gleich überfallen. Dieses „Gedankengewitter“, diese „Gabe“, begleitet sie seit ihrer Kindheit. Selbst den Tod ihrer Familie hat sie damals vorausgesehen, retten konnte sie sie allerdings nicht. Wer hätte schon den wilden Phantastereien einer Grundschülerin Glauben geschenkt? Nachdem Celine einen Unfall vorher gesagt hat, droht sie wieder als verrückt abgestempelt zu werden. Zum Glück meldet sich ihre Campusfreundin Pandora bei ihr. Celine bekommt dadurch die Chance auf ein Praktikum in den Semesterferien bei einem Projekt der Neuroinformatiker. Genauer gesagt: in der „God‘s Kitchen“.

Hier gilt: nomen est omen. Pandora und ihr Team arbeiten an der Erschaffung eines digitalen Wesens, das mit der analogen Welt interagieren soll. Die Robotik-Nerds spielen quasi Gott auf der Klaviatur des durch Algorithmen gesteuerten Denkens. Das „Baby“ ist eine künstliche Intelligenz und hört auf den Namen Chi. Ihr Roboterkörper ist dem eines kleinen Mädchens nachempfunden. Dadurch, so hoffen ihre Macher, soll den Menschen die Scheu und Angst vor dem High-Tech-Produkt genommen werden. Ihr Ziel: die perfekte Therapeutin erschaffen. Celine ist von Chi fasziniert und beängstigt zugleich. Gefühle, die auch die Leser beschleichen, denn Chi ist eine perfekte Maschine und ahmt bereits die menschliche Mimik gekonnt nach. Genauso wie das Entwicklerteam die Grenzen der Forschung auslotet, lotet auch Ruile die Macht der KI auf die Menschen aus. Mehrmals lässt sie Grenzen überschreiten und ihre Protagonisten die Forschung in eine fragwürdige Richtung lenken. Je mehr Zeit Celine und die Leser mit Chi verbringen, desto mehr Zweifel an diesem Projekt tauchen auf – und desto mehr fragt sich Celine, ob ihre neuen Freunde nicht doch nur an ihrer Gabe interessiert sind.

Wie auch schon in „Dark Noise“ setzt Margit Ruile in „God‘s Kitchen“ auf mehrere Erzählebenen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden miteinander vermischt. Celines Visionen erscheinen dadurch immer mal wieder in einem anderen Licht. Diesem Chaos stehen die bis ins kleinste Detail geplanten Lernprozesse gegenüber, denen Chi unterworfen ist und an denen Celine mitarbeitet. Diese Stellen sind es auch, die die Leser zum Nachdenken anregen. Was davon ist real, was davon nur theoretisch möglich? Wie kontrollierbar sind solche KI? Lassen sich überhaupt Grenzen in ein selbst lernendes Individuum implementieren? Natürlich möchte Ruile keine ultimativen Antworten auf diese Fragen geben. Und wahrscheinlich werden sie sich auch erst beantworten lassen, wenn eine reale „Chi“ das Licht der Technikwelt erblickt.

„God‘s Kitchen“ ist ein Roman über Gegenwart und Zukunft, Lüge und Wahrheit, künstliche und menschliche Intelligenz. Margit Ruiles Roman aus der wohl gar nicht so weit entfernten Zukunft nimmt seine Leser mit auf eine Reise in die Welt der Neuroinformatik. Statt auf wissenschaftliche Fachtermini und Erklärungen setzt sie auf die psychologischen Auswirkungen der Konfrontation zwischen unperfekten Menschen und perfekter Maschine. Während Chi die Rolle des kleinen Horrormädchens perfekt ausfüllt, bleiben die anderen Figuren jedoch hinter ihren Möglichkeiten zurück. Dennoch ist „God‘s Kitchen“ ein weitaus zugänglicher Roman als „Dark Noise“ – und ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Margit Ruile: God’s Kitchen • Loewe, Bindlach, 2018 • 320 Seiten • 14,95 € • Empfohlen ab 14 Jahren

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