19. Mai 2017 3 Likes

Der kleine Gott an seinem Rechner

Über die Manipulierbarkeit der realen Welt erzählt Margit Ruile in „Dark Noise“

Lesezeit: 3 min.

Erinnern Sie sich noch an „Varoufake“, Jan Böhmermanns kongenialen Stinkefingerstreich? Gegen das, was Margit Ruile in ihrem Jugendbuch „Dark Noise“ schildert, wirkt die Spielerei des ZDFneo-Aushängeschilds wie ein Kindergeburtstag.

Held der Geschichte ist der junge Zafer, ein begnadeter Retuscheur, der stundenlang an seinem Rechner Schleichwerbung, Mikrofone und sonstige Produktionstechnik Sequenz für Sequenz aus den Folgen einer Seifenoper löscht. Er ist gut in seinem Job, sehr gut sogar, und damit ihm nicht langweilig wird, platziert er zwischendurch Eigenkreationen, kleine Monster, für Sekundenbruchteile in den Folgen. Eines Tages bekommt er von dem geheimnisvollen „Laurin“ ein Angebot per Mail: Ob er nicht das Nummernschild eines Wagens unkenntlich machen könne? Kein Problem! Das Entfernen eines Mannes aus einer Filmszene? Ein Klacks! Einen anderen Menschen in ein Video einfügen? Schwierig, aber nicht unlösbar. Während sich sein Kontostand schwindelerregend erhöht, lernt er die Straßenmusikerin Emily kennen, die ihn verzaubert. Doch das Mädchen hat es selbst technisch faustdick hinter den Ohren, gehört sie doch einer Untergrundorganisation namens »Dark Noise« an, die sich dem Kampf gegen die Überwachungsfirma »Argos« verschrieben hat, die ihre Stadt immer weiter mit Kameras zupflastert. Zafers und Emilys Wege kreuzen sich wieder, als sein neuestes Video im Zusammenhang mit einem Journalistenmord auftaucht. Der angebliche Täter soll Prosperos, der Anführer von »Dark Noise« sein. Je mehr die beiden über den Mord und Prosperos Vergangenheit recherchieren, umso tiefer geraten sie in eine Welt, in der nichts mehr so ist wie es scheint und neuronale Netzwerke Realität und Virtualität miteinander verschmelzen lassen.

Mit »Dark Noise« entführt Margit Ruile ihre Leser jenseits des Fernsehzirkus und zeigt, welche Gefahr von manipulierten Bildern ausgehen kann, die nicht mehr als Fälschungen zu erkennen sind. Dabei setzt sich die Absolventin der Münchener Filmhochschule kritisch mit der rasanten Entwicklung auseinander, die Spezialeffekte hinter sich haben und skizziert ein Szenario, in dem der Betrachter die Realität in Zweifel zieht. Das Thema an sich ist natürlich nicht neu. Reale wie auch fiktive Fälschungen jeglicher Art sind in der Geschichte der Menschheit immer wieder aufgetaucht und beflügeln bis heute die Fantasie von Autoren und Künstler. So hat sich u. a. Umberto Eco Zeit seines Lebens mit Fälschungen befasst.

In Ruiles Roman geht es aber nicht nur um die perfektionierte Kunst der Retusche, sondern auch um den Machtgehalt, der damit verbunden ist. Für Claire, eine ältere Pionierin im Umgang mit neuronalen Netzen, ist das Tilgen von Menschen aus der digitalen Vergangenheit und Gegenwart, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Diese neue Form der römischen „damnatio memoriae“ spielt dann auch eine Rolle im Roman, jedoch in einem weitaus bedrohlicheren Ausmaß, als es zunächst den Anschein hat.

Um die Problematik zu verdeutlichen, die die Manipulation der Realität mit sich bringt, bedient sich Ruile eines unzuverlässigen Erzählers, der es dem Leser durchaus schwer macht, einen Zugang zum Buch zu finden. Angesichts des Themas ist das allerdings kein allzu schlechter erzählerischer Kniff. Einziger dicker Minuspunkt bei der ganzen Sache: die vielen ITler-Klischees, die der arme Zafer erfüllen muss, trüben den Gesamteindruck (er geht nie raus, kommuniziert am liebsten per eMail, ernährt sich nur von Pizza und hat seine Wohnung noch nie (!) gelüftet…). Dabei zeigt sie mit ihrer Figur der Emily, dass es auch anders geht – doch wer weiß, in dieser Buchwelt kann man niemandem trauen… Ausgeschmückt mit Symbolik aus Lewis Carolls „Alice“-Romanen, Tolkiens Gesamtwerk, Shakespeare und der nordischen Sagenwelt ist »Dark Noise« ein kurzweiliger Roman über ein Thema, das die Welt noch lange beschäftigen wird.

Margit Ruile: Dark Noise • Loewe, Bindlach, 2017 •  288 Seiten • 14,95 € • Empfohlen ab 14 Jahren

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