23. Oktober 2018 1 Likes

Doppelte Zukunft mit glitzerndem Dekor

Mit „Peripherie“ artikuliert William Gibson das Unbehagen in der digitalen Epoche

Lesezeit: 4 min.

William Gibson, dessen epochale „Neuromancer“-Trilogie weiterhin greifbar ist, gehört seit den 1980er Jahren zu den großen Innovatoren der Science-Fiction, wobei sein Einfluss weit über die Grenzen des Genres hinaus ragt. Nachdem die zwischen 2003 und 2010 veröffentlichten Bücher um die Figur Hubertus Bigend weniger Anklang beim Publikum fanden, kehrt er mit seinem neuen Roman „Peripherie“ zu alten Stärken zurück und entwirft eine verblüffende Zukunft, die zahlreiche Strömungen der Gegenwart aufgreift. Nach der gebundenen Ausgabe und dem E-Book lässt sich der großartige Roman nun auch als Taschenbuch entdecken.

William Gibson: PeripherieEs ist ein erschreckendes Bild, das sich der US-Amerikanerin Flynne Fisher bietet, als sie das im Rahmen eines Spiels entworfene virtuelle London besucht: Ein rucksackähnliches Etwas, einer schwarzen Eihülle nicht unähnlich, erklimmt dort die Stockwerke eines Hochhauses und tötet auf unerklärliche Weise eine Frau, die sich auf einem Balkon befindet. Doch Flynne sieht nicht nur die Tat, sondern auch den Mörder, der neben der Frau steht; und sie muss schon bald erkennen, dass dieses Wissen gefährlich ist. Denn sie hat keineswegs ein neues Computerspiel getestet, wie von ihrem Bruder behauptet wurde, sondern einen Blick in die Zukunft geworfen, siebzig Jahre von ihrer Gegenwart entfernt. Dort muss der PR-Agent Wilf Netherton gerade erleben, wie ein Treffen seiner Klientin Daedra West mit dem Abgesandten der „Pusher“ – einer Gruppe „modifizierter“ Neo-Animisten, die aus dem Treibgut des Nordpazifischen Müllwirbels ein 300 Millionen Tonnen schweres Artefakt errichtet haben – im Desaster endet. Kurz darauf wird er mit dem Verschwinden von Daedras Schwester konfrontiert; eben jenem Mordopfer, das Flynne beobachtet hat. Aber Wilfs einflussreiche Freunde, die Kontakt mit der Vergangenheit aufnehmen können, sind auf die junge Frau aufmerksam geworden. Sie sorgen dafür, dass Flynnes Geist temporär in ein „Peripheral“ übertragen wird, einen Kunstmenschen, mit dem sie sich im zukünftigen London bewegen kann. Dabei muss Flynne feststellen, dass die Gegenseite sie auch in ihrer Heimat zu bedrohen vermag – und dass es zwischen den beiden Enden der Zeitachse ein Ereignis gibt, das von den Überlebenden nur als „Jackpot“ bezeichnet wird und einen Großteil der Menschheit ausgelöscht hat.

Bei „Peripherie“ handelt es nicht um einen Zeitreiseroman, obwohl er zwei Zukunftsebenen miteinander verzahnt. Flynnes Welt ist ein verarmtes Kaff in den Vereinigten Staaten, vielleicht dreißig Jahre von heute aus angesiedelt und von kaum mehr als Hoffnungslosigkeit zusammengehalten. Treffendstes Beispiel hierfür ist Connor, ein Kriegsveteran, der aus einem nicht näher bezeichneten Konflikt als Wrack heimgekehrt ist. Das zukünftige London hingegen bietet atemberaubende Möglichkeiten, zeigt sich dafür aber emotional verödet. Dank eines nicht näher spezifizierten „chinesischen Servers“ haben „Kontinua-Enthusiasten“ die Möglichkeit, in die Vergangenheit vorzudringen und durch Manipulation alternative Realitäten zu erzeugen. Der Kontakt ist dabei auf Datenströme begrenzt, aber höchst wirkungsvoll – nicht selten wird die frühere Epoche rücksichtslos ausgebeutet. (Gibson selbst spricht in der Nachbemerkung von einer „Drittweltisierung“ der entsprechenden Epoche.) Kein Zweifel, dass der ohnehin konzernkritische Roman hier auf unsere Realität zielt.

Auch der „Jackpot“ – die „große anthropogene, systemische, multifaktorielle Scheiße“, wie es im Buch heißt – ist durchaus gegenwärtig. Es handelt sich um ein Zusammentreffen von ökologischen, politischen und sozialen Faktoren, die ihre Zerstörungskraft nicht in Form eines großen Knalls, sondern in einem jahrzehntelangen Prozess entfalten. Gibson umgeht hier geschickt das Klischee eines weiteren handelsüblichen Weltuntergangs; man merkt, dass er wirklich nach Neuansätzen sucht, um seine Geschichte so originell und vor allem so glaubwürdig wie möglich zu erzählen.

Außerdem ist „Peripherie“ auch ein bedeutender Roman über die allgegenwärtige Unübersichtlichkeit. Gibson lässt die Zukunft unscharf erscheinen und begeht daher nicht den Fehler, alles auserklären zu wollen; entsprechend ratlos sieht man sich zunächst den zahlreichen Neologismen – wie etwa „fabben“ und „glitchen“ – gegenüber. Dies ist doppelt konsequent. Zum einen, weil es einem Leser aus dem 19. Jahrhundert kaum anders erginge, wenn er mit einem Text aus unserer Zeit konfrontiert werden würde; zum anderen, weil auch die Figuren der Flynne-Ebene Probleme damit haben, die Errungenschaften des 22. Jahrhunderts zu begreifen. Dass sich hierin nicht zuletzt der Irrsinn unserer Gegenwart spiegelt, den permanent am Horizont erscheinenden Techno-Spielzeugen allergrößte Aufmerksamkeit zu widmen, liegt auf der Hand. Vielleicht ist es daher auch kein Zufall, wenn sich die Londoner der ferneren Zukunft an einem rein analogen Zeitalter orientieren: Sie bilden die Ära Königin Viktorias nach.

Trotz all dieser diagnostischen Seitenhiebe ist „Peripherie“ vor allem ein raffinert erdachter und mitreißend umgesetzter Thriller. Wie Philip K. Dick gehört Gibson zu den herausragenden Ideengebern der Science-Fiction; ihm fehlt jedoch – ebenso wie Dick – ein besonderer literarischer Stil. Dieses Manko überspielt er souverän, indem er die sprachliche Oberfläche seiner Bücher massiv mit glitzernden Erfindungen anreichert, die allein schon zum Weiterlesen animieren. Da gibt es „lebende“ Tattoos, unsichtbare Stealth-Architektur und eine biologische Waffe, die „auf einer Kriegsverbrechen-Skala von eins bis zehn“ Rang zwölf einnehmen würde. Gerade bei diesen Details, die Gibson allesamt aus unserem heutigen Alltag ableitet, ist das Buch ganz bei sich. Ein großer Wurf.
 

William Gibson: Peripherie (The Peripheral) • Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann • Knaur Verlag, 616 Seiten, € 16,99

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