Völkerball oder Völkermord
„Mechanica Caelestium“: Ein postapokalyptischer Comic-Volltreffer von Merwan
Wer in jungen Jahren Völkerball im Schulsport für die wöchentliche Apokalypse an einem jeden Dienstagmorgen nach der großen Pause hielt und lieber mit Krankschreibung und Science-Fiction-Roman in der Aula saß, darf trotz Hartgummiball-Trauma ruhig weiterlesen: Der französische Comic-Künstler Merwan Chabane, der mit Bastien Vives „Für das Imperium“ und mit Fabien Nury u. a. „Der Marokkanische Frühling“ umsetzte, begeistert in seinem Comic „Mechanica Caelestium“ über den Umweg der Postapokalypse für den einstigen Horror der Turnstunde, der Schmerzen und Demütigungen garantierte …
Dafür ist es heute zunächst einmal ein großes Vergnügen, in Merwans großformatigem Album Seite für Seite eine vertraute und doch eigenständige Vision der Postapokalypse zu erkunden. Umweltkatastrophen haben zu einem gestiegenen Meeresspiegel und zu einer neuen Ordnung geführt – die kleine isolierte Gemeinschaft von Pan, in deren Zentrum eine radioaktiv verseuchte Zone liegt, hat Probleme mit Piraten, Reis wird gegen geborgene Fundstücke aus den Überresten der alten Zivilisation getauscht. Aster – eine rothaarige junge Frau mit Fuchsschwanz – und ihr Freund Wallis plündern die Panzer und Läden in den gefluteten, verstrahlten Ruinen. Eines Tages kommt jedoch ein mit Hightech-Waffen ausgerüsteter Vertreter des mächtigen Imperiums Fortuna und bietet den Menschen von Pan einen schlechten Deal für Frieden und Sicherheit an, den sich die Bauern und Plünderer unmöglich leisten können. In letzter Sekunde, bevor das Ultimatum Fortunas abläuft, hilft der Zufall und beruft sich der Volksvertreter Pans auf die Mechanica Caelestium. Jetzt müssen Aster und eine Handvoll anderer Männer und Frauen aus Pan in Extrem-Völkerball-Matches gegen die Spitzenmannschaft von Fortuna antreten, was über Pans weiteres Schicksal entscheiden wird. Von Runde zu Runde werden die Spielfelder, Waffen und Intrigen krasser und fieser …
Politisch und gesellschaftlich relevanter, Völkerball in der Postapokalypse, der Revolution und Völkermord befeuert? Das dürfte eigentlich nicht funktionieren, doch bei Merwan tut es das sehr wohl, weil er mit seinem Setting und seinen Figuren eine starke Basis schafft. Auf der kann dieses „spielerische“ Element stehen und herumspringen, selbst wenn der 1978 geborene Franzose nicht alle Nebenhandlungen und Charaktere bis ins Ziel bringt. Und am Ende ist die Prämisse mit dem postapokalyptischen Völkerball auch nicht verrückter als William Harrisons und Norman Jewisons Film „Rollerball“, die multimedialen „Hunger Games“ von Suzanne Collins und mit Jennifer Lawrence oder Brian Woods und Ming Doyles amerikanische Volleyball-Comic-Dystopie „Mara“. Hinzu kommt, dass „Mechanica Caelestium“ durchgehend sensationell gut aussieht. Postapokalyptisches Abenteuer, ruhige Szenen, Action beim Völkerball zwischen kommentiertem Arenaspektakel und Häuserkampf – Merwan gelingt zeichnerisch alles, und speziell den dynamischen „Kriegsspielen“ merkt man seine Erfahrung als Storyboarder und Animationsfilmer an. Sein Strich verbindet das klassische Artwork von Altmeister Giraud mit dem modernen Schaffen von Vives und Co. sowie mit Stilmitteln des Manga, also den französischen mit dem japanischen Comic. Die pastellige Kolorierung schmeichelt dem Artwork zusätzlich.
Ob Asters Fuchsschwanz eine Mutation, ein Modestatement oder ein Furry-Fetisch ist? Wird nicht geklärt, ist aber auch völlig egal. Merwan gelingt mit „Mechanica Caelestium“ trotzdem ein überraschender Volltreffer.
Bilder © DARGAUD 2019, by Merwan/Schreiber & Leser
Merwan: Mechanica Caelestium • Schreiber & Leser, Hamburg 2020 • 210 Seiten • Hardcover: 32,80 Euro
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