3. Oktober 2020 1 Likes

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt

1908 trifft 2020: Historische Utopie und Pandemie mit endzeitlichem Feeling

Lesezeit: 2 min.

Mit seinen historischen Südstaaten-Romankrimis um die ersten afroamerikanischen Polizisten Atlantas bereichert Thomas Mullen seit einigen Jahren das Crime-Genre – und nutzt die Vergangenheit für wichtige, richtige Betrachtungen zum leider sehr aktuellen Thema Rassismus in den USA. „Darktown“ und „Weißes Feuer“ begeisterten, in Kürze folgt „Lange Nacht“ bei Dumont. Gerade hat man dort auch Mr. Mullens ersten Roman „The Last Town on Earth“ alias „Die Stadt am Ende der Welt“ neu aufgelegt, und dabei handelt es sich um ein weiteres erschreckend aktuelles Buch.

Die Handlung setzt allerdings 1918 im Norden der Vereinigten Staaten ein. Hier hat der Sohn eines Holzbarons das utopisch-sozialistische, auf Moral und Demokratie bedachte Städtchen Commonwealth gegründet, wo alle als Gleiche unter Gleichen leben und am Gewinn der Sägemühle beteiligt sind. Als die Spanische Grippe die Staaten parallel zum Ersten Weltkrieg heimsucht und viele Menschen von dem Virus dahingerafft werden, gilt in weiten Teilen des Landes Maskenpflicht. Die Bewohner von Commonwealth stellen ihr abgelegenes Utopia zur Sicherheit zudem unter Quarantäne. Niemand darf rein, niemand raus, der Zugang zum Dorf wird von Männern mit Gewehren bewacht. Aber schnell wird gemurrt, die Vorräte werden knapp, Misstrauen und Feindseligkeit wachsen, und der Druck steigt nicht allein wegen der Leute von außerhalb, die Einlass fordern oder eine Chance gekommen sehen, die vermeintlich antiamerikanischen Holzfäller abzustrafen …

Thomas Mullen, 1974 in Rhode Island geboren, war schon bei seinem Einstand als Romancier ein erstklassiger Erzähler. Deshalb stellte „Die Stadt am Ende der Welt“ beim ursprünglichen Erscheinen 2006 eine lesenserte Lektüre über ein erhofftes historisches Utopia im Angesicht einer realen Pandemie dar, die trotz des historischen Settings viel endzeitliches und dsystopisches Ambiente verströmt. Dafür erhielt Mullen den James Fenimore Cooper Prize für eine herausragende Leistung in Sachen historische Fiction.

Und jetzt? Wenig überraschend packt und trifft der Roman 2020, im Jahr von Corona, natürlich noch mehr. Die Neuausgabe des Buches, das nur mit Böswilligkeit als Reichsbürger-Blaupause etikettiert werden könnte, kommt mit einem neuen, vor ein paar Monaten entstandenen Nachwort des Autors zur Spanischen Grippe und zu Covid-19 daher.

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt • Dumont, Köln 2020 • 480 Seiten • Klappenbroschur: 18 Euro

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