22. Dezember 2020 5 Likes

Eine größere Welt

Zu Weihnachten: Was man alles tun kann, was man alles nicht tun kann

Lesezeit: 5 min.

Dafür, dass Weihnachten, wie es allerorten heißt, dieses Jahr ausfällt, hat es ziemlich früh begonnen. Wenn ich mich recht entsinne, hat mir der Zeitungsausträger seinen Weihnachtsgruß bereits Ende November vor die Tür gelegt. Und in den Münchner Supermärkten gab es schon Mitte Oktober Zimtsterne zu kaufen. Ich habe überhaupt den Eindruck, dass noch nie so früh so viele Worte und Gedanken auf die Weihnachtstage verwendet wurden wie in diesem Jahr: Wo soll man feiern? Mit wie vielen Menschen aus wie vielen Haushalten? Testet man sich draußen vor der Tür, bevor man die Wohnung betritt? Und kommt man noch rechtzeitig vor der Ausgangssperre nach Hause?

Vermutlich ist es einfach so, dass dieses Jahr nicht Weihnachten ausfällt, sondern „Weihnachten“, also das Weihnachten, das wir alle gewohnt sind und über das wir uns seit Menschengedenken beklagen: das Weihnachten aus Einkaufswahn, Last-Minute-Stress und Familienknatsch. Kürzlich bin ich, natürlich unter Einhaltung der Abstandsregeln, einem Kollegen begegnet, der mir im Vertrauen berichtete, dass sein Weihnachten dieses Jahr ganz großartig werde, weil seine Schwiegermutter aus Pandemiegründen nicht kommen könne. Damit soll keine Aussage über alle Schwiegermütter dieser Welt getroffen sein – ich bin mir sicher, Ihre Schwiegermutter ist ein herzensguter Mensch, und es ist jammerschade, dass sie dieses Jahr nicht zu Besuch kommen kann. Ich will nur sagen, dass dieses Jahr Weihnachten anders sein wird, so wie sehr vieles dieses Jahr anders war.

Was könnten wir also dieses Weihnachten machen? Was könnte ich dieses Weihnachten machen? Nun, es ist ganz schön viel, was ich machen könnte, und damit ich es nicht durcheinanderbringe, habe ich es hier mal etwas sortiert.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten mit mir selbst um die Wette schlafen. Sollten Sie nicht wissen, was ich damit meine oder wie das geht, dann schauen Sie einfach einer Katze zu, die sich um ihren eigenen Mittelpunkt einrollt und seufzend einschläft. Ich kannte einmal eine Katze, die hatte es im Einrollen und Seufzen zu einer solchen Meisterschaft gebracht, dass die Kinder ganz andächtig um sie herum saßen und dabei etwas fürs Leben lernten.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten ein Buch, das ich seit langem nicht mehr (oder noch gar nicht) gelesen habe, aus dem Regal nehmen und darin blättern. Das habe ich übrigens vor einigen Tagen schon geprobt, und dabei ist mir die letzte Rede von Kurt Vonnegut in die Hände gefallen, die er vor Studenten an einer Universität in Indiana halten wollte, aber nicht mehr gehalten hat, weil ihm der Tod dazwischenkam. An einer Stelle dieser Rede erzählt er, wie er einmal seinen Sohn fragte, um was es im Leben eigentlich geht, weil er das nicht wüsste, und der Sohn antwortete: „Dad, wir sind hier, um uns gegenseitig durch dieses Ding hindurch zu helfen, was immer es ist.“ Was immer es ist – das ist wirklich gut. Ich glaube, ich schenke diesen Satz jemandem zu Weihnachten, der ihn noch mehr braucht als ich.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten diesen einen Anruf machen, den ich immer machen wollte und immer doch nicht gemacht habe, weil keine Zeit dafür war. Weil noch dies zu tun war und das. Weil dies und das immer bedeutender waren. Und es ist ja auch nie zu spät für diesen Anruf, sagt man, und das stimmt wahrscheinlich – außer in den Fällen, in denen es plötzlich zu spät ist. (Aha, denken Sie jetzt womöglich, auch diese Weihnachtskolumne kommt nicht ohne Sentimentalität aus. Das mag so sein. Aber eigentlich will ich nur sagen, dass wir in einem Universum leben, in dem es plötzlich zu spät sein kann, in dem einem etwas dazwischenkommen kann.)

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten auf Tiere warten. Man hat ja einige von ihnen in diesem Jahr gesehen: Kängurus, die in Sydney bei Rot über eine leere Kreuzung hüpften; wilde Ziegen, die durch eine walisische Ortschaft streiften und sich wunderten, wo die Menschen geblieben waren; ein Kojote, der bei helllichtem Tag die autofreie Michigan Avenue in Chicago hinuntertrottete. Tiere bauen keine Windräder, Bibliotheken oder Containerschiffe, aber die Erde ist ihr Planet ebenso wie unserer, also werde ich mich dieses Weihnachten vielleicht ans Fenster setzen und nach einem alpenländischen Bartgeier Ausschau halten.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten die leeren, stillen Straßen Münchens hinunterspazieren und, wie Ray Bradburys Feuerwehrmann Montag, den Menschen von außen beim Fernsehen zusehen. Und werde mich wundern, was die Menschen über ihre leuchtenden Rechtecke so alles in ihr Zuhause hineinlassen: die Lügen, den Irrsinn, den schlechten Umgang miteinander – vor allem aber die Idee, dass alles andere immer schöner ist als das, was man gerade hat oder tut.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten gar nichts Besonderes tun. Und werde herausfinden, dass Nichts-Besonderes-tun nützlicher sein kann als Etwas-tun. Im Jahr 2020 hat niemand den Berg Uluru in der zentralaustralischen Wüste bestiegen und dort seinen Müll hinterlassen, weil das kurz zuvor verboten worden war – nicht aus Gründen des Infektionsschutzes, sondern aus Respekt vor diesem Berg. Ich wiederum habe Respekt vor dieser Entscheidung. Bedauerlicherweise haben wir in Europa keinen Uluru. Dafür haben wir Ischgl.

Vielleicht werde ich dieses Weihnachten aber auch etwas ganz Besonderes tun. Etwas, was ich nur sehr selten tue – was auch Sie nur sehr selten tun, da verwette ich meine Kurt-Vonnegut-Sammlung. Ich werde die Lügen, den Irrsinn, den schlechten Umgang miteinander, vor allem aber die Idee, dass alles andere immer schöner ist als das, was man gerade hat oder tut, für einen Moment in einen Sack stecken und, von wo aus auch immer, der Stille zuhören. Und mich so auf die Zeit vorbereiten, in der wir uns alle wiedersehen.

Ja, ich denke, das werde ich tun.

Die Welt, heißt es allerorten, ist in diesem Jahr kleiner geworden. Aber glauben Sie mir: das stimmt nicht. In Wahrheit ist die Welt größer geworden. Sie ist so groß geworden, dass jede Menge Zukunft hineinpasst.

Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.

 

Sascha Mamczaks Buch „Die Zukunft – Eine Einführung“ ist im Shop erhältlich. Zuletzt ist sein mit Martina Vogl geschriebenes Jugendbuch „Eine neue Welt“ erschienen. Alle Kolumnen von Sascha Mamczak finden Sie hier.

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