2. März 2021 2 Likes

1984(.4)

George Orwells Klassiker aus der Sicht von Philip Kerr, Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa

Lesezeit: 4 min.

Adaption? Neuübersetzung? Hommage? Wer sich mit einer der wichtigsten politischen Dystopien auseinandersetzen möchte, hat momentan die sprichwörtliche Qual der Wahl. Denn 70 Jahre nach seinem Tod gelten George Orwells Werke in Europa als gemeinfrei. Daher darf „1984“ nun überarbeitet und neu veröffentlicht werden. Aus diesem Grund buhlen gerade alle großen deutschen Verlage um die Gunst der Leser und setzen sich Übersetzer mit der Arbeit ihrer Vorgänger auseinander.

Zugegeben: Auch der 70. Todestag ist ein Grund, um sich mit dem Werk eines Autors zu befassen. Er sollte jedoch nicht der einzige sein, denn Orwells Romane haben in den vergangenen Jahrzehnten nichts von ihrer Brisanz, Faszination und Wirkung verloren. Seine Geschichten sind heute aktueller denn je. In Zeiten, in denen wir die kleine Schwester des großen Bruders in unseren Smartphones herumtragen, totalitäre Regime immer neue technische Möglichkeiten finden, um ihre Untertanen zu unterdrücken, und selbst demokratisch gewählte Staatsoberhäupter von „alternativen Fakten“ sprechen, scheint Orwells Ozeanien manchmal nur einen Steinwurf entfernt zu sein.

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„Farm der Tiere“ und „1984“ prägten und prägen bis heute Generationen von Lesern und Künstlern. Daher stoßen wir immer mal wieder in der Popkultur auf Figuren, Motive und Parolen, die denen aus den beiden Dystopien ähneln. Manchmal ist die Parallele noch offensichtlicher, wie etwa bei „1984.4“ von Philip Kerr („Die Berlin-Trilogie“, Rowohlt). In seinem bisher letzten, posthum veröffentlichten Roman begibt sich der Schotte Kerr auf eine Reise in eine Parallelwelt, in der eine andere Version von „1984“ Realität geworden ist.

Die Heldin von Kerrs „1984.4“ ist Florence Newton. Als Jugendliche aus dem einfachen Volk hat sie es in den Senioren Service geschafft. Was nach dem guten alten Zivi klingt, ist das genaue Gegenteil: Florence und ihre Truppe werden nicht ausgebildet, um die Älteren zu pflegen. Stattdessen machen Ruhestands-Vollstrecker (RUV) wie sie im Jahr 2034 Jagd auf 75- bis 100-Jährige, die sich dem Plan zur freiwilligen Euthanasie (PFE) entziehen. Denn in Florences Welt gelten Senioren als Nutzlose, die den Jungen die wenigen durch Krieg und Terror verbliebenen Ressourcen wegnehmen. Um dieses vermeintliche Problem zu lösen, setzt die Regierung auf gefühllose Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren, die die PFE mit Waffengewalt durchzusetzen. Wie auch der Rest ihrer Gruppe geht Florence voll und ganz in ihrer Rolle auf und beugt sich dem Willen des großen Winston, der über alle wacht. Doch nach und nach kommen auch ihr Zweifel am System. Als jedoch der wenig ältere Eric Blair in ihr Leben tritt, muss sie sich die Frage stellen, was wichtiger ist: die Liebe oder das System?

„1984.4“ strotzt vor Anspielungen an Orwells Roman. Kerrs Hommage ist jedoch etwas moderner. Statt die Menschen über Mikrofone und Teleschirme zu überwachten, trägt jeder einen kleinen Spitzel in Form des Wristpads am Handgelenk. Statt eine Woche dem Hass zu widmen, gibt es eine Witzewoche, in der staatlich regulierter Humor die Menschen vom Alltag ablenken soll. Kerrs Roman verneigt sich nicht nur vor Orwell, sondern auch vor anderen Autoren. Aufmerksame Leser finden mal mehr, mal weniger offenkundige Anspielungen auf William F. Nolans und George Clayton Johnsons „Flucht ins 23. Jahrhundert“, Jewgeni Samjatins „Wir“, Anthony Burgess‘ „Uhrwerk Orange“, Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ und Margaret Atwoods „Der Report der Magd“.

Trotz oder vielleicht auch wegen der vielen Anspielungen, bleibt Florences energiegeladene und flott geschriebene Geschichte in Erinnerung. Ein perfekter Roman ist sie dennoch nicht. „1984.4“ basiert auf einem Manuskript von 2015, das hier und da ein paar kleinere Ungereimtheiten aufweist. Diese mindern weder den Lesespaß noch den Eindruck, den die gelungene Hommage hinterlässt. Dennoch ist es schade, dass dem 2018 verstorbenen Kerr nicht die Chance auf einen letzten Feinschliff vergönnt war.

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Nicht nur Autoren hat George Orwell inspiriert, sondern auch viele andere Künstler. Kreative auf der ganzen Welt haben bereits „1984“ in ein anderes Medium übertragen: Vom Ballet über den Film bis hin zum Hörspiel reicht die Bandbreite. Die neunte Kunst macht hier keine Ausnahme. Nach der fulminanten Orwell-Biografie brachte Knesebeck nun die Comicadaption von „1984“ auf den deutschen Markt. Comicautor Jean-Christophe Derrien, der bereits als Drehbuchschreiber für die Zeichentrickabenteuer von „Spirou“ und „Blake und Mortimer“ verantwortlich war, und Zeichner Rémi Torregrossa („Triskell“, Soleil) wagen sich dabei an eine werkgetreue Interpretation.

In ihrer gekürzten Version konzentrieren sie sich auf die wichtigsten Romanszenen: den tagebuchschreibenden Winston, seine Arbeit im Ministerium für Wahrheit, die Affäre mit Julia, der Irrglaube, O‘Brien trauen zu können, die Ratten… Es ist erstaunlich, wie es das Kreativ-Duo schafft, auf den knapp 130 Seiten all das einzufangen, was Orwells Roman auszeichnet. Thematisch greifen sie etwa Denunziantentum, Neusprech, und Änderungen von Gegenwart und Vergangenheit auf. Die auf Grautöne reduzierte Comicwelt inszenieren sie bedrückend, geradezu beklemmend. Nur wenige Farbtupfer sind erlaubt, wenn es etwa um Alkohol und die Liebe geht. Am Leben in Ozeanien und dessen Ausweglosigkeit ändert sich natürlich nichts.

Jean-Christophe Derrien und Rémi Torregrossa haben mit „1984. Nach George Orwell“ eine wahrlich gelungene Adaption erschaffen. Mit klaren Strichen und wenigen Farben entwerfen sie eine Welt, in der Freuden verboten sind und das System unerbittlich ist. Philip Kerr hingegen lässt in „1984.4“ die Hoffnung auf eine bessere Welt keimen, in der die orwell‘sche Bruderschaft keine Fiktion, sondern der Ausgangspunkt für eine Revolution ist.

Bleibt noch eine Frage offen: Hommage, Neuübersetzung oder doch die Adaption? Sie haben eben die Qual der Wahl.

Philip Kerr: 1984.4 • Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn • rotfuchs, Hamburg 2021 • 320 Seiten • Empfohlen ab 14 Jahren • € 16,00

Jean-Christophe Derrien, Rémi Torregrossa: 1984. Nach George Orwell • Aus dem Französischen von Anja Kootz • Knesebeck, München 2021 • 128 Seiten • € 22,00


aus „1984. Nach George Orwell“ von Jean-Christophe Derrien, Rémi Torregrossa; Knesebeck

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