11. Dezember 2019 2 Likes

Er sieht immer noch alles

Was Orwell zu Orwell macht zeigen Comicbiografie und Hörspielklassiker

Lesezeit: 5 min.

George Orwells dystopischer Klassiker „1984“ feiert einen runden Geburtstag! Obwohl Orwell den Roman 1948 vollendete, war der Ersterscheinungstermin erst im darauffolgenden Jahr. Das ist nun 70 Jahre her – kein wirklich großes Jubiläum zum Feiern. Ein Grund dafür: Orwells Horrorvisionen vom Überwachungsstaat sind längst Realität geworden, sei es in der ehemaligen DDR oder in China. Dort lässt das Sozialkredit-System den literarischen „Großen Bruder“ richtig alt aussehen. In unserer heutigen Zeit gilt „1984“ daher mehr denn je als Synonym für die totale Überwachung und den gläsernen Bürger. Gleichzeitig verkommt der Vergleich zu Orwells Roman zur bloßen Floskel.

Doch davon soll dieses Feature nicht handeln. Stattdessen werfen wir einen Blick auf drei Interpretationen von Orwells Schaffen: einer Comic-Biografie und der Neuauflage zweier Hörspielklassiker. Und wir stellen jetzt schon fest, dass unter dem großen Bruder manche Tiere gleicher sind als andere.

Orwell wird zu Orwell

Wer ist George Orwell? Das Leben von Eric Arthur Blair bietet genügend Stoff für einen eigenen Roman. Als Sohn eines Kolonialbeamten wuchs der kleine Eric behütet bei seiner Mutter und seinen Schwestern im englischen Henley-on-Thames auf, zumindest bis zum Eintritt des Jungen in die St. Cyprian’s School, wo er den Schikanen des Direktorenehepaars ausgesetzt war. Von dort aus ging es nach Eton, danach zur Indian Imperial Police nach Burma (dem heutigen Myanmar), und schließlich einmal quer durch Westeuropa. Er verdingte sich als Tellerwäscher in Paris, streifte mit Obdachlosen durch London und kämpfte mit den Kameraden der kommunistischen POUM gegen Francos Truppen im Spanischen Bürgerkrieg. „Erledigt in Paris und London“ (1933), „Der Weg nach Wigan Pier“ (1937) und „Mein Katalonien“ (1938) entstehen in jener Zeit und sind mit die ersten Texte, die Blair unter dem Pseudonym „George Orwell“ veröffentlicht. Die Erlebnisse machen den anarchistischen Tory zu einem kritischen Sozialisten. Es folgt sein Engagement für die BBC und seine Zeit als Home Guard im Zweiten Weltkrieg. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu seinen beiden Spätwerken: der legendären Fabel „Farm der Tiere“ (1945) und seinem bekanntesten Roman „1984“ (1949).

Zugegeben, das ist ein sehr kurzer Abriss von Orwells Leben und Schaffen. Und doch sind es die Höhepunkte, die sich der 1938 geborene Autor und Comicszenarist Pierre Christin („Valerian und Veronique“) für die Comic-Biografie „George Orwell“ ausgesucht hat. Neben den wichtigsten Romanen und Stationen, dürfen aber auch die Personen nicht fehlen. Auch hier wählt Christin die wichtigsten Familienmitglieder und Weggefährten aus: seine Jugendfreundin Jacintha Buddicom, seine Ehefrau Eileen O’Shaughnessy, seinen Verleger Fredric Warburg und Adoptivsohn Richard Horatio. Die Zeichnungen steuert Christins Kollege Sébastien Verdier bei, der Chefredakteur des legendären französischen Comicmagazins „Pif Gadget“. Bei der Arbeit für die Zeitschrift lernten sich die beiden dann auch kennen.

Zusammen legt das Kreativduo mit der 152 Seiten umfassenden Graphic Novel eine wirklich außergewöhnliche und gut recherchierte Biografie vor. Da braucht es nicht Christins Nachwort um festzustellen, wie oft er auf Orwells Spuren wandelte und wie sehr ihn dessen politische Einstellung geprägt hat. Indem er Orwells Leben auf wenige Begegnungen und Ereignisse reduziert, fängt er gekonnt die Essenz seines Schaffens ein. Er zeigt, wie Eric Blair zu George Orwell wurde. Gleichzeitig lässt Christin den Autor selbst zu Wort kommen: Die Schreibmaschinenschrift kennzeichnet Zitate, in denen der Schriftsteller zum Leser spricht.

Sébastien Verdiers beschränkt sich in seinen feinen, detaillierten Zeichnungen auf Schwarzweiß. Nur hier und da setzt er mit Farben Akzente. Sobald die Seiten komplett farbig werden, ist einer seiner Kollegen am Werk. Auf einigen Doppelseiten lässt Christin bekannte Kollegen Orwells Werke illustrieren. Dazu zählen unter anderem André Juillard („Wie eine Feder im Wind“, „Blake und Mortimer“), Manu Larcenet („Blast“, „Brodecks Bericht“) und Enki Bilal („Alexander-Nikopol-Trilogie“, „Monster-Tetralogie“).

Dies alles macht die – stilechte und passend zu Orwells politischer Überzeugung – im sozialistischen rot gehaltene Comic-Biografie zu einer wundervollen Hommage an einen Autor, der unsere Sicht auf die Welt bis heute prägt.

Parabel auf das geteilte Berlin

Einen anderen Weg, sich an Orwells unvergessliche Geschichten zu erinnern, hat der Audio Verlag (DAV) aus Berlin gewählt. Dort erschien bereits vor zwei Jahren die Neuauflage des RIAS-Hörspiels „1984“ (1977). Dieses Jahr folgte die von „Farm der Tiere“ (1980).

Inhaltlich handelt es sich um leicht gekürzte Interpretationen der beiden Romane. Bei beiden Inszenierungen führte Manfred Marchfelder Regie. Er verzichtet auf allzu viel Musik und Soundeffekte bei der Vertonung. Sie dienen nur der Untermalung einiger weniger Szenen. In „1984“ ist das RIAS Tanzorchester und das Symphonische Orchester Berlins daher nur in wenigen Szenen zu hören. Marchfelder reduziert Orwell auf das, was zählt: das Wort. Und dafür hat der RIAS viele bekannte Fernsehstimmen gewinnen können. In „1984“ leiht Ernst Jacobi („Die Physiker“, „Die Blechtrommel“) Hauptfigur Winston Smith seine Stimme. Angela Winkler („Die Blechtrommel“, „Heller Wahn“) spricht Julia Gordon und Dieter Borsche („Das Halstuch“, „Die toten Augen von London“) dient O‘Brien als Sprachrohr. Ähnlich prominent ist auch „Animal Farm“ besetzt. Hier teilen sich Edgar Wallace-Kleinganove Harry Wüstenhagen („Die toten Augen von London“), Lothar Blumhagen (u. a. die deutsche Stimme von Gary Cooper, Tony Curtis und Henry Fonda) und Schauspiellegende Otto Sander („Die Blechtrommel“, „Der Himmel über Berlin“) die Rolle des Erzählers. Weitere prominente Stimmen: Bernhard Minetti als Old Major, Sibylle Gilles als Clover und Helmut Wildt als Napoleon. Die RIAS-Interpretationen sind unvergleichliche Hörspieladaptionen, die auch nach Jahrzehnten noch den Nerv der Zuhörer treffen – und somit selbst zu zeitlosen Klassikern geworden sind.

Viel wichtiger ist bei beiden Hörspielen die Metaebene. Sie geben eben nicht nur Orwells Eindrücke seiner Zeit wieder, sondern stehen auch sinnbildlich für die geteilte Hauptstadt Berlin. Mehr als einmal wird beim Hören deutlich, dass West-Berlin eine Insel im kommunistischen Meer ist. Auf der anderen Seite der Mauer ist daher das Gras nicht grüner. Stattdessen sind dort manche Menschen gleicher als andere und entscheidet eine kleine Elite über das Wohlergehen des Volkes, das laufend bespitzelt wird und zwar so, wie es sich ein „Großer Bruder“ wünscht. Im Roman blieb dieser bloße Fiktion, doch konnte er in der Realität Familientragödien auslösen. Übrigens: DAV hat mit „Farm der Tiere“ die Orwell-Reihe noch nicht abgeschlossen. Im Januar 2020 erscheint dort Orwells Essay „Über Nationalismus“ in einer ungekürzten Fassung, die der TV-Star Christian Berkel („Der Kriminalist“) liest.

Eins ist klar: Auch über 70 Jahre nach den Erstveröffentlichungen von „Animal Farm“ und „1984“ ist Orwells Werk aktuell. Mit der Comic-Biografie und den beiden RIAS-Hörspielneuauflagen gibt es gleich drei gute Gründe, sein Werk neu zu entdecken.

Comic-Abb.: Pierre Christin, Sébastien Verdier/Knesebeck Verlag

Pierre Christin, Sébastien Verdier: George Orwell. Die Comic-Biografie • Aus dem Französischen von Anja Kootz • Knesebeck Verlag, München 2019 152 Seiten • 25,00 €

George Orwell: 1984 • Der Audio Verlag (DAV), Berlin 2017 • 119 Minuten • € 16,99

George Orwell: Farm der Tiere • Der Audio Verlag (DAV), Berlin 2019 • 57 Minuten • € 12,00

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