5. Januar 2022

Geometrien der Aggression und des Begehrens

Weiterhin provokant: „Liebe & Napalm: Export USA“ von J.G. Ballard

Lesezeit: 5 min.

Es war ein Augenblick wie der Schnitt eines Chirurgen: Am 22. November 1963 gelang es Lee Harvey Oswald, den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in dessen offener Limousine mit einem einfachen Kaufhausgewehr zu erschießen. Die Bilder des Anschlags und der nachfolgende Versuch seiner Frau Jacqueline, das davonrasende Fahrzeug zu verlassen, sind bis heute Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses und werfen einen irritierenden Schatten auf jene Zeit, die wie kaum eine andere für eine kulturelle, soziale und politische Erneuerung steht. Doch die verheißungsvoll schillernden sechziger Jahre haben auch abgründige Aspekte, und so symbolisiert das Kennedy-Attentat für J.G. Ballard jene unheilvolle Mischung aus Sex, Tod und Technologie, die in den entsprechenden Filmaufnahmen wie in einer Mehrfachbelichtung zusammenfinden. Ballards experimenteller Prosaband „The Atrocity Exhibition“, der jetzt als „Liebe & Napalm: Export USA“ neu aufgelegt wurde, hat diese Konstellation immer und immer wieder neu seziert.

Eine Ausstellung von Anstaltspatienten zum Thema Weltuntergang. Filme über künstlich erzeugte Psychosen. Das vernarbte Gesicht eines Bomberpiloten. Der Drahtverhau des äußeren Verteidigungsringes, bei dessen Anblick einem die Worte „Elizabeth Taylor“ in den Sinn kommen. Sex, diktiert von den Abmessungen und den räumlichen Proportionen eines Appartements. Das brennende Wrack eines weißen Pontiacs. – Kein Zweifel: Die fünfzehn überwiegend in kurze Abschnitte gegliederte Erzählungen, die über keinen wiedergebbaren Inhalt im herkömmlichen Sinn verfügen, stellen auch ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Erstausgabe eine Provokation ersten Ranges dar. Die gesichtslosen Figuren sind austauschbar und bestehen kaum mehr als aus ihrem Namen; sie werden zu Beginn der meisten Texte neu zusammengestellt wie Probanden bei einem Laborexperiment. Auch die Darstellungen verödeter Straßenzüge, wissenschaftlicher Forschungsstätten, den Planetarien und Hochstraßen ähneln einander und bilden letztlich unterschiedliche Facetten ein- und derselben Szenerie. Dennoch ist das Buch voller Magie und von einer schwer beschreibbaren Nachdrücklichkeit. Ballard reiht grelle Impressionen aneinander, die in seinem typisch unterkühlten Stil gehalten sind und verstörende Momente schildern; Momente, die sich um Raumfahrt, den Vietnamkrieg, experimentelle Psychologie und den Dritten Weltkrieg drehen. Und es geht um das Auto und die ihm innewohnende Erotik, die am deutlichsten bei Kollisionen und Frontalzusammenstößen zum Ausdruck kommt – jener unschlagbaren Kombination aus Gewalt, Geschwindigkeit und sexuellem Verlangen, die bereits im Kennedy-Attentat anklingt, das ohne das Fahrzeug nicht denkbar wäre.

„Liebe und Napalm: Export USA“ hat viel mit den zeitgenössischen Arbeiten von Andy Warhol zu tun, insbesondere den zerstörten Automobilen in der Death-and-Disaster-Serie. Doch das Buch ist weit weniger von der Pop Art als vom Surrealismus beeinflusst, deren Protagonisten wie Dalí, Ernst und Tanguy neben Politikern und Filmstars immer wieder erwähnt werden. Aber Ballard kommt auch konzeptuell auf den Surrealismus zurück, wenn er – wie Lautréamont, den er zitiert – Schönheit als das „zufällige Zusammentreffen von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch“ auffasst. Es geht darum, neue Brücken zu bauen und jene Korrespondenzen in der Welt aufzuzeigen, die den Verhältnissen der Gegenwart entsprechen. Der Punkt besteht hier allerdings darin, dass die Verbindung „in hundert zusammenstoßenden Paaren, in den Perspektiven von tausend betonierten Befestigungsanlagen, in den Liebespositionen einer Million kopulierender Paare“ gesucht wird, gleich einem Code, der die Gesichter toter Filmstars und die Winkel eines Parkhauses mit einer Ansammlung von akustischen Aufzeichnungen zusammenbringt. Auch wenn es sich bei all diesen Dingen um Montagen handelt, um collagenhafte Zusammenführungen, die den Geisteszustand der Protagonisten wiedergeben, beruht „Liebe & Napalm: Export USA“ nicht weniger auf surrealistischen Verfahren als auf den Erkenntnissen von Sigmund Freud, mit denen sich Ballard intensiv auseinandergesetzt hat.

Auf den letzten Seiten verändert das Buch die Erzählweise und ersetzt die kurzen szenischen Darstellungen durch imaginäre Berichte. Hierzu gehört „Crash!“, eine Vorwegnahme des 1973 veröffentlichten Klassikers (fast) gleichen Namens, sowie „Warum ich Ronald Reagan ficken möchte“, jenen Text, der zum Verbot der ersten US-Ausgabe von „The Atrocity Exhibition“ führte. Es geht um eine US-Präsidentschaft des damaligen Gouverneurs von Kalifornien sowie die Möglichkeit eines Anschlags; Ereignisse, die sich später tatsächlich ereignen sollten. Ballard konnte dies natürlich nicht vorhersehen. Sein Text dürfte allein durch die Dopplung angeregt worden sein, die sich im Hinblick auf das „Image“ ergibt, wenn ein Schauspieler in der Politik geht. Der abschließende Text bringt schließlich Ironie ins Spiel, da Ballard das Attentat auf Kennedy – im Rückgriff auf einen Text von Alfred Jarry – unter dem Aspekt eines Autorennens betrachtet: „Kennedy erwischte einen schlechten Start.“ Offensichtlich hatte Oswald einen Fehler gemacht, nur eben: „Wer gab ihm das Gewehr in die Hand, mit dem er den Startschuss abfeuerte?“

[bookpreview] 978-3-641-28018-5

Natürlich ist „Liebe & Napalm: Export USA“ nicht nur für Ballards Verhältnisse ein extremes Buch. Ursprünglich in dem britischen Magazin New Worlds veröffentlicht, hat es sehr wenig mit konventioneller SF zu tun, die sich aber motivisch noch in Reichweite befindet. Ohne die technikaffine Linie des Genres, von der sich Ballard bewusst abwendet, ist „Liebe & Napalm: Export USA“ nur unvollständig zu erfassen. Dazu kommt, dass die kritische Perspektive, die das Buch transportiert, typisch für jene SF ist, die sich als seismische Literatur versteht und vor beunruhigenden Entwicklungen warnen will. Hier lässt sich auch die Brücke zu der nachfolgenden Trilogie aus den Romanen „Crash“ (1973), „Concrete Island“ (1974; dt. „Betoninsel“) und „High-Rise“ (1975) erkennen; Bücher, deren zivilisatorische Diagnose ähnlich verstörend ausfällt, die aber aufgrund ihrer konventionellen Machart einfacher zu lesen sind.

„Liebe & Napalm: Export USA“ wurde 1970 von Carl Weissner (1940–2012) übersetzt, der durch seine Kontakte zu Beat- und Underground-Literaten die richtige Nähe zu Gegenkulturprodukten aufwies und Ballard damit ähnlich gerecht werden konnte wie mit den Eindeutschungen von William S. Burroughs. Der Text ist für die Neuausgabe durchgesehen, aber nicht um die Anmerkungen und Kommentare des Autors ergänzt worden, die sich in der englischen Ausgabe von Fourth Estate (2014) finden; außerdem existieren mehrere vergleichbare Texte, die sich gut im Anhang gemacht hätten. Trotzdem: als Leseausgabe ein verdienstvolles Unterfangen.

J.G. Ballard: Liebe & Napalm: Export USA • Roman • Diaphanes, Zürich 2020 • 176 S. • € 17,50 • auch als E-Book

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