25. Mai 2022

Traumophonnotizen

Croissants mit Dorade Royal oder: Was wollen uns unsere Träume sagen?

Lesezeit: 4 min.

Als ich, es war Sonntagmorgen, in die Küche kam, sah mich meine Frau an: „Ich habe dich heute Nacht geweckt. Ein Alptraum.“

„Erzähl“, sagte ich, interessiert gähnend. Es gab kleine süße Croissants und Espresso, Sonntag eben. Mit Butter.

„Kann ich nicht“, sagte meine Frau. „Du hattest einen Alptraum, nicht ich. Du hast geschrien, da habe ich dich geweckt.“

„Aha“, sagte ich, denn ich wusste von nichts.

Mein Sohn kam aus der Dusche. „Du hast heute Nacht geschrien“, sagte er.

„So?“, sagte ich.

Später erfuhr ich: Ich hatte mit dem Aufschrei auch meine Tochter geweckt. Was für ein Alptraum!

Aber was hatte mir eigentlich geträumt? Ob das Traumophon etwas aufgezeichnet hatte? Die Schellackplatten … Kurz zum Schellack: Schellack ist ein ziemlich traumaffiner Stoff. Er wird aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnen, eines emsigen Geschöpfchens, das, um diese Ausscheidung zu produzieren, zuvor an bestimmten Pflanzen saugen muss, an Pappelfeigen oder Regenbäumen, ein Säugetier ganz eigener Art. Besagter Regenbaum gehört zu den Mimosengewächsen, und des Nachts scheint es unter ihm leicht zu regnen. Aber oho, dieser Regen ist keiner! Er besteht möglicherweise aus den Ausscheidungen von Singzikaden, die vielzahlig in der Krone hausen, oder, man weiß es nicht genau, aus den extrafloralen Nektarien, den Saftdrüsen, die einen süßen Seim absondern.

Aber zurück zum Traumophon. Ich habe es vor Jahren in einem Antiquitätengeschäft im schönen Rye erworben, das, da hier neben Krims und Krams, alten Matchbox-Autos und vergilbten Krimis vergilbter Romanautoren, etliche NS-Devotionalien (made in China) feilgeboten werden, mein Sohn den „Little Nazi Shop“ nennt, was aber nicht der amtliche Name des Ladens ist; den habe ich vergessen.

Ja, am Sonntagmorgen gibt es bei uns gerne Croissants. Ein Croissant ist ein Plundergebäck und heißt so, weil es dem croissant de lune gleich sieht, das heißt: der zunehmenden Mondsichel. Gewiss, gewiss, der wahre Frankophile ersteht sein Croissant in der Boulangerie, Baguetterie oder Crêperie seines Vertrauens, zum Beispiel bei Aux Plaisirs, Aux Delices Normands, bei Le Brot, in der Boulangerie Utopie (20 Rue Jean-Pierre Timbaud) zu Paris oder - warum auch nicht? - in der braven Bäckerei Chambelland in der Rue Ternaux 14 im elften Arrondissement.

Wir dagegen kaufen unsere Croissants im Kaufpark zu Gelsenkirchen, dem „Paris des Ruhrgebiets“. Denn der ist geräumig, gigantisch, einfach eine Wucht. Am schönsten ist es dort kurz vor den Feiertagen. Dann ist es voll. Und wenn es voll ist, stehen hier und dort Einkaufswägelchen, deren Inanspruchnehmer sich auf der Suche nach diesem und jenem Kinkerlitzchen kurz in einen Seitengang gezwängt und den fahrbaren Korb, schon gut gefüllt, sich selbst überlassen haben. Ich nutze die unbeaufsichtigte Gelegenheit, um, als wäre ich der Osterhase, die eine oder andere Überraschung unter die schon gesammelten und aufgehäuften Waren und Wurstigkeiten zu mischen: mal eine Tiefkühlpizza Tonno, mal Carefree Cotton Feel Damenbinden, lecker Hunde-, Hamster- oder Sittichfutter für den gefiederten Freund, mal gute Schuhcreme (die mit dem Frosch), Eier von freilaufenden Hühnerbaronen, einen Akku-Bohrschrauber Professional von Bosch, das Playmobilset Drachenattacke, den Fitnesstracker von Garmin zu 79,99, ein süffiges Fläschchen Hennessy (-27%!) oder, last but not least, eine ausgenommene Dorade Royal zu 1,29 - dafür kann man sie nicht selbst fangen!

Dann stelle ich mir die Überraschung des bescherten Kunden vor, der die Sächelchen auf‘s Band legt oder daheim auspackt und sich fragt: Dorade Royal? Ich esse doch gar keinen Fisch. Drachenattacke und zwei Stangen Ei und Grassamen? Ich habe doch weder Sittich noch Kinder. Aber wer weiß, was der Tag noch bringt.

Welche Schrecken hält die Nacht für uns bereit? In welchen traumatischen Landschaften verlaufen wir uns? Die Dorade gilt als fest, mager und sehr schmackhaft, überaus eiweißreich und vollgepfropft mit existenziellen Mineralstoffen wie Kalzium, Phosphor und Magnesium. Gerne grillt man sie im Ganzen, doch eignet sie sich ebenso als Zutat für Sushi und Sashimi. Ob sie das weiß, die Dorade? Dass ihr transmaritim ein Dasein im Gemüsebett zugedacht ist – Fenchel, Zitrone und Thymian, Limette und Salzkruste? Scheu ist sie, die Dorade, erst männlich, später weiblich patrouilliert sie über den sandigen und kiesigen Boden des Mittelmeers, einzelgängerisch, knackt Bärenkrebse, schmaust Seenadeln und Kaisergranat.

Ich also zum Traumophon, lege die Schellackplatte der letzten Nacht auf und kurbel die Scheibe an.

Ich höre, wie ich über eine Straße schlendere, im Schatten des Eiffelturms. Die berühmten Bouquinisten preisen ihre Scharteken an: „Camus, und noch einen Camus oben auf, und ein Pfund Sartre und - ich muss verrückt sein! - ich lege noch ein Pfund Vuillard drauf, und einen Aal, und einen Pappelfeigensetzling, und einen Matchbox-Doppeldeckerbus!“

Interessant, denke ich, aber ich werde abgelenkt. Vor meiner Nase baumelt ein Croissant. „Bonjour“, sagt das Croissant, „heute schon gefrühstückt?“ Gute Frage! Ich öffne eben den Mund, da bemerke ich, dass das Mondsichelbrötchen an einem Faden baumelt, der hoch und immer höher hinauf reicht, bis zur Himmelsoberfläche und hindurch. Der Faden aber hängt an der Angel einer alten, eiweißreichen Dorade, die auf einem Hocker im Nieselregen sitzt, hinabglotzt zu mir und sich die Lippen leckt. Ich schreie auf.

Dann rüttelt mich jemand an den Schultern.

Hartmut Kasper ist promovierter Germanist, proliferanter Fantast und seines Zeichens profilierter Kolumnist. Alle Kolumnen von Hartmut Kasper finden Sie hier.

Kommentare

Zum Verfassen von Kommentaren bitte Anmelden oder Registrieren.
Sie benötigen einen Webbrowser mit aktiviertem JavaScript um alle Features dieser Seite nutzen zu können.