26. September 2022 1 Likes

Von alten Menschen, Integrationsandroiden und einem Zwergenpenis

Science-Fiction auf dem Fantasy Filmfest 2022

Lesezeit: 7 min.

Man kann den Einstieg kurz halten: Beim 36. Fantasy Filmfest gaben sich wieder etwas mehr Gäste die Ehre, ansonsten war aber alles beim Alten – sprich: wie immer ein kunterbuntes Programm, in dem wohl jeder fündig geworden ist.

Für uns relevante Titel:

 

1. Something in the Dirt (USA 2022)

Worum geht’s? Levi Danube und John Daniels sind Freunde und Nachbarn. Levi arbeitet als Barkeeper, neigt dazu, zu viel zu trinken und ist der entspanntere der beiden Freunde. Seine Wohnung ist nur spärlich eingerichtet. John ist als Fotograf tätig und gerade wieder Single. Eines Nachmittags bemerken sie seltsame Lichter über dem Wohnkomplex in Los Angeles und einen schwebenden Kristall. Sie beschließen, gemeinsam einen Dokumentarfilm über diese bizarren Ereignisse zu drehen …

Lohnt sich? Oh yes! „Something in the Dirt“ spaltete auf dem Fantasy Filmfest das Publikum wie Moses einst das rote Meer und wen wundert’s: Aaron Moorhead und Justin Benson, das auf dieser Seite schon zigfach abgefeierte, hyperkreative Duo („The Endless, „Synchronic, „After Midnight) machen nach einem erwartungsgemäß wenig erbaulichen Stopp bei Marvel („Moon Knight) eine unerwartete Kehrtwende zurück zu den Anfängen und steigen mit einem minimalistischen, völlig verschrobenen Kammerspiel hinab in den Kaninchenbau von Verschwörungstheoretikern. Im Grunde gibt’s 120 Minuten lang vor allem zwei Männer zu sehen, die rauchen und reden. Dass das trotzdem jederzeit interessant anzusehen ist, ist einer famosen, ideenreichen Inszenierungskunst zu verdanken, die ähnlich übermütig und verspielt daherkommt wie der Inhalt. Das Windspiel aus Matrjoschka-Puppen, welches im Hof der beiden hängt, ist ein Symbol für die völlig verschachtelte Erzählweise, die Erkenntnisse, Ereignisse und Monologe wild wuchern lässt und einem beim Abspann erstmal völlig erschlagen zurücklässt, was den beiden auch den Vorwurf einbrachte, den Bogen überspannt zu haben. Ich kann da nicht zustimmen, ich find’s toll, dass man direkt nach belanglosem Marvel-Einheitsbrei einen Film vom Stapel lässt, der sich traut, die Zuschauer so richtig zu fordern und hatte großen Spaß mir mein Hirn verknoten zu lassen, zumal das Ganze nie prätentiös daherkommt, sondern mit einer großen Portion Humor angereichert ist. Die deutschen Rechte liegen bei Indeed Film, was heißt, dass dieser herrliche Mindfuck in absehbarer Zeit auch hier aufschlägt – wir werden uns dem Thema dann definitiv noch mal ausführlicher widmen!

 

2. Freaks Out (Belgien/Italien 2021)

Worum geht’s? Sie sind Ausgestoßene der Gesellschaft und der Zirkus ist ihre Heimat. Doch es ist 1943, die Deutschen marschieren in Italien ein und bald beginnt für Cencio, Mario, Fulvio und Matilde eine bizarre Odyssee durch das besetzte Rom. In einer Welt, die von mörderischem Wahnsinn regiert wird, müssen ein magisch begabter Albino, ein magnetischer Zwerg, ein Wolfsmensch mit Superkräften und eine elektrische Tänzerin gemeinsam ums Überleben kämpfen. Und als wäre die Feuerkraft der Wehrmacht nicht genug, gibt es da noch einen sechsfingrigen Nazi-Psychopathen, der groteske Menschenexperimente betreibt….

Lohnt sich? „Freaks Out“ kam auf dem Festival ziemlich gut an. Von „wirklich originell“, „einzigartig“, „grenzensprengend“ ist die Rede – wie es zu Einschätzungen dieser Art kommt weiß ich nicht. Ich kann mir das nur so erklären: Mittlerweile sind viele vom Dauerbombardement mit Comicverfilmungen in ihren Erwartungshaltungen dermaßen standardisiert, dass der Eindruck entsteht, was total Ungewöhnliches gesehen zu haben, wenn zum Einheitsbrei noch ordentlich Gewalt, ein klein wenig Sex und ein stattlicher Zwergenpimmel beigemischt wurde. Dabei fängt das Epos durchaus nicht uncharmant an, aber mit zunehmender Laufzeit wird einem bewusst, dass das hier nichts weiter als ein Mix aus „X-Men“ und „Fantastic Four“ ist, der sämtliche Motive der US-Kollegen abfrühstückt, nur natürlich mit deutlich weniger Budget, dafür aber halt um einiges derber. Leider hat sich Regisseur Gabriele Mainetti auch die größte Unsitte der Amis abgeguckt: Er weiß einfach nicht, wann Schluss ist und pumpt seinen erzählerisch ohnehin nicht gerade ökonomischen Film noch mit einem Endlos-Showdown auf satte 141 Minuten auf. 50-60 Minuten weniger und „Freaks Out“ wäre vielleicht halbwegs okay gewesen, so aber wird’s zur Qual.

 

3. After Yang (USA 2021)

Worum geht’s? Jake und Kyras Adoptivtochter stammt aus China, und um Kindern die Integration zu erleichtern, ordert man im Amerika der nahen Zukunft dafür einen Androiden. So kommt Yang ins Haus, ein vielfach weiterentwickelter Verwandter der antiken Alexa-Boxen. Fortan kümmert er sich um Mika und sorgt dafür, dass sie die alten Traditionen nicht vergisst. Eine unentbehrliche Haushaltshilfe und bald schon ein Freund der Familie – bis er kaputt geht. Nun rächt sich der Gebrauchtkauf, denn die Garantie ist abgelaufen, und als die Reparatur vorerst scheitert, sucht sich Jake Hilfe auf dem Graumarkt. Dabei stolpert er über die Möglichkeit, in Yangs gespeicherte Erinnerungen einzutauchen …

Lohnt sich? Zweiter Film des aus Südkorea stammenden, weitgehend anonymen US-Amerikaners Kogonada, ein Filmkritiker und Regisseur, dessen Pseudonym vom japanischen Drehbuchautoren Kogo Nada inspiriert wurde, ein häufiger Mitarbeiter der Regie-Legende Yasujirō Ozu. Der japanische Einfluss wundert angesichts seiner Filme kaum, denn die sind zurückhaltend, geradezu meditativ ruhig und zeichnen sich durch eine präzise, subtile, fast schon ein wenig strenge, aber wunderschöne Bildgestaltung aus. „After Yang“ ist klar in der Kategorie Science-Fiction zu verorten, verweigert sich aber dramaturgischen Konventionen: Es gibt keine spannungsgeladene oder bedrohliche Situationen, es wird im Prinzip nicht mal gestritten. Er interessiert sich noch nicht mal sonderlich für die Antworten auf die angesichts der Thematik erwartbaren Fragen, die er stellt, sondern vielmehr für die Überlegungen. Was bedeutet, es zu leben? Welchen Wert hat es? Was bedeutet zu einer Ethnie zu gehören? Wer legt das überhaupt fest, gerade in einer Welt, in der Eindeutigkeiten immer mehr erodieren? „After Yang“ ist ein visuell erneut faszinierender, grüblerischer, dabei aber gleichzeitig trotzdem überraschend leichter Film, der mit sympathischen Figuren optimistisch in die Zukunft blickt und dabei sanft in einen einsickert. Man hat am Ende sicherlich nichts Aufregendes, nichts „Großes“ gesehen, dafür aber einen Film, der sich festgehakt hat und zu dem man gerne zurückkehren wird.

 

4. Old People (Deutschland 2022)

Worum geht’s? „Du sollst die Alten ehren, denn einst wirst du werden wie sie“, mahnt die Bibel. Doch die Realität sieht schmerzlich anders aus im deutschen Institutionsalltag. Eines Tages platzt den wie Tiere gehaltenen Rentnern einer vergessenen Einrichtung mitten im Nirgendwo der Kragen. Als erstes wird das Pflegepersonal zerfleischt, dann macht sich die wild entfesselte Seniorenbande auf zur fröhlich feiernden Hochzeitsgesellschaft nebenan. Die traut ihren Augen kaum, als sie die Scheintoten auf sich zuwanken sieht. Was passiert hier gerade? Und Opa ist auch noch unter dem wütenden Mob. Aber Ella und ihr Ex Lukas haben nicht viel Zeit zu fackeln, denn es gilt ihre Kinder zu beschützen. Diese Nacht wird eine Menge Blutzoll fordern.

Lohnt sich? Was hatte ich mich gefreut! Die Prämisse klang super! Ein bisschen wie einer von Karl Lauterbachs schlimmsten Alpträumen! Aber leider bekräftigt „Old People“ das Vorurteil, dass Deutsche einfach kein Genre können: Das Ganze ist ein in flacher TV-Optik heruntergefilmter Langweiler mit Soap-Opera-Dialogen, ein bei Wish bestellter Romero-Verschnitt ohne Biss, ohne Witz, der das Kunststück schafft seine an sich ehrenwerte Message mit dem Vorschlaghammer in den Zuschauerraum zu rammen, aber gleichzeitig maximal unglaubwürdig zu wirken, denn „alt“ wird hier grundsätzlich mit widerwärtig (zahnlos, eitrig, schleimig) gleichgesetzt. Selbst niederste Splatter-Gelüste werden kaum befriedigt, da das Gemetzel zumeist im Kameragewackel untergeht. Wie schön wäre es zum Beispiel gewesen, wenn sich der Film voll und ganz auf die Seite der Alten gestellt hätte? Und die vielleicht samt und sonders süß und absolut liebenswert, aber trotzdem stinksauer und extrem gewaltgeil sind und Dutzende von Social-Media-süchtige Selbstoptimierungsdeppen brutalstmöglich abschlachten? Oder irgendwie so halt. Aber stattdessen gibt’s pupsöden Murks mit erzkonservativem Unterton (Scheidung? Böse, böse!). Bin ein paar Minuten vor Ende raus, durch und durch ein Scheißfilm.

 

5. Watcher (USA 2022)

Zum Schluss noch eine kleine Anmerkung zu „Watcher“ mit Maika Monroe („Independence Day 2: Wiederkehr“, „Die 5. Welle“) und Burn Gorman („The Expanse“, Romanvorlagen im Shop): Der Thriller erzählt von Julia, die dank der Beförderung ihres Mannes Francis nach Bukarest zieht und da ihr Mann permanent am Ackern ist, die Tage allein in einer fremden Stadt in einem fremden Land verbringt, dessen Sprache sie nicht spricht und eines Tages feststellen muss, dass sie von einem seltsamen Mann vom Appartmentblock gegenüber beobachtet wird – parallel dazu wird in den Nachrichten berichtet, das ein Serienmörder sein Unwesen treibt, der seine Opfer enthauptet. Die „Fenster zum Hof“-Variante zeichnet einmal mehr vom eigentlich absolut besuchenswertem Rumänien ein wenig einladendes Bild (düster, regnerisch, heruntergekommen, zwielichtige Stripclubs …), besticht aber durch eine toll aufspielende Maika Monroe und eine angenehm ruhige Inszenierung mit präzisen Bildern, die sich im Gewand eines spannenden Thrillers auf einfühlsame Weise dem Thema victim blaming annimmt. Einziger Downer: Die letzten zwei Minuten, hier hätte ich mir ein Paar Eier im Sack gewünscht. Trotzdem: Hat noch keinen deutschen Verleih, sollte man sich aber mal auf die Handinnenseite schreiben.

Große Abb. ganz oben: „After Yang“.

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