„Die Parabel vom Sämann“ von Octavia E. Butler
Der SF-Klassiker von 1993, der 2023 so aktuell ist wie nie, in neuer Übersetzung
Die Amerikanerin Octavia E. Butler (1947–2006) (im Shop) zählt zu den größten Autorinnen der Science-Fiction, nicht umsonst wurde sie mit allen wichtigen Genre-Preisen ausgezeichnet, außerdem erhielt sie als Erste aus dem Feld der Zukunftsliteratur eine hochdotierte MacArthur Fellowship. Zu Butlers bekanntesten Werken gehören der Zeitreiseroman „Kindred“ über Sklaverei, der just als Fernsehserie umgesetzt wurde, die ebenfalls für eine Adaption vorgesehene „Xenogenesis“-Trilogie, der legendäre Genre-Mix „Wilde Saat“ und natürlich der beeindruckende, topaktuelle SF-Klassiker „Die Parabel vom Sämann“ (im Shop). Der zuletzt genannte Roman aus dem Jahr 1993 liegt nun in der Neuübersetzung von Dietlind Falk bei Heyne vor.
Wer sich gern Sorgen darüber macht, dass mit Begriffen wie topaktuell zu inflationär umgegangen wird, dürfte bei der Lektüre von Butlers Buch eine ziemliche Überraschung erleben. „Die Parabel vom Sämann“ alias „The Parable of the Sower“ stammt also von Anfang der 1990er, erschien ursprünglich nach den Unruhen in L. A. von 1992. Die Handlung setzte schon immer 2024 ein und erstreckt sich von dort aus noch eine Handvoll Jahre weiter in die Zukunft. Wenn wir den Roman jetzt lesen, können wir also abgleichen, wie sich Butlers Vision von ihrem Morgen und unserem Heute gehalten hat. Aber nicht nur in dieser Hinsicht ist „Die Parabel vom Sämann“ ein hoch relevantes und aktuelles Werk der Science-Fiction, dessen Neuausgabe dringend nötig war.
Wir lesen das Tagebuch der jungen Lauren Olamina, die als Teenager-Tochter einer schwarzen Pastorenfamilie in Südkalifornien aufwächst. Das Leben im Jahr 2024, wie Butler es beschreibt, ist ziemlich ungemütlich – und uns Hier und Jetzt in weiten Teilen erschreckend vertraut: Dürre, Wirbelstürme oder Starkregen geißeln das ganze Land, es ist unglaublich schwer, an sauberes Trinkwasser und an genügend Nahrung zu kommen. Soziale Ungerechtigkeit, Rassismus und Sexismus erschweren das Überleben zusätzlich. Sogar in Laurens kleiner Vorort-Nachbarschaft hinter bewachten Mauern und Toren, abgeschottet von den Drogen, der Gewalt, den Krankheiten, den wilden Hunden, dem tödlichen Wahnsinn außerhalb. Zudem gibt es Diebe, Plünderer, Vergewaltiger und Junkies, die es über die Mauer schaffen, und die Polizei ist nicht unbedingt Freund und Helfer. Schließlich muss Lauren die löchrige Sicherheit ihres Zuhauses aber ohnehin verlassen und sich auf die Straße begeben, auf einer Reise gen Norden ums Überleben kämpfen. Sie hat ihre Waffe, findet ein paar Reisegefährten und vertraut auf ihr eigenes Glaubenskonzept Earthseed, in dem Veränderung alles ist, alles durchdringt, alles bedeutet …
Klimakrise, Polizeigewalt, extrem populistische Politik, kollabierende soziale Systeme, ebenso mächtige wie skrupellose Firmen mit modernen Lohnsklaven, ganz allgemein der Aufruhr unserer Tage: Es gibt wohl keinen dystopischen, geradezu endzeitlich-anmutenden Roman der Science-Fiction, der sich so sehr nach den 2020ern, so sehr nach unserem 2023 anfühlt, wie Octavia E. Butlers Meisterwerk von 1993. Selbst wenn die Geschichte von Laurens Reise nicht 2024 einsetzte, würde einen die Lektüre von Butlers Roman heute packen und treffen. So ist das Wechselspiel aus Zukunftsliteratur und Gegenwart, aus der geschriebenen Vorstellung und der gewordenen Wirklichkeit, allerdings noch wesentlich krasser.
Bei „Die Parabel vom Sämann“ handelt es sich um einen dieser bemerkenswerten Romane, die weit über das SF-Genre hinaus scheinen und leuchten können, sollen, müssen. In den USA erlebte Butlers Buch Anfang der 2020er bereits zurecht einen zweiten Frühling und schaffte es sogar auf die Bestsellerliste. Es wäre wünschenswert, dass dieser finstere und brutale, dennoch nie hoffnungslose Evergreen auch im deutschsprachigen Raum ähnlich wahrgenommen würde.
Obendrein gibt es mehrere Leseweisen des Romans, dem übrigens ein Vorwort von N. K. Jemisin vorangestellt ist, einer gegenwärtigen Fantastik-Größe mit MacArthur Fellowship. Man kann Butlers „Sämann“ als spannendes, erschreckend plausibles Zukunftsszenario sehen, in dem wir zu Teil bereits mittendrin stecken, leben. Genauso gut mag man es als Buch über die Kraft und Macht und Wichtigkeit der Veränderung lesen. Und man kann es auch selbst ganz einfach als eines der besten endzeitlichen Abenteuer der Literaturgeschichte genießen – denn „Die Parabel vom Sämann“ ist auch, aber eben nicht allein ein Highlight für Fans von Cormac McCarthys „Die Straße“, Margaret Atwoods „Der Report der Magd“, „The Last of Us“ oder selbst „The Walking Dead“.
Im März 2024 wird das leider einzige Sequel „Die Parabel der Talente“ zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen (im Shop).
Octavia E. Butler: Die Parabel vom Sämann • Roman • Aus dem Amerikanischen von Dietlind Falk • Heyne, München 2023 • 448 Seiten • Erhältlich als Paperback und eBook • Preis des Paperbacks: € 15,00 • im Shop
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