„Lola“: Thom und Mars gegen Adolf
Schwarzweiße Found-Footage-Sci-Fi
London, 1941: Die Schwestern Thomasina „Thom“ (Stefanie Martini) und Martha „Mars“ (Emma Appleton) Hanbury haben die nach der verstorbenen Mutter benannte Zeitmaschine LOLA konstruiert. LOLA kann Radio- und Fernsehsendungen aus der Zukunft empfangen. Die Schwestern nutzen das erstmal vor allem aus, um das Einkommen mit sicheren Wetten aufzustocken, aber dann wird’s ernst, denn der zweite Weltkrieg eskaliert. Thom und Mars beschließen mit ihrem Wissen einzugreifen und Hitler und seinen Truppen Saures zu geben. Doch die beiden haben leider keine Science-Fiction-Filme aus der Zukunft abgefangen, sonst wüssten sie, dass Eingriffe dieser Art selten gut gehen …
Alternate-History-Geschichten sind nicht unbedingt neu. Bekannte Beispiele sind „Vaterland“ oder „The Man in the High Castle“, die beide drüber nachdenken, was gewesen wäre, wenn die Deutschen den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten – natürlich ein enorm reizvolles, dystopisches Szenario, unheimlicher geht kaum noch.
Auch in der britisch-irischen Produktion „Lola“ verläuft der Kampf gegen die braunen Buben nicht so, wie aus den Geschichtsbüchern bekannt. Doch Regisseur Andrew Legge wählt für seinen Low-Budget-Debütfilm, der auf seinem Kurzfilm „The Chronoscope“ basiert (unten verlinkt) einen anderen Ansatz, kommt weniger gewichtig daher, wirkt hingeworfener, verspielter, ist gerade ernst genug um nicht zur Komödie zu werden und reißt allerlei Fragen an, ohne wirklich an Antworten interessiert zu sein.
Erwartbare (wie viel zivile Opfer kann man aus taktischen Erwägungen in Kauf nehmen?), wie unerwartete Fragen: Was wäre, wenn Stanley Kubrick nie auf die Welt gekommen oder David Bowie Zahnarzt geworden wäre? Die Bedeutung und der Einfluss der Popkultur nimmt einen größeren Raum ein – so wird dank der Erfindung der Schwestern etwa der 1964 veröffentlichte Hit „You Really Got Me“ von The Kinks 1941 plötzlich zur Widerstandshymne, umgekehrt wissen die Nazis, die in den 1940ern aufflammende Popkultur für sich zu nutzen und warten mit dem – fiktiven – Electropopstar Reginald Watson auf, der mit „To The Gallows“ einen abstoßenden, aber gefährlich verführerischen Fascho-Clubhit am Start hat.
Natürlich, es rieselt kühl den Rücken runter, wenn die Hakenkreuzflagge über England weht, aber „Lola“ schlägt keine tatsächliche Brücke zur realen Welt, sondern kommt als nerdiger Geschichtsremix daher, der seine schwarzweiße Künstlichkeit nie verbirgt: Die Verquickung von Archivmaterial mit neu gedrehten Szenen ist jederzeit ersichtlich, die Zeitmaschine der beiden Frauen erinnert an ähnliche Gerätschaften aus Science-Fiction-Filmen längst vergangener Zeiten. Dementsprechend kommt dem über weite Teile angewandten Found-Footage-Format hier eine leichte andere Bedeutung zu als in anderen Filmen, die sich dieses Stilmittels bedienen: Die Eltern der beiden Schwestern, die in Abgeschiedenheit leben, offenbar nur aneinander haben, starben sehr früh, existieren nur in Aufnahmen – dementsprechend filmen sich die beiden Frauen permanent, denn jeder ungefilmte Augenblick ist ein verlorener, Film bedeutet Dasein.
Überhaupt, die Frauen. Leider sind die Charaktere etwas unterentwickelt, aber dennoch: Es ist durch und durch ihr Film, Stefanie Martini und Emma Appleton sind nicht nur in den meisten Szenen zu sehen, sie füllen ihre Figuren mit derart charismatischen, energiegeladenen, ansteckendem Leben, dass die Handlung in Gefahr läuft, in den Hintergrund zu rücken, man einfach nur mehr von den beiden wunderbaren Frauen sehen möchten, die nicht nur eine Zeitmaschine erfunden haben, sondern in diesem Setting selbst wirken aus der Zukunft gepurzelte Semipunks, die Musik von morgen abfeiern, pausenlos Wein trinken, rauchen und im Stehen pinkeln. Da verzeiht man, dass das Drehbuch an wenigen Stellen einen Tick zuviel Sendungsbewusstsein entwickelt („Geschlechtsspezifische Unterschiede sind ein Konstrukt“) – Thom und Mars bohren sich ins Herz und bleiben da nach den viel zu kurzen 78 Minuten noch eine ganze Weile.
Lola (Irland/Großbritannien 2023) • Regie: Andrew Legge • Darsteller: Stefanie Martini, Emma Appleton, Rory Fleck Byrne, Hugh O’Conor, Aaron Monaghan • ab 28.12.2023 im Kino
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