„George Orwell Gesammelte Werke“ – Veraltet oder zeitgemäß?
Ein Sammelband mit den wichtigsten Texten des visionären Autors
1984. Das Orwell-Jahr. Vier Jahrzehnte liegt es inzwischen zurück, die Veröffentlichung des Romans schon über 75, liest man ihn heute, wirkt er gleichermaßen überholt wie zeitgemäß. Rechtspopulistische Parteien sind im Aufwind, in manchen scheinbar stabilen westlichen Demokratien sind ihre Vertreter gar an die Macht gekommen und drohen, Jahrzehnte demokratischer Entwicklung zurückzudrehen. Dazu die Diskussion um Fake News, um Manipulation der Wahrheit, um Internet-Bots und Troll-Armeen: George Orwell wäre wohl entsetzt über den Zustand der modernen Welt.
Grund genug also, sich 75 Jahre nach dem Tod des britischen Journalisten und Autors mit dem Werk eines Visionärs zu beschäftigen, dessen zwei berühmteste Romane – „Farm der Tiere“ und „1984“ – essentielle Werke der Weltliteratur sind. Im Anaconda Verlag erscheint nun ein Band, der sich etwas hochtrabend: „George Orwell - Gesammelte Werke“ (im Shop) nennt. Mit etwas über 700 Seiten Umfang ist der Band zwar durchaus mächtig, aber doch weit entfernt vom Umfang der tatsächlichen Gesammelten Werke: Die erschienen ab Mitte der 80er Jahre in 20 Bänden mit weit über 8000 Seiten.
Ein enormes Werk hat der 1903 geborene Orwell also hinterlassen, auch wenn er 1950 mit nur 48 Jahren an Tuberkulose verstarb. Sechs Romane finden sich in seinem Œuvre, einige Reiseberichte, sogar Gedichte, vor allem aber zahllose Artikel für Zeitungen und Magazine.
16 dieser Texte umfasst der nun veröffentlichte Band, zwischen 1931 und 1949 veröffentlichte Artikel, die einen knappen, aber interessanten Einblick in die Entwicklung von Orwells Denken geben.
Geboren wurde Orwell in der britischen Kolonie Indien, wo sein Vater in der Kolonialadministration diente. So wie Orwell selbst in den 20er Jahren, als er in Mandalay, dem späteren Burma und heutigen Myanmar diente. Dazwischen lag allerdings seine Ausbildung an britischen Elite-Schulen wie Eton, wo er zufällig auch bei einem anderen der großen dystopischen Autoren lernte: Aldous Huxley.
Bis Orwell selbst als Autor reüssierte lag ein bewegtes Leben hinter ihm: Phasen der Obdachlosigkeit erlebte er, kämpfte wie so viele mit linken Idealen sympathisierende Intellektuelle im Spanischen Bürgerkrieg, in dem er schwer verletzt wurde. Klassische Stationen der Zeit, die bei Orwell allerdings nicht zu einer undifferenzierten Begeisterung für den Sozialismus und Kommunismus führten, wie bei etlichen seiner Zeitgenossen.
Während des Zweiten Weltkriegs schrieb er Texte mit Titeln wie „Faschismus und Demokratie“, in denen er unverblümt die Schwächen liberaler Demokratien aufzählt, die aber bei allen Missständen immer noch jeder Form von autoritärem System oder gar dem Faschismus vorzuziehen seien. Gerade in der heutigen Zeit, in der angesichts wuchernder Bürokratie und scheinbarem Stillstand, auch in westlichen Demokratien der Ruf nach starken, autoritären Führern immer lauter wird, ein besonders hellsichtiger Text.
Lesenswert sind die Essays besonders um Orwells Entwicklung nachzuvollziehen, die zu seinen beiden berühmtesten Romanen führte, zum einen dem 1944 erschienenen „Farm der Tiere“, eine pointierte Allegorie über das Abdriften einer Revolution in autoritäre Herrschaft, mit dem berühmten Satz: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere.“ Und zum anderen dem dystopischen Roman „1984“, das eine Welt imaginiert, in der durch totale Überwachung jegliche Freiheit erstickt wird. Zwangsläufig altmodisch wirken zwar manche Formen der Gedankenkontrolle, wie sie Orwell beim Verfassen Ende der 40er Jahre imaginierte, aber die Art und Weise, wie er quasi die modernen Fake News voraussieht, den Versuch, eine alternative Realität zu kreieren , lässt den Roman auch heute noch relevant erscheinen. Vielleicht hat die Wirklichkeit Orwell auch längst überholt, denn ein zunehmend autokratisch agierender Politiker wie Donald Trump macht sich ja gar nicht mehr die Mühe durch Fälschungen im Nachrichtenarchiv die Geschichte in seinem Sinne zu ändern: Er lügt einfach so lange, bis seine Gegner vor Müdigkeit die Segel streichen. Selbst der Visionär George Orwell konnte diese Entwicklung nicht vorhersehen, was er über die Entwicklungen und absehbaren Gefahren seiner Zeit schrieb, bleibt auch Jahrzehnte später lesenswert.
George Orwell: Gesammelte Werke • Anaconda, München 2025 • 720 Seiten • Hardcover • 12,95 € • im Shop
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