Ein filmender Fotograf
„Das Stanley Kubrick Archiv“ gibt es nun in einer preiswerten Neuausgabe bei Taschen
Stanley Kubrick (1928–1999) muss, bei rechtem Lichte betrachtet, zu den herausragenden Vertretern des phantastischen Films gerechnet werden. Es sind vier Werke, die diese Einschätzung rechtfertigen: seine hintereinander gedrehte SF-Trilogie Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964), 2001 – Odyssee im Weltraum (1968), Uhrwerk Orange (1971) und der Horror-Film Shining (1980). Auch übergab er ein Projekt mit dem Titel A.I. an Steven Spielberg, das dieser nach Kubricks Tod realisierte. Nur wenige Regisseure haben ein vergleichbares Werk von so hoher künstlerischer Qualität bei gleichzeitigem Erfolg an den Kinokassen abgeliefert.
Kubrick bekam von der Medienöffentlichkeit das Prädikat eines Kult-Regisseurs verliehen. Sein Oeuvre blieb überschaubar, aber jeder seiner späteren Filme, der neu in die Kinos kam, war umgeben von einer Aura des Außergewöhnlichen. Mit 2001 hatte der Filmemacher eine Ausnahmestellung erworben, die seinen weltweiten Ruhm begründete. Allein, die Tatsache, dass der Taschen Verlag nicht nur einem einzelnen Film wie 2001 eine Buchausgabe widmet, sondern auch sein ganzes Werk in dem vorliegenden Band vorstellt, zeigt, welche Bedeutung Kubrick in der Filmwelt innehatte.
Das von Alison Castle herausgegebene „Stanley Kubrick Archiv“ bietet zu jedem seiner Filme Material, auch zu den frühen Dokumentationen und seinen Kriminalfilmen, die noch in den USA entstanden. Seine oben genannten phantastischen Filme wurden alle in England gedreht, in das Kubrick in Anfang der Sechziger mit seiner Familie umgesiedelt war.
Das „Archiv“-Buch ist ursprünglich 2005 in einer weitaus kostspieligeren Variante erschienen, die neue Ausgabe in der Bibliotheca Universalis ermöglicht auch weniger gut betuchten Fans einen Einblick in Kubricks Schaffen. Allerdings wurde der Umfang der Neuausgabe etwas reduziert.
Eindrucksvoll ist die Sorgfalt und die Detailbessessenheit, mit der Kubrick offensichtlich jede seiner Produktionen umgesetzt hat. Nach desillusionierenden Erfahrungen als Auftragsregisseur für Spartacus (1960) hatte er beschlossen, die Kontrolle über seine Projekte behalten und selbst produzieren zu wollen. Schon als junger Filmemacher erwies sich Kubrick als jemand, der intelligent die filmischen Mittel einzusetzen und zu reflektieren wusste. Zu fast jedem Film sind Interviews abgedruckt, in denen sich der Regisseur zu Arbeitsweisen und Absichten äußert.
Dr. Seltsam eröffnete den Reigen seiner Phantastik-Filme. Während die Buchvorlage von Peter George ein ernsthafter Politthriller war, entschied sich Kubrick, mit anderen Mitteln an die reale Gefahr eines Atomkriegs zwischen den damaligen Supermächten heranzugehen. Er machte aus dem Stoff eine „Albtraum-Komödie“, eine Farce mit satirischen Elementen. Nach Kubrick soll der Film in Westdeutschland kein Erfolg im Kino gewesen sein – im Unterschied zu anderen Ländern. Abgebildet ist eine Seite mit flüchtig notierten mehr oder weniger ernst gemeinten alternativen Filmtiteln: Dr. Doomsday or How to start World War III without even trying, The passion of Dr. Strangelove oder – etwas seltsam – Dr. Doomsday meets Ingrid Strangelove. Eine Sequenz mit einer aufwändig gedrehten Tortenschlacht wurde aus dem Film herausgeschnitten – im Buch wird sie auf einigen Doppelseiten mit Bildern dokumentiert. Fünf Tage dauerten die Dreharbeiten allein für diese Szene, Tausende Torten wurden verbraucht. Für Kubrick passte sie aber nicht zur filmischen Atmosphäre, so dass er sie entfernte, sie hätte den Film in den Klamauk abgleiten lassen können. Die Figur des Dr. Seltsam wiederum war angelehnt an die des Dr. Rotwang in Metropolis von Fritz Lang. Zudem ist sie eine Gestalt mit surrealen Zügen, die einzige in dem Film – siehe das „Selbständigmachen“ seiner Hand –, wie Kubrick in einem lesenswerten Gespräch mit dem Schriftsteller Joseph Heller („Catch 22“) anlässlich des Films äußerte.
An der Science-Fiction schätzte Kubrick die „visuellen Herausforderungen und Möglichkeiten“. Mit 2001 hat er seinen eigenen Anspruch ohne Zweifel erfüllt. „Der Ausgangspunkt und das Sine qua non jeder historischen oder in der Zukunft spielenden Geschichte ist es, dass der Zuschauer glaubt, was er sieht.“ Es gibt keinen SF-Film, der mit einem vergleichbaren Aufwand über Jahre produziert worden ist. Allein der technische Stab umfasste 35 Designer und 20 Special-Effects-Techniker. 2001 ist in gewisser Weise ein „Film ohne Handlung“, eine Variante, über die Kubrick nachdachte.
In dem schon zitierten Gespräch führte er aus:
„Man bezahlt einen ungeheuer hohen Preis für eine gute Handlung, denn wenn jeder da sitzt und sich fragt, was als nächtes passiert, dann bleibt nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, wie es passiert und warum es passiert ist. Einer der besten Tricks ist, keine gute Handlung zu haben und trotzdem das Interesse wachzuhalten, indem man etwas Unglaubliches vorbringt und es realistisch erscheinen lässt – das ist dort, wo der Surrealismus und die Fantasie und die traumartige Qualität (…) ins Spiel kommen.“
Mit 2001 ist Kubrick das auf außergewöhnliche Weise gelungen. Beim Blättern in dem Prachtband wird dem Leser auch bewusst, dass Dr. Seltsam und 2001 zwei unterschiedliche Antworten des Filmemachers auf das gleiche existenzielle Problem der Menschheit darstellen, nämlich auf die Enteckung der Atomenergie. Während in Dr. Seltsam die undenkbare Katastrophe eingeleitet wird, zeigt 2001 eine positive Zukunft, die eine Transzendierung irdischer Probleme andeutet. Die Romanfassung von Arthur C. Clarke (im Shop – auch als vierbändiger Sammelband) ist hier deutlicher, indem am Ende erwähnt wird, dass das durch den Raum schwebende „Sternenkind“ die Waffensysteme im Orbit neutralisiert). Es ist in diesem Zusammenhang schade, dass Castle nicht Kubricks Playboy-Interview für diese Ausgabe berücksichtigt hat. Waren in der ersten Ausgabe noch Ausschnitte veröffentlicht worden, sind diese fast vollständig weggefallen. In diesem Interview hat Kubrick sehr ausführlich seine Vorstellungen über Unsterblichkeit und eine kosmische Evolution der Intelligenz dargestellt. Die Bedingung für eine weitere Höherentwicklung der Menschheit sei dabei die Beherrschung der Atomenergie – er bezeichnete es als „Ironie“, dass das Mittel, um die ersten Schritte ins Universum zu tun, gleichzeitig dasjenige sei, was alles zerstören könne.
Uhrwerk Orange schließlich war für Kubricks Arbeitsweise eine recht schnelle Produktion, die teilweise an Originalschauplätzen gedreht wurde. In der vorliegenden Retrospektive erfährt man nebenher eine Fülle von Details aus allen Schaffensperioden, also genügend Stoff für „Kubrickologen“ (Clarke), so zum Beispiel, dass er in den Fünfzigerjahren an einem Konzept für eine Fernsehserie gearbeitet hat, die aber nie realisiert wurde. Kubrick hat früh Computer für seine Arbeit benutzt und für seine Mitarbeiter angeschafft. 1986 war er der erste, der einen Film in England digital geschnitten hat: Full Metal Jacket.
Der Schriftsteller und Drehbuchautor Frederic Raphael, mit dem Kubrick an seinem letzten Film Eyes Wide Shut zusammenarbeitete, hat die Arbeitsweise von Kubrick auf seine frühen Erfahrungen als Fotograf zurückgeführt; in dem Band sind einige seiner Fotografien aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen. So wie ein Fotograf in seinem Studio Hunderte von Aufnahmen macht, darauf wartend, was ein Model ihm „anbietet“, so hat Kubrick immer wieder seine Schauspieler ihre Szenen wiederholen lassen. Bei Shining beispielsweise betrug das Verhältnis von verwendeten und gedrehten Sequenzen 1:100.
Diese Suche nach dem richtigen Moment ohne Rücksicht auf Kosten und Zeitaufwand hat viel zu dem Mythos des Regisseurs beigetragen. Vielleicht liegt Raphael auch mit seiner Einschätzung richtig, dass Kubrick vornehmlich ein visueller Regisseur war. „Der Künstler will alle Aspekte seines Mediums, die seinen Spielraum für das einengen, was er als Kern der Sache betrachtet, so klein wie möglich halten. Kubrick wollte zeigen, nicht erzählen. Er zog es vor, Motive oder ‚Psychologie‘ den Betrachter deuten zu lassen.“ Dafür spricht auch, dass sich die Bildsequnzen aus seinen Filmen für eine derartige Buchdokumentation eignen. Sie haben eine Qualität, die sie auch als isolierte Einheiten bestehen lässt.
Alison Castle (Hg.): Das Stanley Kubrick Archiv ∙ Taschen Verlag ∙ 861 Seiten ∙ 14,99 €
Bilder © Taschen Verlag
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