2. Januar 2019 1 Likes

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Kampf für Mitsprache: Christina Dalchers „Vox“

Lesezeit: 3 min.

Ein Roman, der sich mit Ira Levins „Die Frauen von Stepford“ und Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ vergleichen lässt? Zwischen zwei absoluten Klassikern ordnet Christina Dalcher ihr Romandebüt „Vox“ ein. Klingt anmaßend? Ist es aber nicht! Neben Naomi Aldermans „Die Gabe“ (im Shop) ist „Vox“ der feministische (Science-Fiction-)Roman 2018. Dalchers Heldin Jean schafft hier das Undenkbare: ein politisches System binnen einer Woche zu Fall zu bringen.

Innerhalb eines Jahres haben sich die USA in einen dystopischen Albtraum verwandelt. US-Präsident Sam Myers und Reverend Carl Corbin haben das Land der Ideologie der „Reinen“ unterworfen. Diese steht ganz im Zeichen der „guten alten Zeit“. Um den Status von anno dazumal zu erzwingen, werden Frauen aus dem öffentlichen Leben verbannt. Doch das ist den „Reinen“ noch nicht genug: um jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken, wird Frauen verboten, mehr als 100 Wörter pro Tag zu sprechen. Damit auch keine die Regeln bricht, werden an ihren Handgelenken Zählwerke angebracht. Spricht eine Frau mehr als vorgesehen, wird dies mit einem Stromstoß geahndet. Je mehr Wörter sie spricht, desto höher fällt die Voltzahl aus.

Auch Dr. Jean McClellan hat ihren Job und ihre Freiheit verloren. Die 43-jährige Italienerin und Neurolinguistin musste mit ansehen, wie innerhalb weniger Monate ihre berufliche Existenz zerstört und ihre Familie von den „Reinen“ vereinnahmt wurde. Während sie sich darüber ärgert, dass ihr Ehemann Patrick als Wissenschaftsberater des US-Präsidenten alles kommentarlos hinzunehmen scheint, sind es vor allem ihre Kinder, die die Lehre akzeptieren. Das Blatt scheint sich zu wenden, als bei Bobby Myers, dem Bruder des US-Präsidenten, eine Wernicke-Aphasie festgestellt wird. An einem Heilmittel für diese Sprachstörung hatten Jean und ihr Team vor ihrer Entlassung geforscht. Reverend Corbin macht Jean ein Angebot, das sie nur schwer ablehnen kann: finanzielle Sorglosigkeit und temporäre Freiheit von dem Zählwerk für sie und ihre kleine Tochter Sonia, bis sie ihre Forschung abgeschlossen hat und Bobby wieder spricht. Doch Jean kommen Zweifel, dass die „Reinen“ mit dem Heilmittel nur Gutes im Schilde führen.


Christina Dalcher

Christina Dalchers „Vox“ ist ohne Zweifel ein Kind seiner Zeit und dennoch erstaunlich zeitlos. Die Parallelen zur US-Politik, Teilen der US-Bevölkerung und aktuellen Frauenbewegungen sind unverkennbar. Mauer zu Mexiko? Steht. Religiöse Ideologie? Hat ihre Wurzeln im Bible Belt. Reverend Corbin und seine Anhänger erinnern an die „Angry White Men“, die sich durch starke Frauen und Rechte für Minderheiten bedroht fühlen. Kein Wunder, dass im Roman neben Frauen die LGBTQIA-Community am meisten unter Einschränkungen, Erniedrigungen und unmenschlichen Bestrafungen leidet. #MeToo? Der Rückschlag, den die Frauen in Dalchers Geschichte erleben, ist dermaßen radikal, dass er fast schon unwirklich erscheint. Das alles macht „Vox“ auch zu einem zeitlosen Roman, zu einem, der es mit den eingangs zitierten Klassikern durchaus aufnehmen kann. Es geht in „Vox“ um die Macht der Sprache, die Manipulation von Menschen, den Kampf für Menschenrechte und den Widerstand gegen existierendes Unrecht.

Dalcher zeigt wie fragil eine Gesellschaft ist und wie einfach es sein kann, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. Die „Reinen“ agieren als „Rattenfänger“ und versuchen, Kinder und Jugendliche auf ihre Seite zu ziehen. Jeans Ältester, Steven, wird mit Bonuspunkten fürs College gelockt, ihre Jüngste und einzige Tochter Sonia bekommt fürs Schweigen Schokolade. In diesen Momenten entfaltet „Vox“ seine ganze Kraft, wird der Horror dieser religiösen Vorstadtdystopie greifbar. Denn wenn die Kinder verloren sind, ist es auch die Gesellschaft.

„Vox“ ist ein perfekter Roman: starke Figuren, gelungenes Setting, spannender Plot und eine stringente Erzählungen machen die Lektüre zu einem vollkommenen Leseerlebnis. Fast könnte die Leserin (oder der Leser) meinen, dass Dalcher nie etwas anderes geschrieben hat als packende Pageturner mit wissenschaftlichen Hintergrund. Vor ihrem Romandebüt hat die Linguistin hauptsächlich „flash fiction“ geschrieben, die kürzeste Form der Kurzgeschichte. „Vox“ lässt erahnen, warum ihre Minigeschichten preisgekrönt sind.

Christina Dalchers „Vox“ ist eine packende Geschichte über die Macht der Sprache, den Mut zum zivilen Ungehorsam und die Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter. Kurzum: spannende Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite, die zum Nachdenken anregt. Die ideale SF-Erzählung für Genrekenner und solche, die es noch werden wollen.

Christina Dalcher: Vox • Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol • S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2018 • 400 Seiten • 20,00€

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