29. Januar 2017 1 Likes

Bohrinsel der Zukunft

Madeline Ashbys ideenreicher Roman „Company Town – Niemand ist mehr sicher“

Lesezeit: 3 min.

Der neu gegründete Arctis Verlag startet sein erstes Programm als Atrium-Imprint mit Madeline Ashbys Science-Fiction-Roman „Company Town“, der in der Übersetzung von Kerstin Fricke als Hardcover mit Schutzumschlag erschienen ist. Ashbys Geschichte spielt in einer hochinteressanten Cyberpunk/Biopunk-Zukunft auf der riesigen, vor der kanadischen Küste gelegenen Bohrinsel New Arcadia. Hier lebt und arbeitet die taffe Hwa alias Go Jung-hwa als Leibwächterin für die Gewerkschaft der Prostituierten. Hwa ist einer der wenigen Menschen der zwielichtigen Bohrinsel-Metropole, deren Körper einhundertprozentig organisch und original ist – trotz ihrer genetischen Makel wurden an ihr keine der üblichen biotechnologischen Modifikationen oder Verbesserungen vorgenommen. Ihr Erbgut blieb unberührt, ihre Augen haben keine Filter, ihre Neurochemie wird nicht manipuliert. Zusammen mit ihrem ‚befleckten’ Aussehen macht das die Nahkampfexpertin zu einer Außenseiterin. Dennoch heuert das stinkreiche Lynch-Familienunternehmen, das New Acardia just gekauft hat, Hwa als Bodyguard für den jüngsten Spross der Sippe an, der angeblich von einer Künstlichen Intelligenz aus der Zukunft nach der Singularität bedroht wird. Und während Hwa sich u. a. in ihren mysteriösen Supervisor verliebt und immer tiefer in die Intrigen des Lynch-Clans hineingezogen wird, muss sie zugleich einer Mordserie an ihren früheren Freundinnen nachgehen …

Die in Amerika geborene, seit Langem in Kanada lebende Madeline Ashby ist eine ungemein spannende Science-Fiction-Autorin, die mehr als eine weibliche Perspektive in die zeitgenössische Zukunftsliteratur einbringt. Schließlich schloss sie ihr Studium mit einen Master in strategischer Frühaufklärung ab und ist als professionelle Futurologin und Strategic Foresight Consultant tätig. Recherche, Berichte, Workshops, Präsentationen und Science-Fiction-Prototypen zur Zukunft sind demnach ihr täglich Brot, wenn sie nicht gerade SF-Geschichten verfasst. Das merkt man „Company Town“ auch jederzeit an. Der Roman profitiert nicht allein von seiner sympathisch rotzigen, in vielerlei Hinsicht realistisch menschlichen Protagonistin mit genügend Schlagfertigkeit und Unsicherheit oder dem coolen Setting auf der Bohrinsel, sondern zudem von der plausibel aufgerüsteten und ausgestatteten Zukunft, die Ashby entwirft. Einer Zukunft, in der totale Überwachung und totale Vernetzung – der definitive gläserne Mensch also – ebenso zum Alltag gehören wie intelligente Roboterärzte und Leute, die durch medizinischen und technologischen Fortschritt modifiziert und geupgradet werden.

Ashby, die als Neunjährige mit ihrem Vater „Blade Runner“ im Kino sah und der SF verfiel, hegt obendrein eine Vorliebe für japanische Animationsfilme und kanalisierte diese in einer Masterarbeit über Anime, Fankultur und Cyborg-Theorie. Allerdings scheint die Wahlkanadierin ebenfalls dem einen oder anderen westlichen Helden zugeneigt zu sein. Immerhin gab Ashby mal eine Anthologie mitheraus, in der Charles Stross (im Shop) und andere neue Geschichten mit Ian Fleming James Bond ersannen. Überdies ist in „Company Town“ von Liefeld-Muskeldefinitionen (benannt nach den übertriebenen Figurenproportionen der Superhelden von US-Zeichner und Deadpool-Miterfinder Rob Liefeld) die Rede; und in einer virtuellen Simulation führt ein gewisser Mr Moore durch das viktorianische Jagdgebiet von Jack the Ripper (und wer könnte das besser als eine KI-Version von Alan Moore, dem Autor der gehaltvollen Comic-Studie ‚From Hell’, einem der wichtigsten Beiträge zur Literatur über den berühmtesten Serienkiller aller Zeiten?). Solche geekigen Referenzen, die ungewöhnliche Kulisse, die überzeugende Zukunftsvision und die einnehmende Hauptfigur lassen dann auch darüber hinwegsehen, dass der Plot zwischendurch schwächelt und Ashby das überhastete, sprunghafte Ende leider komplett vergeigt.

„Company Town“ ist ein innovativer, alles andere denn mainstreammäßiger dytopischer Krimi mit tollem Setting und faszinierenden Ideen für die Welt von Morgen. Der Roman mag nicht perfekt sein – ein Besuch auf Madeline Ashbys Bohrinsel der Zukunft lohnt jedoch allemal.

Madeline Ashby: Company Town – Niemand ist mehr sicher • Arctis, Hamburg 2017 • 381 Seiten • Hardcover: 21,00 Euro

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