28. Dezember 2021

„Der Chip“ sie zu knechten, sie alle zu binden

Manfred Theisen erzählt von einer verhängnisvollen Schwarmintelligenz

Lesezeit: 3 min.

Berlin, 2032. Am Elite-Internat Galileo überwacht eine künstliche Intelligenz Lehrer und Schüler. „Brain“ ist nicht nur über Datenstirnbänder und Smartwatches mit ihnen verbunden, sondern auch über einen im Kopf implantierten Chip. Als jedoch ein Schüler auf dem Gelände von Galileo zu Tode kommt, ahnen Kim und Levin, dass etwas vertuscht werden soll.

Manfred Theisen hat sich in Büchern wie „Angst sollt ihr haben“ und „Rot oder Blau. Du hast die Wahl“ (beide cbt) mit Demokratie, Faschismus und Rechtsextremismus beschäftigt. Diese Themen sind auch in seinem neuesten Jugendbuch Der Chip“ (im Shop) präsent, jedoch mit dem Unterschied, dass hier die Technik eine unheilvolle Kettenreaktion auslöst.

Theisens junge Heldin Kim kann es eigentlich kaum erwarten, das Datenstirnband gegen den Chip auszutauschen. Dabei handelt es sich übrigens nicht um einen „richtigen“ Mikrochip, sondern um Nanobots. Sie überwachen und vermessen die Internatsbewohner und wissen quasi alles: vom Lernerfolg über die Gesundheitswerte bis hin zur Tiefschlafphase. Klingt nach dem wahr gewordenen Albtraum eines jeden Datenschützers? Ist es auch. Doch die Produkte des Weltkonzerns „BrainVision“ werden längst nicht mehr kritisiert. Zu gut sind einfach die Ergebnisse, die „Brain“ liefert. Wer den Chip hat ist lernwilliger, gesünder, optimierter. Verlockend ist auch das Versprechen von Sicherheit. Wenn die KI alles weiß, kann sie auch alle beschützen. Oder nicht?

Bei Jojoes Tod war „Brain“ blind und taub. Keine Aufnahme zeigt, wie Kims Freund Julian den Jungen die Treppe heruntergestoßen hat. Nach einem Gespräch mit der Schulleitung ist zudem Julian fest davon überzeugt, mit Jojoes „Unfall“ nichts zu tun zu haben. Nur dessen Zimmernachbar Levin zweifelt daran und weiht Kim in seine eigene Theorie ein: Der Chip verändert ihre Mitschüler und macht sie gefühlskalt.

Theisen konzentriert sich in seiner Geschichte ganz auf Kim und ihre innere Zerrissenheit. Einerseits möchte sie dazu gehören, durch den Chip wieder Teil ihrer Clique sein, andererseits fürchtet sie sich vor dem, was aus ihren Freundinnen und Freunden geworden ist. Soll sie mitlaufen oder rebellieren? Der Druck ihrer Mitschüler wird von Tag zu Tag größer, sich für sie zu entscheiden. Nach einem Update sind die Chipträger untereinander vernetzt. Jeder kann auf das Wissen des anderen zugreifen. Gemeinsam denken, gemeinsam lernen, gemeinsam handeln, die gruselige, gleichgeschaltete Variante der Schwarmintelligenz.


Manfred Theisen. Foto © Isabelle Grubert/Random House

„Der Chip“ erzählt eben auch die Geschichte von jungen Menschen, die von Technikversprechen verführt werden und sich dadurch radikalisieren. Als Kind aus einer jüdischen Familie fallen Kim die Veränderungen sofort auf: Optimierung wird zu Stärke verklärt, ein Sozialdarwinismus ausgerufen, rassistische Ressentiments geschürt, eine faschistische Ideologie propagiert. Authentisch und beklemmend schildert Theisen, wie Kim und Levin die Veränderungen miterleben und sich dagegen zur Wehr setzen.

Manfred Theisen befasst sich in „Der Chip“ mit den Möglichkeiten der digitalen Vernetzung. Er zeigt wie aus einer vermeintlich gut gemeinten Idee eine Dystopie erwächst, die auf Ausgrenzung, Druck und Überwachung baut. Damit eignet sich der Roman perfekt für den Schulunterricht – und für alle, die spannend geschriebene Near-Future-Geschichten in der Tradition von „1984“ und „Schöne neue Welt“ mögen.

Manfred Theisen: Der Chip • Roman • cbt, München, 2021 • 224 Seiten • Taschenbuch 10,00 € (im Shop) • Empfohlen ab 12 Jahren

[bookpreview] 978-3-641-27371-2

 

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