10. März 2016 3 Likes

Des Apfelbunds Forscher

In „Die Unglückseligen“ lässt Thea Dorn zwei ungleiche Wissenschaftler die Unsterblichkeit à la Faust erforschen

Lesezeit: 4 min.

Vor wenigen Tagen kursierte eine Meldung aus der Wissenschaft in der Medienwelt. Forschern war es gelungen, eines der Rätsel des menschlichen Genoms zu lüften. In einer Studie stellten sie fest, dass ein Gen für das vorzeitige Ergrauen von Haaren verantwortlich ist: IRF4. Ein Allel, also eine Genvariation, sorgt dafür, dass sich bei manchen Menschen die ersten grauen Haare früher zeigen als bei anderen. Doch was soll an dieser Stelle, am Anfang einer Literaturbesprechung (!), ein Abriss in Genetik? Möchte die Rezensentin, dass sich die Leserinnen und Leser mit ihrem Haupthaar befassen? Mitnichten! In Thea Dorns neuestem Roman „Die Unglückseligen“ geht es um den Sieg über den Tod und somit auch um Genetik, Nukleinbasen, Allele, DNA, Galvanismus und noch mehr aus dem breiten Spektrum der Biologie und Physik. Außerdem werden Sie dort auf einen Erzähler stoßen, der Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, direkt anspricht. Gewöhnen Sie sich also schon einmal daran.

Ausgerechnet in einem amerikanischen Supermarkt treffen sie sich zum ersten Mal: diese ungleichen Protagonisten Dr. Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter. Auf der einen Seite steht die taffe Molekularbiologin, die das Idealbild einer ehrgeizigen Karrierefrau ohne familiäre Bindung verkörpert und in den USA auf weniger staatliche Eingriffe in ihre alles andere als moralisch einwandfreie Forschung hofft, auf der anderen Seite ein mit dem 21. Jahrhundert vollkommen überforderte Physiker und Philosoph, der seit über 200 Jahren auf der Erde weilt, mit seinem unsterblichen Leben zunehmend hadert und nur noch auf Erlösung hofft. Ritter meint in der 43-jährigen Mawet den Teufel erkannt zu haben und flüchtet Hals über Kopf vor ihr. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Johanna noch nicht, dass sie den schrulligen Kerl im Hawaiihemd schon bald wieder sehen und sich mit ihm auf das Abenteuer ihres Lebens einlassen wird. Eine Reise über den Atlantik steht an, an deren Ende für sie nichts mehr so sein wird wie es einst war.

Die Grimme-Preisträgerin (Drehbuch zu „Männertreu“), Fernsehmoderatorin (u. a. „lesenswert“ im SWR) und Autorin Thea Dorn („Die Hirnkönigin“, „Die deutsche Seele“) hat mit dem ungleichen Wissenschaftlerduo gleich zwei Faustfiguren entworfen, die auf ihre Art und Weise und mit ihrer jeweils eigenen Stimme ergründen, was die Welt im Innersten zusammen hält. Während sich Johanna auf das Hier und Jetzt und die ihr gegebenen technischen Möglichkeiten konzentriert, hält Ritter an seiner frühromantischen Vergangenheit fest. In Rückblicken wird seine – zum Teil wahre – Geschichte aus einer Zeit erzählt, in der die Naturwissenschaften im Geiste der Aufklärung erblühten, religiöses Eifern, Tollhäuser und Exorzisten jedoch nur einen Steinwurf entfernt auf junge, allzu ketzerische Gelehrte warteten. In Ritter lebt die Sprache des Sturm und Drangs und der Romantik wieder auf und die Ära von Goethe, Schiller, Brentano und den Humboldts scheint zum Greifen nahe. Auch er ist wie Johanna ein Kind seiner Zeit. Im Gegensatz zu ihm gibt sie nichts auf sprachlich elegante und gewandte Worte, neigt zu lakonischen, sarkastischen Kommentaren, liebt die wissenschaftliche Logik und benutzt mit Vorliebe englische Worthülsen und das Wörtchen „Quatsch!“. Sie blüht auf, wenn sie in ihrem Element ist und mit Begeisterung dem armen Ritter zu erklären versucht, mit welchen kleinen Dingen, die das menschliche Leben ausmachen, sie sich Tag für Tag beschäftigt. Nur so könne sie eines Tages die Menschheit von altersbedingten Krankheiten und Tod befreien. In der DNA-Analyse sieht sie die einzige Chance, den Grund für Johanns jugendliches Antlitz und dessen schier unerklärlichen Regenerationsfähigkeiten zu finden. Statt wie bisher auf genmanipulierte Mäuse und Zebrafische zu setzen, hat sie Ritter als neues Forschungsobjekt auserkoren, das es vor den neugierigen Blicken der Kollegen zu verbergen gilt.

Beobachtet wird das Duo bei seiner Suche nach dem Schlüssel zur Unsterblichkeit von einem unbekannten, nie eingreifenden Dritten mit mephistophelischen Zügen. Er ist jener, der Sie, geneigte Leserinnen und Leser, direkt anspricht und die Helden voller Eifer anfeuert. Zumindest hält er große Stücke auf den Forscherdrang der beiden, auch wenn einer von ihnen früher als der andere erkennt, was im Leben wirklich wichtig ist.

Zugegeben, „Die Unglückseligen“ ist ein nicht immer einfach zu lesender Roman, zieht einen mit seiner Sprachgewalt jedoch unweigerlich in seinen Bann. Thea Dorn zeigt nicht nur, wie lebendig und wandlungsfähig die deutsche Sprache über die Jahrhunderte hinweg war, sondern auch, welche Schönheit von ihr ausgehen kann. Ein Potpourri an Textgattungen illustriert Johannas und Ritters Weg: der Weltkongress der Immortalisten wird als einaktiges Drama präsentiert, die Sicht einer kleinen Fledermaus im Stil eines Kinderbuches wiedergegeben und aus einem preußischen Militärlehrbuch über Wundmedizin wird ebenfalls zitiert. Ganz nebenbei nimmt die Autorin ihre Leserschaft mit auf einen Streifzug durch knapp zweihundert Jahre Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und Ethik – moralische Abgründe inbegriffen.

Mit „Die Unglückseligen“ hat Thea Dorn einen meisterhaft fantastischen und gut recherchierten Wissenschaftsroman über Genie und Wahnsinn, Genetik und Glaube, Postmoderne und Romantik geschrieben. Eindrucksvoll führt sie ihre Leserinnen und Leser durch die Historie und hat den vertraut wirkenden Fauststoff in ein modernes, sprachgewaltiges Gewand gehüllt. Anspruchsvolle Literatur made in Germany – und Pflichtlektüre für wissensdurstige SF-Enthusiasten.

Thea Dorn: Die Unglückseligen • Knaus, München 2016 • 560 Seiten • € 24,99

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