Einsamkeit im Schatten des Teilchenbeschleunigers
Simon Stålenhag erzählt in „Tales from the Loop“ von einer magisch-rätselhaften Kindheit
Neunjährige haben einen ganz eigenen Blick. Wird die Welt, in der sie aufwachsen, von fliegenden Frachtern und großen Robotern geprägt, ist dies für sie genauso selbstverständlich wie die Möglichkeit, dass ein Zwillingspärchen die Körper tauscht oder Dinosaurier den Eiswagen überfallen. Alles scheint möglich, nichts ist unwahrscheinlich, und die Welt steckt voller wundersamer Entdeckungen. Was der Erzähler von Tales from the Loop jedoch auch als Kind schon sehr genau wahrnimmt, ist das langsame Wegrutschen der geordneten Verhältnisse und das Heraufdämmern des Erwachsenseins. Simon Stålenhag hat aus dieser im Prinzip vertrauten Situation ein weiteres aufregendes Text-Bild-Abenteuer gemacht.
Das Buch spielt auf den Malärinseln nahe Stockholm und entwirft ein Schweden mit einer völlig anderen Geschichte, als wir sie kennen. Nicht nur, dass dort seit 1969 der stärkste Teilchenbeschleuniger der Welt steht, um den sich allerlei Gerüchte ranken; es gibt auch Roboter, die sich an der Grenze zum eigenständigen Bewusstsein bewegen, und Fahrzeuge, die mittels einer trickreichen Einrichtung das Erdmagnetfeld zum Schweben nutzen. All dies ist für den neunjährigen Simon, der die Geschehnisse aus der Rückschau erzählt, selbstverständlich, und er betrachtet auch die seltsamen Ereignisse, die sich bisweilen abspielen, vollkommen unaufgeregt. Simon hat ohnehin genug damit zu tun, seinen hyperaktiven Schulkameraden Olof zu bändigen oder mit anderen unangenehmen Zeitgenossen fertig zu werden. Da erscheint es immerhin denkbar, dass sich Connie Friske – deren Vater seltsame „Mondwurzeln“ züchtet – tatsächlich selbst entzündet hat und die Zwillinge Jens und Hakån ihre Körper getauscht haben. Ob dies stimmt, bleibt natürlich offen, aber die Echokugeln, die überall in der Gegend verstreut liegen und von denen Hakån eine betreten hat, sind in jedem Fall eine seltsame Angelegenheit – angeblich verfügen sie nicht über Strom, aber wer sie berührt, kann ihre Wärme fühlen. Magnus aus der Klasse 6a hat sogar behauptet, eine solche Kugel hätte ihn in die USA transportiert, wo er unwahrscheinliche Abenteuer erlebt haben will. Sicherlich nur erfunden wie das Ungeheuer, dass sich im Bassin der aufgegeben Fabrikanlage von Dävensö befinden soll … oder doch nicht? Es bleiben irritierende Zweifel.
Kindheitserinnerungen lassen sich auf viele Wege heraufbeschwören – der eine nutzt dazu ein in eine Tasse Tee getunktes Stück Sandgebäck, der andere die SF-Abenteuer seiner Jugendjahre. Simon Stålenhag ist mit seinem 2015 veröffentlichten Debüt Tales from the Loop den zweiten Weg gegangen und hat die Wunder seiner Kindheit in eine Science-Fiction-Form gegossen, um ihre Rätsel auch für andere erlebbar zu machen und Räume für eigene Erinnerungen und Assoziationen zu öffnen. Entsprechend staunt man über die Bogentürme von Klövsjö, die Energie der Fallwinde in elektrischen Strom umwandeln, oder über die Lokschiffe, die dank ihrer selbstkorrigierenden Sinterschieben auch dann nicht an Höhe verlieren, wenn ihnen der Diesel ausgegangen ist. Auf der anderen Seite sind Verfallserscheinungen unübersehbar – überall liegen Trümmer und Wracks in der Landschaft herum, und der Erzähler kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die besten Zeiten vor Ort schlicht verpasst zu haben. Das hieraus resultierende Lebensgefühl – Stålenhag ist Jahrgang 1984 – kennen alle, die in den frühen 1990er Jahren aufgewachsen sind.
Dies ist allerdings nur eine Facette des Buchs. Anders als The Electric State, das über eine geschlossene Handlung verfügt, hat Stålenhag Tales from the Loop nach dem Prinzip eines Fotoalbums angelegt, wobei die vielen kleinen Geschichten bisweilen noch durch fiktive Werbeanzeigen oder ein Interview aufgelockert werden. Möglicherweise hat gerade dieses Prinzip zur Verfilmung geführt, weil es einer Umwandlung in Episoden entgegenkommt. Eine weitere Stärke liegt in den umwerfenden künstlerischen Fähigkeiten von Stålenhag, der seinen Stoff vierfarbig illustriert und bisweilen auch weitergeführt hat. Mit schlafwandlerischer Sicherheit gestaltet er nicht nur die vollkommen realistisch anmutenden Maschinen, sondern bettet sie auch in Szenarien ein, die ohne die karge nordeuropäische Landschaft nur halb so überzeugend wären. Hier wird deutlich, dass Stålenhags eigentliches Thema die Verlorenheit ist, was erklärt, warum Menschen bei ihm – wenn überhaupt – meist nur beiläufig ins Bild kommen. (Wer will, darf an Caspar David Friedrich denken.) Dass Stålenhag hier beim Farbauftrag noch nicht ganz so perfekt ist wie in The Electric State, sollte niemanden irritieren. Tales from the Loop mag sich ein paar wenige Schwächen leisten – die bemüht wirkende Existenz von Sauriern in der Erzählwelt gehört dazu –, ist aber allemal meisterlich geraten. Und wartet erneut mit exzellenter buchkünstlerischer Verarbeitung auf.
Am Schluss treiben alle Figuren unaufhaltsam dem Ende ihrer Kindheit entgegen. Simon erfährt, dass sich seine Eltern bald scheiden lassen werden, und konstatiert: „Am 5. November 1994 stellte der Loop seinen Betrieb ein. Am nächsten Tag bekamen wir Akne.“ Bleibt abzuwarten, was Stålenhag mit dem nächsten Band, Things from the Flood, weiter aus dem Loop-Universum zu erzählen hat.
Simon Stålenhag: Tales from the Loop • Ein illustrierter Roman • Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat • Fischer Tor, Frankfurt a.M. 2019 • 128 S. • € 34,00
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