28. April 2021 1 Likes

„Die Töchter des Nordens“ von Sarah Hall

Postapokalyptische Dystopie zwischen Margaret Atwood und George Orwell

Lesezeit: 2 min.

Die Times bezeichnete Sarah Halls postapokalyptisch-dystopischen Roman „The Carhullan Army“ 2007 als eines der besten 100 Bücher des Jahrzehnts. Jetzt ist der Band der 1974 geborenen Engländerin in der guten Übersetzung von Sophia Lindsey unter dem Titel Die Tochter des Nordens“ (im Shop) bei Penguin als Hardcover und E-Book auf Deutsch erschienen.

Im Roman erzählt eine Frau, die wir nur als Schwester kennenlernen, von einer nahen Zukunft. Klimawandel und Krieg haben England in die Knie gezwungen. Die so genannte Reorganisation hat Wirtschaft und Gesellschaft nicht viel gebracht, sieht man einmal davon ab, dass normale Menschen wie Schwester permanent überwacht und unterdrückt werden. Schwester schuftet den ganzen Tag in einer Fabrik für Turbinen, die trotz des Zehnjahresplans zum Überwinden der Krise wohl nie eingesetzt werden. Nach ihrer Schicht kehrt sie zu einer inzwischen freud- und lieblosen Ehe in eine von mehreren Familien bewohnten Gemeinschaftsunterkunft zurück. Außerdem wurde Schwester wie viele andere Frauen dazu gezwungen, sich eine Spirale zur Geburtenkontrolle einsetzen zu lassen. Widerstand und Kritik werden im englischen Polizeistaat von Morgen mit Gewalt erstickt.

Schwester hält das alles nicht mehr aus. Eines Tages packt sie ihren Rucksack und schleicht sich aus der Stadt. Ihr Ziel: Die verruchte Enklave Carhullan in den rauen Bergen des nordwestlichen Englands. Hier lebt eine Gruppe Frauen abgeschieden von weltlichen und männlichen Belangen, völlig autonom in der Versorgung und Verwaltung, geleitet von einer charismatischen, rabiaten Anführerin. Aber Schwester wird herausfinden, dass selbst diese weibliche Utopie erbarmungslose Seiten hat und zur Dystopie werden kann. Zumal die rebellischen Frauen sich der Frage stellen müssen, wie sie sich gegenüber einer Welt verhalten sollen, die sie bedroht und deren nötiger Wandel nicht von allein kommen wird …


Sarah Hall. Foto © Richard Thwaites

Brutal, zärtlich, schroff, derb – Sarah Hall, die mit diversen Preisen und Stipendien bedacht wurde, nutzt die relativ überschaubaren 250 Seiten äußerst effektiv. Ihre präzise und doch schöne Prosa kommt allen Aspekten ihres treffsicheren Romans zugute: den gelungen charakterisierten Figuren, dem feministischen Spirit, dem beeindruckenden Setting und den reizvollen Naturbeschreibungen ihrer Heimat im Lake District. Auch dass Hall sich entgegen der Gewohnheiten des Mainstreams in Literatur und Genre entschließt, etwa ihr Finale nicht actiongeladen auszuerzählen, sondern durch einen einzigen perfekten Schnitt und Sprung aufzulösen, macht „Die Töchter des Nordens“ zu einem interessanten, exquisiten Buch. Dabei sollte keinesfalls übersehen werden, dass Halls stilsichere Science-Fiction-Geschichte selbst aus heutiger Sicht noch sehr drastisch ist, vor fast 15 Jahren unter feministischen Aspekten allerdings noch wesentlich mutiger und krasser gewesen sein muss. Hinzu kommt, dass sich ihr Szenario durch Pandemie und Lockdowns noch näher anfühlt.

So oder so ist es absolut verdient, Sarah Halls Buch auch und erst recht 2021 als geistigen Nachfolger der Klassiker von Margaret Atwood und George Orwell zu nennen.

Sarah Hall: Die Töchter des Nordens • Penguin Verlag, München 2021 • 254 Seiten • E-Book: 15,99 Euro (im Shop)

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