13. März 2020 1

Eine beunruhigende Reise ins vernetzte Land

Großartig geschrieben, kongenial illustriert: „The Electric State“ von Simon Stålenhag

Lesezeit: 4 min.

Frühjahr 1997: Eine junge Frau und ein kindhaft wirkender Roboter mit übergroßem Kopf sind auf einer Reise an die Westküste der Vereinigten Staaten. Das Land ist nach einem rätselhaften Ereignis teilweise verwüstet, aber es gibt noch intakte Gegenden mit vertrauter Infrastruktur. Doch auch hier machen sich Veränderungen bemerkbar – gigantische Maschinen, die durch die Straßen ziehen, und düstere Türme, die über zahlreiche Kabel mit den totenstillen Vorstädten verbunden sind. Was ist da vorgefallen? Der Schwede Simon Stålenhag entwirft in „The Electric State“ das abgründige Panorama einer Welt, der durch die Faszination für Technik ihre natürliche Erlebnisfähigkeit abhandengekommen ist. Der Clou: Das Buch erzählt seine Geschichte gleichermaßen in Worten wie in Bildern.

Der Wagen steht aufgegeben am Straßenrand, seine Besitzer liegen tot daneben, und auf der Rückbank finden sich neben Kleinkram die Quittungen über zwei Stimulus-TLE-Helme. Michelle ist nicht undankbar, als das Fahrzeug anspringt und sie mit ihrem elektrischen Begleiter Skip beginnen kann, die Interstate 15 zu befahren, auch wenn diese unter einer Staubschicht kaum zu erkennen ist. Ihr Ziel: der Pazifik. Michelle und Skip sind in einer Sperrzone unterwegs; ihr Auto gleitet „durch die Wüstennacht wie ein U-Boot durch einen Unterwasserfriedhof“. Überall liegen die Wracks der „Drohnen“ herum, übergroße Roboter, die einst in Arenen gegeneinander kämpft haben und Bestandteil jenes Neurographenspiels waren, das die Firma Sentre noch immer veranstaltet. Doch die Kopplung von Gehirn und Maschine hat schwere Nebenwirkungen; die Nutzung der Geräte ist zum Selbstzweck geworden. Als Michelle und Skip das feinmaschige Straßennetz der Zivilisation erreichen, werden sie mit den riesigen Neurographentürmen konfrontiert, deren Kabelstränge ganze Städte durchziehen. Schließlich nähern sie sich der Küste, umgeben von niedergegangenen Luftschiffen, die auf ihre Ausschlachtung warten. Und dann ist da noch Michelles Bruder, den sie zu suchen scheint, aber womöglich schon längst gefunden hat.

Der 1984 geborene Simon Stålenhag legt mit „The Electric State“ zwar erst sein drittes Buch vor, zeigt sich aber als versierter Erzähler, der weiß, dass er nicht zu viel verraten darf. Die Geheimnisse des Buchs entschlüsseln sich erst nach und nach und machen einen Großteil der Spannung aus, weshalb es unfair wäre, hier vorzugreifen. Einige Dinge bleiben zudem bewusst unscharf. Dies erhöht nicht nur den Grad an Realismus, sondern auch die Faszination der Geschichte, die letztlich von einem kollektiven Kontrollverlust handelt: Der Sucht, technisch erzeugte Fiktion der Realität vorzuziehen, statt seinen eigenen Sinnen zu vertrauen. Die Folgen erweisen sich als gravierend: „Die Welt, in der wir leben, ist nicht mehr zivilisiert.“ Dazu gehört auch eine umfassende Infantilisierung: Die Drohnen tragen meistens bunte Comic- und Cartoongesichter, die ihre Gefährlichkeit kaschieren sollen, und an einem Schießstand dienen übergroßen Quietscheentchen als Zielscheibe. Stålenhag zeigt sich hier als genauer Beobachter des Zeitgeists – ohne freilich in Moralisierungen abzugleiten.

Doch „The Electric State“ besteht nicht nur aus Text, sondern aus zahlreichen großformatigen Bildern, die die Geschichte keineswegs nur begleiten, sondern eigenständig erweitern. Auch hier legt Stålenhag eine verblüffende Souveränität an den Tag. Von Haus aus Designer, entwirft er überwältigend realistisch wirkende Maschinen, die meist im Nebel oder in der Nacht zu verschwinden scheinen. Sein Einsatz von Farbe ist meisterlich und erzeugt einen umwerfend wirklichkeitsgetreuen Eindruck, ohne das Material zu verleugnen: Die Bilder werden zwar am Rechner entworfen, aber mit einem Programm, das ihnen das Aussehen von Gemälden verleiht. Von daher erinnern Stålenhags Bilder mehr an Ralph McQuarrie als an Syd Mead (die ihn beide beeinflusst haben); sie weisen aber auch Ähnlichkeiten mit dem Werk von Edward Hopper (1882–1967) auf, etwa mit der Einsamkeit und Verlorenheit in seiner berühmten Arbeit „Nighthawks“ von 1942. Tatsächlich gibt es kaum einen SF-affinen Künstler, der das Gefühl der Isolation zu gut hinbekommt wie Stålenhag. Dies liegt auch an der Perspektive: Der Schwede verwendet gern das filmische Mittel der Totalen, also eines panoramahaften Überblicks, der eine große Distanz zwischen Betrachter und Motiv herstellt. Oft wird dazu ein Blickwinkel aus dem fahrenden Auto eingenommen (komplett mit Geschwindigkeitsschlieren und Regentropfen auf der Scheibe); es gibt aber auch Bilder, auf denen die Akteure selbst zu sehen sind – etwa am Schluss des Buchs, der rein visuell erzählt wird.

Unbedingt erwähnt werden muss, dass Fischer Tor den Band nicht nur in mustergültiger Ausstattung vorgelegt hat (Großformat, Fadenheftung, schönes Halbleinen), sondern auch Stålenhags frühere Bände verlegt. „Tales from the Loop“ ist bereits erschienen.

Simon Stålenhag: The Electric State • Ein illustrierter Roman • Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat • Fischer Tor, Frankfurt a.M. 2019 • 144 S. • € 34,00

Kommentare

Bild des Benutzers andreas10

Der Bilder erinnern auch an Casper David Friedrich.

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